Schulische Bildung - Wenn es den lieben Eltern nicht gefällt

Heute betrachten Eltern die Schule verstärkt als pädagogischen Servicebetrieb, der zu liefern habe. Doch können ihre Ansprüche nur erfüllt werden, wenn Schüler und Eltern gleichermaßen mitmachen. „Erziehungsvereinbarungen“ können dabei helfen.

Lehrerin Katja Novominski begrüßt die Schülerinnen und Schüler zur ersten Unterrichtsstunde / dpa
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Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Als Klassenlehrer kann man die Erfahrung machen, dass einen der Elternsprecher seiner Klasse am Schuljahresende mit einem Wunschzettel der besonderen Art überrascht. Auf ihm sind die Lehrer vermerkt, die sich die Eltern, die er vertritt, im neuen Schuljahr für ihre Kinder wünschen. Dabei sind die Eltern bestens über die vermeintlichen Qualitäten und Schwächen der Lehrer informiert. Die Flüsternetzwerke innerhalb der Elternschaft funktionieren auf höchstem kommunikativem Niveau. Ihre Wünsche sind nicht gerade von Bescheidenheit geprägt: Der Mathe-Lehrer mit dem besten Erklär-Talent muss es sein oder die Deutschlehrerin, die das kreative Schreiben blendend beherrscht.

Der Haken an der Sache ist, dass nur eine Klasse das Menü mit der idealen Lehrermischung bekommen kann. Die anderen müssten sich mit fachlich-pädagogischer Hausmannskost begnügen. Zu einer solchen Lehrerwahl durch die Eltern kann es schon aus einem schlichten Grunde nicht kommen: Kein Schulleiter lässt sich die Lehrerverteilung für den Unterricht aus der Hand nehmen, schon gar nicht von Schulfremden. Der Lehrereinsatz gehört zu seinen vornehmsten und wichtigsten Aufgaben. Er gehorcht zudem Kriterien, die für Außenstehende nicht einsichtig sein können. An diesem Beispiel kann man ablesen, wie weit bei vielen Eltern die Vorstellung, die Schule sei ein pädagogischer Servicebetrieb, der zu „liefern“ habe, schon gediehen ist.

Dienstleister Schule

In der modernen Dienstleistungsgesellschaft hat sich die Einstellung der Eltern gegenüber der Schule entscheidend gewandelt. War sie im vorigen Jahrhundert noch eine staatliche Institution, der man sich mit Ehrfurcht näherte, betrachten Eltern die Schule heute als Servicebetrieb, vergleichbar mit einem Telekom-Anbieter. Man schließt einen Vertrag und bekommt eine Leistung. Am Ende der Schulzeit erwarten die Eltern ein wohlerzogenes junges Mädchen oder einen höflichen jungen Mann mit einer umfassenden Allgemeinbildung und einem hervorragenden Schulabschluss.

Der Trugschluss dieser Haltung besteht darin, dass die Lehrer für all dies nicht allein zuständig sind, dass sie es schon gar nicht garantieren können. Die erwünschte „Serviceleistung“ kann nur dann erbracht werden, wenn der Schüler oder die Schülerin „mitspielt“.

Viele Schüler kommen mit den schulischen Anforderungen nicht zurecht, weil sie es in der häuslichen Sozialisation nicht gelernt haben, sich für eine anstrengende Sache ins Zeug zu legen, sich auch dann anzustrengen, wenn sich das Erfolgserlebnis nicht unmittelbar einstellt. Viele lassen auch die nötige Selbstkontrolle – ein entscheidender Faktor für schulischen Erfolg – vermissen. Ihre Frustrationstoleranz ist oft so gering, dass sie vor den geistigen Anstrengungen, die ihnen der Unterricht abverlangt, kapitulieren. Der emeritierte Schulleiter Gerhard Fels beschreibt die Schüler als „charmante Epikureer, ganz auf die Vermeidung von Unlust programmiert“ („Der verwaltete Schüler“, 1994). Gegen eine solche Haltung des optimierten Lustgewinns sind die Lehrer oft machtlos.

