Roman im Mai - In einer anderen Welt

Gut Ding will Weile haben. Nach über 60 Jahren erlebt Tarjei Vesaas’ Meisterwerk „Die Vögel“ seinen späten Durchbruch.

Vor über 60 Jahren erschien „Die Vögel“ - jetzt erlebt es seinen Durchbruch / dpa
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„Die Vögel“ ist ein zauberhaftes Buch voller Einsamkeit und Sommersonne, Mädchen und Jungs, Bäume, Nächte, Seen und Jahreszeiten, das auf anrührende Weise beschreibt, wie zerbrechlich Leben ist.
Ein Geschwisterpaar lebt in armen Verhältnissen am Rande eines Waldes in der Nähe zweier vertrockneter Espen, die ihre Namen tragen: Mattis und Hege. Beide sind um die vierzig, ihre Eltern leben nicht mehr. Hege strickt Jacken, um beide zu ernähren. Ihr Bruder Mattis gilt im Dorf als „Dussel“. Er kann nicht arbeiten. Sein Geist nimmt die Welt mit anderen Sinnen wahr, langsamer, feiner – und letztlich auch als gefährlicher. Aus Mattis’ Perspektive schrieb Tarjei Vesaas 1957 diese unaufgeregte Geschichte, die damit beginnt, dass „etwas Großes passiert“: Ein Schnepfenpaar fliegt nachts über das Haus der Geschwister und erschüttert dadurch das Fundament ihres Alltags.

Das Buch ist im Laufe seiner Geschichte unterschiedlich wahrgenommen worden – mal war es ein Plädoyer für Toleranz, dann eine Geschichte über die Empfindsamkeit des Künstlers. Karl Ove Knausgård, dessen Stil nicht weiter von dem Vesaas’ entfernt sein könnte, bezeichnete „Die Vögel“ einmal als „den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde“. Für Ian McEwan war es schlichtweg ein „Meisterwerk“. Ve­saas selbst sagte einmal, es sei eine Art „Selbstporträt mit Vorbehalt“. 

Der verdiente Stoner-Effekt

„Die Vögel“ beginnt banal, als würde man jemandem zuhören, der sich in aller Seelenruhe in einer seltsamen Ecke des Waldes festgedacht hat. Es gibt gefährliche Worte. Verlockende Worte. Bilder haben Kanten. Bemerkungen können zerstören. Gewitter sind ein Thema. Einbildung gibt es nicht. Es gibt nur Zeichen – und die Frage: Was macht man, wenn alle anderen um einen herum stark sind? Leise und unmerklich schlüpft man als Leser unter Mattis’ Haut, um schließlich selber immer mehr zu verlangsamen, zu „verseltsamen“. Man führt Unterhaltungen in Vogelsprache, bestaunt das Unsagbare und kippelt in einem System, so geordnet und zugleich so instabil wie das einer Pusteblume. Die dreifache Veränderung, die Mattis aufgrund der veränderten Flugroute des Schnepfenpaars durchlebt, ist dann auch magisch. „Die Erinnerung daran, sie erklang unter ihm, während er ging … als ob er unabsichtlich auf einen Ton treten würde, in der Wiese, und dann stieg der Ton auf, zauberte und war wirklich und wahr.“

Den späten Durchbruch stiller und zeitloser Literatur nennen manche den Stoner-Effekt, nach dem Buch „Stoner“ von John Williams, das 40 Jahre auf seinen Erfolg warten musste. Momentan erlebt die „Kopenhagen-Trilogie“ von Tove Ditlevsen etwas Ähnliches, und nun auch „Die Vögel“ – zu Recht.

Mehrfach Nobelpreis verfehlt

Vesaas, der mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde, ohne ihn jedoch zu erhalten, wurde 1897 in der Telemark in Vinje geboren, einer Gegend in Norwegen, die von gewaltigen Naturgegensätzen geprägt ist. Seine Familie lebte seit 300 Jahren in demselben Haus. Er selbst kaufte sich später, nach ausgedehnten Reisen durch Europa, einen Hof in der Nähe.

„Die Vögel“ ist so bildgewaltig und scharfkantig wie die Telemark selbst, sein Stil so präzise wie der eines langen Gedichtes, und Mattis, den die Welt wie ein Bleigewicht umschließt, fragt inmitten von so viel Gefahr und Einsamkeit schlussendlich die traurigste aller Fragen: Warum ist es so, wie es ist?

Tarjei Vesaas: Die Vögel. Guggolz, Berlin 2020. 279 Seiten, 23 €

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

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