Zur Titelgeschichte „Leid durch Freud“ - Psychoanalyse ist besser als ihr Ruf

Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth hat sich über die Titelgeschichte aus dem aktuellen Cicero geärgert. Darin hieß es, die Methoden von Sigmund Freuds Psychoanalyse seien überholt. Doch vielmehr sei das gezeichnete Bild davon veraltet, meint Wirth. Ein Plädoyer für Freuds Methoden

„Auf die Couch, bitte!“ ... oder doch nicht? / picture alliance
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Autoreninfo

Hans-Jürgen Wirth ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt und Autor des Buches Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik.

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Sophie Dannenberg lässt sich in ihrer Kritik der Psychoanalyse „Leid durch Freud. Die Irrungen der Psychoanalyse“ von dem Bild, das in Filmen und Karikaturen von der Psychoanalyse kolportiert wird, in die Irre führen. Obwohl sie zumindest zwei psychoanalytische Fachleute (vor allem aber Kritiker der Psychoanalyse) interviewt hat und auch über eigene Erfahrungen aus einer psychoanalytischen Behandlung verfügt, gelang es nicht, ein zutreffendes Portrait der heutigen Psychoanalyse zu skizzieren.

Sie bleibt in veralteten Zerrbildern stecken und bekommt keinen Begriff davon, welche Gestalt die zeitgemäße Psychoanalyse längst angenommen hat. Der typische Psychoanalytiker von heute ist nämlich kein einschüchternder alter weißhaariger Mann, der eine „dicke und schwarze Brille“ auf der Nase trägt, die „so schwarz ist, dass sie den Raum beherrscht“, sondern eine Frau mittleren Alters, die sich ihren Patientinnen und Patienten freundlich und wohlwollend zuwendet. Das gesamte Feld der Psychotherapie, wie auch die Psychoanalyse, werden seit vielen Jahren und in zunehmendem Maße von Frauen bestimmt. Männer sind längst in der Minderzahl.

Auch die Ausgangsthese der Autorin, „das Setting, das sich bis heute nicht verändert hat – der Patient liegt auf der Couch“, ist sachlich falsch. Wie die Statistiken der Krankenkassen zeigen, macht das klassische Couch-Setting mit zwei bis vier Stunden wöchentlich nur einen Anteil von unter fünf Prozent an den erbrachten therapeutischen Leistungen von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern aus. Das gebräuchlichste Setting, in dem Psychoanalytiker heute arbeiten, ist die psychoanalytisch orientierte, einstündige „Tiefenpsychologische Psychotherapie“, die im Sitzen durchgeführt wird.

Weitere Settings – die alle ohne Couch auskommen – sind die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, die Gruppentherapie, die Paar- und Familientherapie, die Arbeit im stationären Rahmen und die Supervision von Angehörigen der verschiedensten helfenden Berufe. Ohne dieses enorm weite Spektrum an Settings und dem damit verbunden variierenden Behandlungstechniken in den Blick zu nehmen, kann man kein angemessenes Bild der heute praktizierten Psychoanalyse als therapeutischer Methode gewinnen.

Die Couch ist nur ein Symbol

Gewiss, die Couch ist ein Symbol für die Psychoanalyse, aber eben nur ein Symbol. Real bleibt das Couch-Setting vor allem wichtig als Ausbildungsinstrument für Eigenerfahrung der angehenden Analytiker und für eine relativ kleine Gruppe von Patienten, die einerseits so schwer gestört sind, dass sie eine sehr lange und intensive Therapie benötigen, die aber andererseits auch psychisch so stabil und gut strukturiert sein müssen, dass sie von dieser Form der Langzeit-Konfrontation mit ihrem Selbst besonders gut profitieren.

Als Seelenarzt ist Freud nicht nur der Erfinder der Psychoanalyse, sondern darüber hinaus der Begründer der modernen Psychotherapie. Was die Grundlagen anbelangt, gründen alle psychotherapeutischen Schulen auf seiner Lehre. Das gilt in besonderem Maße für die tiefenpsychologischen Schulen, aber auch für die humanistischen Verfahren und selbst für die Verhaltenstherapie, die definitiv von einem anderen wissenschaftlichen Ansatz ausgeht. Sogar von Verhaltenstherapeuten wird heute anerkannt, dass Selbsterfahrung Teil der Ausbildung sein muss. Selbsterfahrung, Lehranalyse, Supervision – das sind eminent psychoanalytische Konzepte, die auf der Grundidee beruhen, dass die Persönlichkeit der Psychotherapeuten und die Therapeuten-Patienten-Beziehung die zentralen „Arbeitsinstrumente“ in jeder Form der psychotherapeutischen Behandlung sind. Inzwischen hat die empirische Psychotherapieforschung erwiesen, dass dies die entscheidenden Faktoren für den Heilungserfolg sind. Die Freudschen Konzepte von Übertragung und Gegenübertragung und von der „Analyse des Analytikers“ haben nichts von ihrer ursprünglichen Relevanz eingebüßt.

