Meistgelesene Artikel 2021: Juni - Wenn Gott spricht

Das unheilvolle Verschwinden der Sonne war lange gefürchtet. Es galt als Ausdruck des Zorns der Götter. Wenn sich am 10. Juni eine ringförmige Sonnenfinsternis am Firmament zeigt, wird das kosmische Schauspiel allerdings weniger apokalyptische Ängste wecken als vielmehr Himmelsbeobachter aus aller Welt faszinieren.

Der Mondschatten verdunkelt während einer Sonnenfinsternis die Sonne / Saudi Press Agency/dpa
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Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Mehr als fünf Jahre dauerte der Krieg zwischen den kleinasiatischen Lydern und den westiranischen Medern bereits. Schlacht folgte auf Schlacht, ohne dass es zu einer Entscheidung gekommen wäre. Doch dann ereignete sich, am 28. Mai 585 vor Christus, mitten im Kampf Erschreckendes: Mit einem Mal verfinsterte sich der Himmel über Kleinasien.

„Wie die Lyder und die Meder sahen, dass es bei Tage Nacht wurde, stellten sie den Kampf ein und hatten nichts Eiligeres zu tun, als miteinander Frieden zu schließen“, berichtet der antike Geschichtsschreiber Herodot in seinen Historien. Eine Sonnenfinsternis als Friedensbringerin.

Furchteinflößende Himmelserscheinung

Über viele Jahrhunderte kündete die furchteinflößende Himmelserscheinung indes vor allem Unheil an. Wenn die Sonne verschwand und plötzlich die Dunkelheit hereinbrach, dann war das fast immer Vorzeichen nahenden Unglücks, Ausdruck des Zorns der Götter, Omen, dass der Zusammenbruch der natürlichen Ordnung bevorstand.

Wenn sich an diesem 10. Juni eine ringförmige Sonnenfinsternis am Firmament zeigt, wird das kosmische Schauspiel aber kaum apokalyptische Ängste wecken, sondern vor allem Himmelsbeobachter aus aller Welt faszinieren. Der spektakuläre Sonnensaum, der entsteht, wenn sich die Mondscheibe vor die Sonne schiebt, sie aber nicht vollständig bedeckt, wird allerdings nur für wenige Menschen zu sehen sein: in Kanada, dann über Grönland und dem Nordpol und schließlich im äußersten Osten Sibiriens.

Ein magisches Ereignis

In Deutschland ist allein zu beobachten, wie sich der Mond ein winziges Stück vor die Sonne schiebt. Im Norden wird immerhin noch ein Fünftel der Sonnenscheibe bedeckt sein, von München aus gesehen streift der Mond die Sonnenscheibe gerade noch am oberen Rand. Wer nicht von der Sonnenfinsternis weiß, wird sie kaum bemerken.

Auch wenn eine Sonnenfinsternis heute sekundengenau vorherberechnet werden kann, liegt ihr doch ein geradezu magisches Ereignis zugrunde. Immerhin verdeckt der Mond ziemlich genau die 400-mal größere Sonne. Die ist allerdings auch 400-mal weiter entfernt, sodass beide Himmelskörper gleich groß erscheinen.

Todesurteil für den König

Auf seiner Runde um die Erde wandert der Mond jeden Monat zwischen Erde und Sonne hindurch – das geschieht nur bei Neumond. Meist zieht er unbemerkt vorbei. Denn zur Erdumlaufbahn um die Sonne ist die Mondbahn um fünf Grad geneigt. Dadurch befindet sich der Neumond aus unserer Perspektive meist unterhalb oder oberhalb der Sonnenscheibe. Nur wenn er genau die Erdbahn kreuzt, wenn Sonne, Neumond und Erde auf einer Linie stehen und der Schatten des Mondes auf die Erdoberfläche fällt, kommt es zu einer Sonnenfinsternis.

Bereits die Babylonier und Assyrer sammelten und systematisierten Himmelsdaten, um daraus Rückschlüsse auf die Zukunft der Gesellschaft zu ziehen. Schon im 2. Jahrtausend vor Christus schrieb man Kompendien mit astrologischen Vorzeichen sowie ihre Deutung in Keilschrift auf Tontafeln nieder. Die Sonnenfinsternis war ein Zeichen des Himmels, das am bedrohlichsten aus dem Regelwerk der Schöpfung ausbricht: eine scharfe Warnung der Götter an den König, wenn nicht sein Todesurteil.

Betrunkene Hofastronomen

Nach einer Sonnenfinsternis im 7. vorchristlichen Jahrhundert, die den Tod des assyrischen Herrschers angezeigt hatte, versuchte man mit einer List, das unveränderliche Urteil der Götter hinzunehmen und dennoch den König zu retten. Dieser legte seine Herrschaftsinsignien nieder, für 100 Tage regierte ein neuer „Ersatzkönig“, der nach Ablauf der Frist getötet wurde. Damit sich das Vorzeichen erfüllte und an dem wahren König vorbeiging, hatte er sein Leben gegeben.

Für Astrologen konnte es durchaus gefährlich sein, ihren Herrscher nicht vorzeitig über die bevorstehende Verdunkelung der Sonne zu informieren. Mehr als 2.000 Jahre vor Christus war, wie in der altchinesischen Chronik Buch der Urkunden überliefert, Kaiser Chung K’ang verärgert, als eine Sonnenfinsternis eintrat, die seine beiden Hofastronomen Hsi und Ho nicht vorausberechnet hatten. Stattdessen fand man sie völlig betrunken vor.

Im alten China glaubte man, der Himmelsdrache mit blitzenden Augen verschlinge die Sonne. Um ihn zu vertreiben, wurden Trommeln geschlagen, Musik und Lärm gemacht. Denn eine solche plötzliche Finsternis galt als böses Omen – vor allem für die Herrscher. Die beiden Hofastronomen wurden für ihr Versäumnis hingerichtet. Immerhin, der Lärm der Rasseln und Trommeln indes war erfolgreich: Der Drache spie die Sonne auch dieses Mal wieder aus.

„Den irdischen Dingen enthoben“

Auch in Europa fürchtete man lange das unheilvolle Verschwinden der Sonne. Als sich im Mai 840 nach Christus der Himmel verfinsterte, deutet man das Himmelszeichen als Vorzeichen für den Tod Kaiser Ludwig des Frommen. Man glaube, „das größte Licht unter den Sterblichen, der Kaiser“ werde „bald den irdischen Dingen enthoben sein“, wie ein Astronomus genannter Autor später schrieb. Tatsächlich starb Ludwig sechs Wochen nach der Sonnenfinsternis. Vor Schreck über das himmlische Zeichen, meinten Zeitgenossen. Historiker vermuten eher eine Krebserkrankung.

Einen Platz in der Literaturgeschichte hat Adalbert Stifter der Sonnenfinsternis verschafft. Das unfassbare Schauspiel, das er am 8. Juli 1842 „bei günstigstem Himmel“ in Wien erlebte, als der Mond die Sonne völlig verdeckte, hat er in einem seiner schönsten Prosatexte beschrieben: „Dieser Moment war herzzermalmend, ein einstimmiges Ah 

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