Schulprobleme sind Lebensprobleme

Die Lehrkraft kann bei den unterschiedlichen Formen hinhaltenden Widerstandes seiner Schüler kaum erkennen, welche Probleme sich dahinter verbergen. Sie kann nur vermuten, dass familiäre oder persönliche Konflikte der Lernunlust zugrunde liegen. Wenn Lukas oder Laura nicht lernen wollen oder können, weil sich andere, wichtigere Dinge in den Vordergrund drängen, ist die Lehrkraft letztlich machtlos. Wenn sich die Eltern scheiden lassen und Petra deshalb in eine Depression versinkt, hilft der beste Englisch-Unterricht nicht weiter. Wenn der intelligente Paul in die Drogenszene abgleitet, weil seine Freundin Conny mit ihm Schluss gemacht hat, muss die Schule kapitulieren.

„Schulprobleme der Kinder sind oft Lebensprobleme.“ Diesen Satz des Reformpädagogen Hartmut von Hentig vor Augen muss man zu dem Schluss kommen, dass die Ansprüche an die Schule dort ihre Grenzen finden, wo den Schwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen und ihren seelischen Nöten mit schulischen Mitteln nicht (mehr) beizukommen ist.

Viele Kinder wachsen als Einzelkinder auf. Als Einzelwesen sozialisiert glauben sie, sich unter den Klassenkameraden mit demselben berstenden Ego durchsetzen zu können, wie sie es bei Vater, Mutter und Oma immer geschafft haben. Wenn sie es nicht lernen, sich den Belangen der Klasse unterzuordnen, sind Konflikte programmiert. Manche Eltern können sich mit der Rückmeldung, dass es sich bei ihrem Sprössling keinesfalls um everybody‘s darling handelt, sondern um ein ich-bezogenes, quengeliges Wesen, nur sehr schwer anfreunden. Allzu oft geben sie dann dem Lehrer die Schuld, weil er nicht sensibel genug auf Klein-Jonas oder Klein-Lisa eingegangen ist.

Zwei Plätze für Klage-Schüler

Ein Aspekt, der den Lehrern oft das Leben schwer macht, ist die Klagefreudigkeit der Eltern. Immer häufiger wehren sie sich mit dem Rechtsanwalt gegen schulische Entscheidungen. Wenn ein Mädchen bei einer Klausur getäuscht und dafür eine Sechs bekommen hat, flattert dem Schulleiter ein anwaltliches Schreiben auf den Tisch. Man solle bitteschön die Täuschung minutiös belegen. Wenn Kinder beim Übergang von der Grundschule zum Gymnasium nicht an ihrer Wunschschule angenommen werden, klagen die Eltern den Platz für ihr Kind ein. In Berlin gibt es Gymnasien, die in ihren Eingangsklassen zwei Plätze für solche Klage-Schüler – so die Schulleiter-Diktion – freihalten.

Es gibt Schüler, die das Drohpotenzial der Eltern bewusst gegen ihre Lehrer ausspielen. An einer Schule habe ich erlebt, dass eine Schülerin, die eine Fünf im Deutsch-Aufsatz bekam, noch im Unterricht auf ihrem Handy die Mutter anrief und triumphierend in das Klassenzimmer rief: „Frau Weber, meine Mutter möchte Sie sprechen!“ Die Lehrerin reagierte professionell. Sie kassierte das Handy ein und deponierte es im Sekretariat. Die Eltern konnten es nur auslösen, indem sie sich auf ein pädagogisches Gespräch mit der Lehrerin einließen.

Leider reagieren nicht alle Lehrer in ähnlichen Fällen so professionell. Statt den Strauß zu wagen und es auch einmal auf eine Klage ankommen zu lassen, wird in vorauseilendem Gehorsam die Sache „im Sinne der Eltern geregelt“ (Schulleiter-Diktion). Das willfährige Verhalten von Schulleitern und Schulbehörden gegenüber klagebereiten Eltern trägt viel zur Hilflosigkeit der Institution Schule gegenüber den Ansprüchen der Eltern bei. Es verunsichert zudem die Lehrer, weil sie sich nie sicher sein können, ob die Schulbehörde zu ihren pädagogischen Entscheidungen steht. Es gehört auch zur Fürsorgepflicht des Dienstherrn, dass er den Lehrkräften bei ihrer schwierigen „Arbeit an der Front“ den Rücken stärkt – gerade auch gegenüber den Eltern.

