Sprachregelungen - Schluss mit der Begriffsverdummung

Kisslers Konter: Migranten sind nun Flüchtende, Studenten Studierende, der Mörder wird zum Märtyrer. Auf allen Ebenen schreitet die Neudefinition der Sprache voran. So schwindet das Band, das uns verbindet – zu ideologisch fragwürdigen Zwecken

Gedenken an die Opfer aus dem Bataclan: Die Mörder des Massakers „Märtyer“ zu nennen, ist so roh, dass es wehtut / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Begriffe sind der Kompass auf dem Ozean der Gegenwart. Nicht deshalb, weil sie den, der sie im Mund führt, zum Kapitän in allen Weltanschauungsstürmen machen. Nein, Begriffe formen aus verängstigten, großmäuligen, sehnsüchtigen Einzelnen eine Gemeinschaft. Zum Narrenschiff wird unser Gemeinwesen, wenn niemand mehr weiß, was eigentlich gemeint ist, wenn wir dieses oder jenes Wort aussprechen. Nach Babylon führen die Wege, sobald jeder Satz nur das Kostüm dessen ist, der gerade redet. Lächelnd delirieren wir.

Deshalb ist die Geschwindigkeit, mit der die derzeitige Begriffsverdummung sich vollzieht, atemberaubend, hirnerweichend, programmatisch. Hartnäckig hält sich etwa die ganz irrige Auffassung, Märtyrer und Selbstmordterroristen seien irgendwie dasselbe. Sie sind das glatte Gegenteil: Der Märtyrer erleidet seinen eigenen Tod, den er nicht suchte, als Preis für die Treue zur guten Botschaft. Der Selbstmordterrorist reißt andere planvoll mit in den Tod, weil er sein Leben dem Bösen geweiht hat.

Galgenstrick der Menschlichkeit

Dennoch fühlen sich Künstler – auch mit diesem Begriff wird Schindluder getrieben – dazu berufen, „den Begriff des Märtyrers zu erweitern.“ Die islamistischen Massenmörder des Massakers im Pariser Bataclan mit 89 Toten sollen ausweislich einer staatlich geförderten Ausstellung im links regierten Berlin-Kreuzberg zu denselben Märtyrerehren gelangen wie Sokrates oder Martin Luther King. Das ist so dumm, dass es schmerzt, so roh, dass es wehtut, und dennoch werden viele Zeitgenossen der Begriffsvertauschung auf dem Leim gehen. So wird das Band der Menschheit zum Galgenstrick der Menschlichkeit.

Im selben links bis linksextrem regierten Berliner Bezirk werden bekanntlich in einer weiteren Ausstellung Drogendealer aus Schwarzafrika dafür gefeiert, dass sie „unerschrocken und tapfer“ ihrer kriminellen Tätigkeit nachgehen. Tapferkeit soll neuerdings die Eigenschaft von Gesetzesbrechern sein; sie riskieren immerhin, erwischt und verurteilt oder von ihren Opfern zur Rechenschaft gezogen zu werden. Oh, wie tapfer war Al Capone, wie tapfer Charles Manson, wie tapfer erst Osama bin Laden. Die Leichen sind Späne, die fallen, wenn die Weltgeschichte hobelt? Dann sind wir alle Stalinisten des Kalenders.

„Die toten Studierenden begannen zu verwesen“

Auch in alltäglicheren Fällen halten die begrifflichen Rosstäuscher Karneval. Wo Inkompetenzen gebündelt werden, spricht man von Kompetenzzentren. Wo Bildung verklappt wird, hat die Bildungsreform ein Heimspiel. Wo Studenten für den ideologischen Nahkampf ertüchtigt werden sollen, da sind es Studierende, wo Migranten von einem bedenklichen Aufenthaltsstatus befreit werden sollen, da sind es allesamt Flüchtende – die Vulgärpartizipien sind ein Kapitel für sich in der allgemeinen Geistaustreibung dieser Tage und kein strahlendes.

Soeben lud eine parteinahe Stiftung namens der „Veranstaltenden“ zu einer Veranstaltung: als wären die Veranstalter Tag und Nacht und immerzu mit dem Veranstalten beschäftigt, als studierten Studenten ohne Unterlass und auch dann, wenn sie im Schwimmbad schwimmen oder in der Mensa essen, als flöhen Zugewanderte auch dann noch, wenn sie das Ziel ihrer Wanderung auf legalen oder illegalen Wegen erreicht haben. Den gerechten Spott über so viel Wortblödigkeit goss unlängst im Cicero der Komiker Jürgen von der Lippe, als er im aktuellen Stil korrekt, aber sinnwidrig formulierte: „Die toten Studierenden begannen zu verwesen.“

Warum das Ganze?

Die Spätmoderne tritt also in ihre mephistophelische Phase. Mephisto war es, der die Menschen ihrer begrifflichen Leichtgläubigkeit zieh, „denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ Heute wird mit Worten jongliert, um die Begriffe zu entleeren. Und warum das Ganze? Weil jeder Kompass stört, wenn ein neues Schiff auf große Fahrt zieht, dessen Ziel niemand kennen darf. Weil begriffliche Ordnung wie jede Ordnung bewahrenden Charakter hat und nichts bewahrt werden soll unter Utopias neuer Sonne. Weil wir nicht merken sollen, dass kein Tau uns an Überliefertes binden darf. Darum werden die alten Begriffe aufgerufen, die alten Stücke aufgeführt von Tapferkeit und Heldentum und Heimat, ohne dass die Geschichten mit den Begriffen übereinstimmten. Das Tohuwabohu geht der Tabula Rasa voraus. Wehret den Schlusspunkten.

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