Spaziergang in aller Frühe - Wenn noch alles möglich ist

Kolumne: Morgens um halb sechs. Wer sich die Mühe macht, so früh aufzustehen, entdeckt eine Welt, die noch offen und empfindlich daliegt, fern der Hektik des Alltags. Der kann neue Hoffnung schöpfen, bevor die Nachrichten wieder die Oberhand gewinnen

Bei Sonnenaufgang sind die meisten Menschen noch fest im Schlaf gefangen und dann, nahtlos anschließend, in der Angst / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Nachrichten und Jahreszeiten haben wenig miteinander zu tun. Dennoch erleben wir sie zeitgleich. Im Kongo ist die Ebola ausgebrochen und der Flieder steht in voller Blüte. Während sich Donald Trump in seinen Aussagen vertwittert, kulminiert das Spatzengewitter im Busch. Vor jeder Nachricht liegt immer ein Morgen. Ein unbeschriebenes Blatt, offen und empfindlich. Eine Frische, die begrüßt werden will. Nur bekommen wir diese frühe Begrüßung oft nicht mit, da wir zu lange schlafen. Wenn wir aufstehen, ist die Welt bereits geformt. Der unbestimmte Teil des Tages entgeht uns. Wie aber sollen wir Witterung aufnehmen mit der Welt, wenn wir ihre Frische nicht mitbekommen?

Um halb sechs sind die Straßen leergefegt. Keine Drängelei zwischen Fahrradfahrern, Kinderwägen, Hunden und hektischen Kaffeetassenträgern. Nur Autos sind um diese Zeit sichtbar, in gespenstischem Tempo, als wollten sie sich gegenseitig wachrasen. Auf dem Gehweg ist der Zeitungswagen unterwegs, ein kleiner Handkarren auf Gummireifen, der von Haustür zu Haustür gezogen wird. Hier werden Nachrichten noch per Hand verteilt, die dann gedruckt neben Kaffee und Brötchen auf dem Tisch liegen und mitunter eine Ladung Frühstück auf dem Rücken abbekommen. 

Ob Trump schnarcht?

Um halb sechs ist die Welt vielfältig möglich. Etwas Hoffnungsvolles schwebt darin. Noch sitzt Madame Angst nicht an ihrem Arbeitsplatz. Leider bekommt fast niemand diese Zeit mit. Die meisten Menschen sind fest im Schlaf gefangen und dann, nahtlos anschließend, in der Angst. Im Kreislauf aus Schlaf und Angst wird es jedoch dauerhaft stickig. 

Ob Donald Trump schnarcht? Was liegt auf seinem Nachttisch? Ein Kamm, eine Perlmuttpillendose, ein Glas Wasser, ein Handspiegel? Eine in rotem Leder gebundene Bibel? 

Ist Emmanuel Macron zu charismatisch, um zu schlafen? Rennt er nachts gedanklich durch Brüsseler Etagen? Wird die Atmosphäre in Europa wieder freundschaftlicher? Und wie reagieren die Briten, die sich jahrelang an den vermeintlich unveränderbaren europäischen Verträgen die Hörner abgestoßen haben, darauf, dass Macron das Vertragswerk antasten will? Wie kommt Angela Merkel damit zurecht, dass sie nun wieder einen gewandten 180-Grad-Haken schlägt? Natürlich lassen sich Verträge ändern, heißt es entspannt. Hätte man das früher gewusst, wäre der Brexit eventuell obsolet gewesen. Europa kommt in Schwung. Das Parkett glänzt. Cannes steht vor der Tür und lockt mit Diamanten. 

Der Zeit-Faktor

Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Diese fünf einfachen, jedoch existenziellen Fragen stellt Ernst Bloch in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“. Eine ganz alltägliche Frage hat er übersehen, die lautet: Wie spät ist es?

In Deutschland ist die Uhrzeit eine empfindliche Angelegenheit. Bevor man bei uns auf die Uhr guckt, ist es bereits spät. Dabei ist es nie spät, solange man fragt. Stellte man nicht die Uhren, sondern die Sprache um, wäre dem Missmut der erste Atem genommen. Stattdessen hängt am Tag bereits ein schweres Gewicht, bevor er angefangen hat. Es ist spät, egal wann wir aufstehen. Das setzt uns unter Dauerdruck. Der Tag wird zum Abhang in den Abend.

Seelisches Leben ist allemal abendlich und morgendlich zugleich, schreibt (und er singt fast dabei) Bloch. Es kommt also darauf an, das Hoffen aufzufrischen, mitunter bei einem Morgenspaziergang. Nicht fest zu werden, sondern sich beschwingt voran zu tasten. Nicht immer gelingt der Versuch Hoffnung, doch für ein Gelingen ist die Richtung wichtiger als das Ergebnis. Alles auf einmal ist nicht zu schaffen. Ein Morgenspaziergang schafft Raum. 

Konflikte sind immer noch von Hand gemacht

Wie wird die europäische Vertiefung aussehen? Wird sie der Elbvertiefung gleichen, die nur dafür gedacht ist, noch größere Schiffe in den Hafen zu lassen? Containergiganten, die weder wenden noch einlenken können? Und ist eine europäische Vertiefung überhaupt möglich, nach jahrelanger Erweiterung in die Breite? Wird es schließlich wieder nur um Geld gehen, das dann letztendlich alles flutet?

Immer einen hellen Himmel über sich zu bewahren, heißt auch durchzuatmen und sich nicht verrückt machen zu lassen in einer zunehmend paranoiden, technikgelenkt gegnerischen Welt. Die Konflikte sind immer noch von Hand gemacht, selbst wenn sie mit Drohnen kommen. 

Morgens um halb sechs kommt der Zeitungshandkarren in den Hauseingang. Natürlich kann man weniger umständlich sein, verpasst dabei jedoch die Schönheit des unbequemeren Lebens. Wohin wir gehen, wie wird es uns gehen und wie spät ist es jetzt?

Dieser Text ist der Auftakt zur Kolumne „Morgens um halb sechs“. Dafür wird die Schriftstellerin Sabine Bergk alle zwei Wochen eine Morgenrunde an der frischen Luft drehen und in den Tag hineinhorchen. 

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