Das Comeback des Spaziergangs - Warum sieht man den Wald vor Spaziergängern nicht, Herr Weisshaar?

Spazieren zu gehen, ist wieder in. Seit dem ersten Lockdown strömen die Menschen in Scharen ins Freie. Aber was ist so schön daran, durch den Wald zu flanieren? Und was muss man machen, um den Kopf freizubekommen? Fragen an einen Spaziergangsforscher.

Den Kopf frei bekommen, um zu riechen, zu hören und zu fühlen: Spaziergangsforscher Bertram Weißhaar / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Bertram Weisshaar ist Deutschlands einziger Spaziergangsforscher. Er entwirft Stadtspaziergänge für Reiseveranstalter, berät Städte und Gemeinden bei der Verkehrs- und Stadtplanung und schreibt über seine Arbeit. Zuletzt erschien sein Buch „Einfach losgehen. Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen bei Eichborn. 

Herr Weisshaar, Spazierengehen galt bislang als Hobby für Ruheständler. Wenn man jetzt am Wochenende draußen ist, sieht man den Wald vor lauter Spaziergängern nicht mehr. Eine gute oder eine schlechte Nachricht?

Eine gute Nachricht. Spazierengehen ist ja eine schöne Sache. Die letzten Jahre haben einige Menschen das nur aus dem Blick verloren. Und jetzt entdecken sie es wieder – wenn auch aus der Not geboren.

Sie sind Promenadologe – auf deutsch: Spaziergangsforscher. Ist es eigentlich typisch deutsch, dass man alles wissenschaftlich durchleuchten muss, sogar den Spaziergang?

Die Wissenschaft und die Neugierde des Menschen sind unerschöpflich, überall auf der ganzen Welt. Ich glaube nicht, dass das typisch deutsch ist.

Jeder kann laufen, jeder hat Augen im Kopf. Wozu braucht man dafür eine eigene Wissenschaft?

Die Spaziergangsforschung nutzt das Gehen als Methode. Es führt eben am dichtesten an die Realität heran. Die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, bedingt das Bild der Welt. Wenn wir für unsere Wege täglich öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder alle Wege mit dem Auto zurücklegen, bekommen wir immer ein anderes Bild der Stadt. Mit dem Fahrzeug ändert sich die Perspektive. Je schneller ich unterwegs bin, umso ärmer wird die Welt, weil unser Hirn nur eine begrenzte Anzahl von Informationen verwerten kann. Das Flanieren, das Spazieren, das Herumstrolchen ist die Bewegungsart, die uns angeboren ist.

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Wie geht man richtig spazieren?

Das einzige, was man falsch machen kann, ist, nicht zu gehen. Ansonsten ist es denkbar einfach. Man macht den ersten Schritt, den zweiten – und schon geht man. Derzeit gehen viele Leute immer denselben Weg. Denen kann man den Hinweis geben: Geht doch mal dorthin, wo Ihr noch gar nicht wart, auch wenn Ihr nicht vermutet, dass es da unbedingt schön ist. Meine Neugierde zielt ja nicht nur auf die Parks, sondern auf die ganze Welt. Ich will mir so etwas wie einen repräsentativen Blick erlaufen.

Ist es okay, beim Spazierengehen Musik über Kopfhörer zu hören?

Also, ich finde es völlig in Ordnung. Sehr schön finde ich auch Audioguides oder Podcasts, gerade jetzt, wenn man häufig denselben Weg geht. Ich mag sehr gerne dieses philosophische Radio als Podcast. Die Sendung dauert ungefähr eine Stunde. Dann ist der Spaziergang parallel auch ein Gedankengang. Aber hin und wieder sollte man auch mit nacktem Ohr spazierengehen. Man muss es auch aushalten, wenn zehn Minuten mal nix passiert.

Viele Leute wischen aber auch beim Spazierengehen noch übers Handy.

Ich habe das auch immer mit dabei, aber nur als Schrittzähler. Ich versuche, täglich meine 8.000 bis 10.000 Schritte zu gehen. Das machen viele Menschen. Es ist ja auch ein gewisser Ansporn. Man will unbedingt im grünen Bereich bleiben. Wichtig ist, dass man nicht zum Gefangenen der Technik wird. Man kann das Handy auch mal leise schalten.