Regelwut der Schulbehörden

Junge Lehrer, die frisch von der Universität an die Schule kommen, wundern sich darüber, dass der Schulleiter bei pädagogischen Versammlungen seinen Kollegen ständig ins Gewissen redet, sie sollten ihre Entscheidungen so fällen, dass sie „justiziabel“ sind. Sonst drohe eine Klage der Eltern. Der Blütentraum des Referendars, an der Schule gehe es ausschließlich um Pädagogik, erlebt so eine herbe Enttäuschung. Er lernt, dass er sich durch Berge von schulischen Erlassen und Ausführungsvorschriften hindurcharbeiten muss, um sein pädagogisches Handeln „rechtsförmig“ zu gestalten.

Die Gefahr, von den Eltern für schulisches Handeln verklagt zu werden, hat einen unguten Teufelskreis in Gang gesetzt. Die Regelungswut der Schulbehörden, die viele Lehrkräfte beklagen, ist der Absicht geschuldet, sich gegenüber den klagefreudigen Eltern durch „wasserdichte“ Regelungen abzusichern. Selbst einfache Sachverhalte, wie etwa eine Exkursion ins Museum, sind inzwischen so komplex geregelt, dass sie sich wie Gesetzestexte lesen.

Die Leiterin einer Neuköllner Grundschule klagte öffentlich ihr Leid: „Alles wird komplizierter gemacht. Wir haben hier seit Jahren einen einfachen Wasserspender im Flur stehen und plötzlich brauchen wir dafür eine Sicherheitseinweisung. Die ist dann so umfangreich, dass man denkt, wir hätten hier einen Atomreaktor im Gebäude.“

Defizite familiärer Erziehung

Grundschullehrkräfte erleben die Kinder so, wie sie in ihren Elternhäusern erzogen worden sind. Wenn sie in die erste Klasse kommen, kollidieren ihre zu Hause eingeübten und geduldeten Verhaltensweisen mit den Spielregeln einer Lerngruppe. Sehr schnell kann man erkennen, wer es gelernt hat, sein eigenes Ich den Erfordernissen einer Gruppe unterzuordnen, sich einzufügen in die notwendigen Regeln und Rituale, die Unterricht erst möglich machen. Dabei kann man zwei Arten von Defiziten unterscheiden: Mangelnde Selbstkontrolle im Unterricht und unhöfliches, distanzloses und ellenbogenbewehrtes Verhalten im Umgang mit anderen.

Manche Kinder beherrschen nicht die einfachsten Regeln des richtigen Benehmens anderen Kindern und Erwachsenen gegenüber. Wie Menschen im „wilden Rohzustand“ setzen sie ihre Bedürfnisse durch, drängen sich in den Vordergrund, benutzen ihre Ellenbogen, um sich Vorteile gegenüber den Klassenkameraden zu verschaffen. Diese Kinder benötigen eine zweite Sozialisation, eine Einübung zivilisierter Umgangsformen im Gruppenzusammenhang.

Knigge für Schüler

Einige Schulen haben deshalb das Schulfach „Benehmen“ eingeführt, in dem die Kinder die Umgangsformen eines zivilisierten Miteinanders lernen und im Rollenspiel üben. Lehrer erleben dann, wie erstaunt manche Kinder sind, wenn sie an einer Pendeltür lernen, wie man dem Nachfolgenden den Türflügel aufhält oder wie man einem Menschen, der in beiden Händen eine Tasche trägt, die Tür öffnet, um ihn hindurchgehen zu lassen. Früher Selbstverständliches wird so neu entdeckt.