Der Kritiker der Moderne

Wie steht es nun um das Bild, das Sophie Dannenberg von Freud als „Kritiker der Moderne“ entwirft? Obwohl sie die „allgegenwärtige“ psychoanalytische Kulturtheorie kenntnisreicher diskutiert als die therapeutische Bedeutung der Psychoanalyse, bleibt ihre Sicht auch hier einseitig und an der Oberfläche. Die Autorin sieht in Freud ausschließlich den „Entzauberer der deutschen Romantik“, der „der Seele das Unbestimmte, Verschwommene, damit vielleicht auch das Freie genommen hat.“ Sie bleibt damit dem Selbstverständnis Freuds verhaftet, das Jürgen Habermas bereits 1968 als ein „szientistisches Selbstmissverständnis“ gekennzeichnet hat. Damit ist folgendes gemeint: Freud verstand sich als Naturwissenschaftler und fühlte sich einem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal verpflichtet, tatsächlich praktizierte er aber eine Form des Gesprächs mit seinen Patientinnen und Patienten, das eher an einen Dialog im Sinne Martin Bubers erinnert und wissenschaftstheoretisch als eine hermeneutisch verfahrende Sozial- und Kulturwissenschaft aufzufassen ist, ein Verfahren, das Alfred Lorenzer als „Tiefenhermeneutik“ gekennzeichnet hat.  

Wie Dannenberg zutreffend feststellt, ist Freud zweifellos ein Vertreter der Aufklärung. Sein Vernunftbegriff ist ein durch und durch rationaler. Die andere Wurzel seines Werkes, die Dannenberg übersieht, liegt jedoch in der Romantik. Freud war ein großer Romantiker. Er schrieb Hunderte von Liebesbriefen an seine Braut, und er pflegte sein ganzes Leben lang eine geradezu üppige Briefkultur, wie sie der Romantik eigen ist. Auch die Traumdeutung, das Unheimliche und der Begriff des Unbewussten sind tief im Denken der Romantik verwurzelt. Geschichtsphilosophisch betrachtet, war Freud zu einem guten Teil von Philosophen der Romantik beeinflusst. Man mag in diesen beiden Wurzeln einen absoluten Gegensatz ausmachen. Beides gehört jedoch zusammen. Wenn die Aufklärung sagt: Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen, so vertritt die Romantik die These: Das genügt nicht, du muss dich auch deines Gefühls bedienen, um Aufschlüsse darüber zu gewinnen, was in der uns umgebenden Welt, in unseren Mitmenschen und in uns selbst vor sich geht. Erich Fromm sieht den wichtigsten Grund für Freuds umfassenden Einfluss auf die Kultur in der „fruchtbaren Synthese“ zwischen „Rationalität und Romantik“ – auch wenn Freud selbst seine romantische Seite verleugnete.

Freud war ein Kulturphilosoph

Dannenberg schließt ihren Text mit der Erörterung der Frage, „Warum bloß wollen wir immer noch wissen, wer wir sind?“ Und warum greifen wir bei der Beantwortung dieser Frage nach der Identität immer noch häufig auf Freud zurück? Sie hält das für ein „Missverständnis“. Freud sei kein Wegbereiter der Moderne, sondern ein Vertreter „der holistischen Welt des vorindustriellen Zeitalters“, die längst untergegangen ist. Dannenberg hält die Frage nach dem Menschenbild für überflüssig, da „wir uns über die Massengesellschaft jederzeit neu erfinden können“. Die gesellschaftspolitische Frage »wie wollen wir leben?“ lässt sich aber ohne die Explizierung eines Menschenbildes nicht beantworten.

Das amerikanische Nachrichtenmagazin Time stellte 2006 die Frage nach den bedeutendsten Geistern des 20. Jahrhunderts. Das Cover zeigt Freud und Einstein: Einstein liegt auf der Couch mit deutlich depressiver Miene und Freud beugt sich über ihn und analysiert ihn. Einstein und Freud – das sind die Antipoden des 20. Jahrhunderts. Einstein steht als Symbol für den schier unfassbaren technischen Fortschritt, aber auch für die Zerstörung unserer Umwelt, die potenzielle Selbstvernichtung des Menschen sowie das damit verbundene Menschenbild als unerwünschte Nebenwirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Über diesen Widerspruch ist Einstein in Depression verfallen.

Freud hingegen symbolisiert ein alternatives, konträr dazu stehendes Menschenbild. Freuds Menschenbild ist auf den Versuch ausgerichtet, die Innenwelt zu entwickeln. Von daher bildet es eine echte Alternative zu dem auf das Äußere, nämlich die wissenschaftlich-technische Beherrschung der Natur fixierte Menschenbild Einsteins. Um es pointiert zu sagen: Die von Naturwissenschaft und Technik bis an den Rand der Selbstzerstörung modernisierte Welt schwankt zwischen Hybris und Depression. Sie leidet an einem Gotteskomplex (Horst-Eberhard Richter) und benötigt ein selbstreflektierendes Gespräch nach dem Modell des psychoanalytischen Dialogs, um wieder zu sich selbst zu kommen.

 

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