Was ist der Unterschied zwischen laufen, spazierengehen und wandern?

Der Spaziergang ist in der Regel von überschaubarer Länge. Es ist nur eine kurze Unterbrechung des Alltags. Dem Wandern wohnt die Sehnsucht nach Aufbruch inne. Man möchte eine große Distanz überwinden, vielleicht auch über mehrere Tage. Die Nachfrage nach solchen Angeboten hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Man hat die Hoffnung, anders anzukommen, als man losgelaufen ist.

Ich fahre leidenschaftlich gern Fahrrad, und ich schwimme gern, aber ich hasse Spazierengehen. Es ist mir nicht schnell genug, und ich finde es langweilig. Wie überzeugen Sie mich vom Gegenteil?

Sie sind natürlich ein harter Brocken. Aber dann müssen Sie einfach mal mitkommen. Zu Fuß kommen Sie einfach schon mal an Ecken und Stellen, wo kein Fahrzeug hinkommt. Das ist schon mal ein Genuss.

Kommt drauf an. Bei uns im Wald stapfe ich gerade knöcheltief durch Blättermatsch. 

Aber man kommt in so eine ganz andere Aufmerksamkeit. Die Gerüche, die man im Stadtpark inhaliert, die Veränderungen, wenn man an einem Baum vorbeigeht, die leisen Geräusche, die kriegen Sie alle gar nicht mit, wenn Sie Fahrrad fahren. Wenn Ihnen das zu langweilig ist, kann ich nur sagen: Das müssen Sie einfach mal ein paar Tage aushalten.    

Derzeit strömen die Leute in Scharen ins Grüne. Kann es sein, dass es den meisten geht wie mir und sie nur deshalb rausgehen, weil reizvollere Alternativen wie Schwimmbäder oder Squash-Hallen in der Pandemie ausfallen?

Bei vielen ist das jetzt natürlich aus der Not heraus geboren. Sie entdecken dabei aber wieder, was für ein Genuss das ist. Gehen macht glücklicher. Man geht ein, zwei Stunden und fühlt sich besser.

Bei mir stellt sich dieses Wohlgefühl nur nach dem Fahrradfahren ein.

Aber da beansprucht ja schon das Steuern des Fahrzeugs einen Teil Ihrer Aufmerksamkeit. Sobald Sie auf schlechten Wegen fahren oder im Straßenverkehr, müssen Sie ja auch auf den Untergrund und die anderen Fahrzeuge achten. Auf den Wanderwegen geht das Wandern von allein. Das ist das Schöne. Ich hab den Kopf frei, um in die Welt zu schauen. Um zu hören, zu riechen, zu fühlen.

Was war denn das letzte Highlight Ihrer Spaziergänge?

Ich war auf einer großen Brache, die nur 1.500 Schritte von meiner Wohnung entfernt liegt. Die war schneebedeckt, aber es waren keine menschlichen Fußspuren zu sehen, nur Tierspuren. Dabei liegt die Brache in Sichtweise des Rathauses. Das fand ich interessant. Mitten in der großen Stadt gibt es Flächen, wo man einer der ersten ist, die sie betritt.

Offenbar sind doch nicht alle so überzeugte Spaziergänger wie Sie.   

Na ja, an solchen Plätzen ist halt weniger los. Insgesamt wird aber mehr spazierengegangen. Das zeigen aber auch Umfragen aus dem vergangenen Jahr.  Zwischen 20 und 50 Prozent der Menschen gehen mehr spazieren. Das ist ein enormer Zuwachs. Und man beobachtet das ja auch selber. Also, ich habe noch keinen gesehen, der gequält daher kam.

Noch vor 100 Jahren gingen Menschen 17 Kilometer pro Tag. Heute bringt es kaum noch jemand auf die empfohlenen 10. 000 Schritte. Ist Spazierengehen der Sport für Menschen, die keinen Sport machen?

Nein, es ist eben kein Sport. Es ist eine gewisse körperliche Anstrengung, aber es fordert uns nicht wirklich heraus. Man muss seine Leistung nicht steigern. Es ist fast sowas wie Atmen.