Bei einer Fahrt mit der Berliner U-Bahn wurde ich zufällig Zeuge der praktischen Anwendung eines Benimm-Unterrichts. Eine Grundschulklasse betrat den Waggon. Die Schüler verteilten sich lärmend auf die leeren Plätze. An der nächsten Station stieg eine gebrechliche ältere Dame ein, die keinen Sitzplatz mehr fand. Als ihr ein älterer Herr einen Platz anbot, schritt die Lehrerin ein: „Kinder, was haben wir neulich im Unterricht gelernt?“ Prompt standen zwei Mädchen auf und machten ihre Plätze für die Dame frei. Früher haben die Kinder solche Verhaltensregeln von ihren Eltern gelernt. Älteren Menschen sind sie noch so geläufig, dass sie reflexhaft reagieren, wenn im öffentlichen Leben Höflichkeit und Rücksichtnahme gefordert sind.

Verlust gemeinsamer Normen

Auf solche Automatismen kann sich die Schule heute nicht mehr verlassen. Vermutlich sind diese Normen im Laufe der gesellschaftlichen „Modernisierung“ verloren gegangen. Soziologen begründen diesen Werteverlust häufig damit, dass die Familien zu sehr in ihren täglichen Existenzkampf verstrickt seien, um solche „Petitessen“ noch für wichtig zu halten. In den modernen Patchwork-Familien gebe es auch eine Verunsicherung darüber, was an gesellschaftlich wünschenswerter Erziehung geleistet werden müsse.

Wie dem auch sei: Offensichtlich kann sich die heutige Schule nicht mehr uneingeschränkt darauf verlassen, dass in den Familien die Regeln des verträglichen Miteinanders in der Gemeinschaft hinlänglich vermittelt werden.

Gegen didaktische Trends

Das Verhalten von Schülern ist immer auch geprägt von gesellschaftlichen Trends und technischen Moden. Das pädagogische Tun der Lehrkräfte muss sich dieser Entwicklungen bewusst sein, um adäquat darauf reagieren zu können. Gerade weil viele Kinder an den Unterricht Ansprüche wie an eine Fernsehshow stellen (spannend, kurzweilig, mit einem coolen Moderator), muss die Schule das vermitteln, was dem schulischen Lernprozess zu eigen ist: gegen den unverbindlichen Smalltalk die Zuhörkultur, gegen motorische Kurzatmigkeit die Konzentration, gegen die zappenden Bildläufe der Medien die Ruhe des Nachdenkens, gegen schwafelige Beliebigkeit die Genauigkeit im Denken und Sprechen, gegen den ellenbogenbewehrten Egoismus die Solidarität.

Die Schulen, die diese überkommenen und bewährten Methoden geistiger Arbeit gegen modische didaktische Trends und mediale Verlockungen verteidigen, können es schaffen, eine verbindliche und zugleich geistig anregende Lernkultur dauerhaft zu etablieren.

Eltern professionell begegnen

Was haben die Lehrkräfte dem überzogenen Anspruchsdenken der Eltern und ihrem Versagen bei der Erziehung ihrer Kinder entgegenzusetzen? Hier helfen nur ein starkes Selbstbewusstsein und pädagogische Professionalität. Lehrer müssen an die Eltern nachdrücklich ihre Wünsche und Ansprüche an korrektes Verhalten der Kinder, an eine gute Erziehung und Fürsorge im Elternhaus herantragen. Auf Elternabenden, bei Elternsprechtagen und im persönlichen Gespräch müssen sie die Eltern auf Fehlentwicklungen im Verhalten ihrer Kinder aufmerksam machen und ein verändertes Erziehungsverhalten anmahnen.

Viele Schulen haben gute Erfahrungen mit „Erziehungsvereinbarungen“ gemacht, in denen die Eltern sich mit ihrer Unterschrift verpflichten, auf eine Verhaltensänderung ihres Sohnes oder ihrer Tochter hinzuwirken. Das kann den Handykonsum genauso betreffen wie den Ton, den sie gegenüber ihren Mitschülern anschlagen. Solche Vereinbarungen zeigen den Eltern, dass sich die Schule um ihre Kinder kümmert, dass sie aber auch den Erziehungsauftrag der Eltern ernst nimmt. Wenn die Eltern so von der Schule in die Pflicht genommen werden, lernen sie, sich ihrer Aufgabe zu stellen. Manchmal begreifen sie zum ersten Mal, dass das, was in der Vereinbarung niedergelegt ist, überhaupt zur ihren Erziehungspflichten gehört.

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