Die Spaziergangsforschung ist auch ein Instrument der Stadtplanung. Es gibt dafür sogar einen Lehrstuhl an der Universität Kassel. Inwieweit kann ihr Blick dabei helfen?

Kurz vor der zweiten Welle habe ich mit Leipzigs Oberbürgermeister Burkard Jung einen Spaziergang gemacht zum Thema „Fußgängerfreundliche Stadt“. Das war eine seiner Bürgersprechstunden. Wenn man gemeinsam durch die Straßen geht, merkt man, es gibt immer unterschiedliche Perspektiven auf ein- und dieselbe Situation. Die einen wollen einen neuen Fahrradweg, die anderen Parkplätze, und wieder anderen ist der Fußweg zu schmal. Man muss da irgendwie einen Kompromiss finden.

Wie spaziergangsfreundlich ist Leipzig denn?

Es gibt sehr schöne Straßen, gerade die historischen. Aber es gibt leider auch einen enormen Sanierungsstau. Die Fußwege sind in vielen Straßen total desolat. Straßenquerungen sind an vielen Kreuzungen ein Problem. Die Stadt Leipzig ist innerhalb von einem Jahrzehnt von 500.000 auf 600.000 Einwohner gewachsen. Damit hat auch die Zahl der Pkws zugenommen, auf der gleichen Fläche. Die Konflikte nehmen zu und sind eine Belastung für alle Bürger.

Und die Pandemie ist Ihre Chance als Spaziergangsforscher, die Stadtplaner daran zu erinnern?

Richtig, auch die Politik und die Verwaltung haben das jetzt erkannt. Im April hat Leipzigs Oberbürgermeister dazu aufgerufen nicht mehr in den Stadtpark zu gehen, weil er zu voll wird. Das ist doch fast so etwas wie eine Bankrotterklärung. Es zeigt, dass wir zu wenig Parks haben und zu kleine Parks. Die Abstandspflicht von 1,50 Meter sensibilisiert Menschen dafür, dass die Gehwege viel zu schmal sind und dass da unglaublich viel Gerümpel rumsteht. Das unmittelbare Wohnumfeld hat eine neue Bedeutung bekommen.

Fürchten Sie nicht, dass der Trend wieder in sich zusammenfällt wie ein Soufflé, sobald der Lockdown wieder vorbei ist und unser Aktionsradius wieder größer wird?

Also, mit dem Fliegen wird das noch länger problematisch bleiben. Aber natürlich wächst von Woche zu Woche die Sehnsucht nach dem, was gegenwärtig nicht möglich ist. Es hängt davon ab, wie schnell oder schleppend sich die Situation bessert. Einige werden Corona schnell vergessen. Aber andere werden vorsichtig bleiben und das Nahe weiterhin bevorzugen

Und Sie?

Also ich gehe lieber in Deutschland wandern. Ich habe es schon immer gehasst, zwei Stunden am Flughafen herumzuhängen, bevor man da einchecken kann und Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen muss. Und dann sitzt man da eingepfercht in so einer Blechröhre. Pausenlos dröhnt es. Man kriegt so ein Plastikzeugs, aus dem man was essen soll, was als Nahrung bezeichnet wird. Man kommt zwar schnell an einen fernen Ort. Aber das Fliegen ist eine furchtbare Sache.   

Finde ich gar nicht.

Aber dann gehören Sie wahrscheinlich zu den Leuten, die an den touristischen Orten unglaublich viel spazieren gehen.

Stimmt, aber woher wissen Sie das?

Es ist eine Beobachtung, die ich auf meinen Auslandsreisen gemacht habe. Am Urlaubsort laufen Leute ziellos hin- und her. Und selbst, wenn man schon jeden Tag zum Strand gelaufen ist – am letzten Tag will man da auch noch unbedingt hin. Also, im Urlaub ist das Spazierengehen plötzlich ein Muss und ein totaler Genuss.

Aber es ist doch auch etwas Anderes, ob man an einem der schönsten Atlantikstrände spazierengeht oder in der Wuhlheide in Berlin. 

Ach was, das geht auch zu Hause. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt.  

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