Roman im Juli - Zurück zu den Wurzeln von „Black Lives Matter“

Identitätspolitik hat nicht zuletzt durch die Bewegung „Black Lives Matter" auch hierzulande einen Aufschwung erlebt. Der afro-amerikanische Autor James Baldwin hat schon 1962 aus den virulenten Identitätsfragen große Literatur gemacht.

James Baldwins Roman ist auch heute noch brandaktuell / dpa
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Ich bin gegen jeden Versuch, den Schwarze unternehmen könnten, anderen anzutun, was ihnen angetan wurde. Es ist eine so simple Tatsache und eine, die offenbar so schwer zu begreifen ist: Wer andere erniedrigt, erniedrigt sich selbst.“ Diese Zeilen schrieb der afroamerikanische Autor James Baldwin 1962 über die rassistische Unterdrückung und Gewalt in den USA, just in dem Jahr, in dem sein Roman „Another Country“ erschien, der jetzt in einer exzellenten Neuübersetzung von Miriam Mandelkov auf Deutsch vorliegt. 

„Ein anderes Land“ erzählt von vier miteinander befreundeten Liebespaaren im New York der 1950er Jahre. Im Mittelpunkt der Clique steht der schwarze Jazzmusiker Rufus, ein Getriebener, der strauchelt. Ziellos und pleite stolpert er durch die Stadt, zu erschöpft, um wütend zu sein. Kurze Rückblenden geben Einblicke in seine Vergangenheit: Army, Straßenszenen mit Polizeigewalt (Erlebnisse von Baldwin selbst) und nicht zuletzt seine zerstörerisch-stürmische Liebesbeziehung zu der weißen Südstaatlerin Leona. Am Ende landet die in der Psychiatrie. Er indes leidet an quälender Scham und an der Welt und zerbricht schließlich an beidem: Rufus begeht Selbstmord.

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Was folgt, sind die Versuche der Freunde, ohne ihn weiterzuleben. Baldwin verwebt die Leben der Protagonisten dramaturgisch brillant in Variationen von Liebe, Trauer und Sex. (Nach Australien etwa durfte das Buch anfangs nicht eingeführt werden, weil es gegen die guten Sitten verstoße.)

Im Zentrum steht nun die Beziehung von Rufus’ Schwester Ida zu Rufus’ bestem Freund Vivaldo, einem angehenden, weißen, Schriftsteller. Ihre Liebe mäandert zwischen Selbstachtung und Verachtung. Auch sie tragen den Kampf zwischen Schwarz und Weiß aus. Während Vivaldo darauf hofft, dass „Leiden keine Farbe“ hat, ringt Ida um Anerkennung der Identität von Schwarzen. Die Diskussion war damals ebenso politisch, wie sie heute aktuell ist. Alt-neuer Rassismus und Black Lives Matter haben dem Roman neue Dringlichkeit und neue Aufmerksamkeit verschafft.

Das Thema ist in allen Werken Baldwins präsent, so scheinbar beiläufig er es stets verhandelt – eben weil es in alle Lebensbereiche hineinwirkt. Er zeigt auch in diesem Buch, dass die rassistische Wunde die Weißen ebenso quält wie die Schwarzen. Doch geht es diesem großen Schriftsteller – darauf ist zu Recht hingewiesen worden – immer um die Literatur, nicht zuerst um die soziale Botschaft.

„James Baldwin ist überall“

Anhand eines Reigens von Paarbeziehungen führt Baldwin eine breite Palette von Figuren vor, die das Beste versuchen, aber letztendlich in ihren Determinationen gefangen bleiben. Ebenso behutsam wie schonungslos legt er Schicht um Schicht die Verletzungen und Begrenzungen seiner Figuren frei. Weder rettet Baldwin seine unter Ängsten und Zwängen, Scham und Wut leidenden Protagonisten vor sich selbst noch vor einer Welt voller Vorurteile, Prüderie, vermeintlicher Liberalität und alter Ressentiments.

Über sein Buch sagte er einmal, dass „die verzweifelte Suche“ seiner Figuren „nach dem Selbstwissen und dem Selbstwertgefühl – der Identität – ohne echte Liebe unmöglich ist“. Auch das macht diesen Roman aktuell.
„James Baldwin ist überall“, stellte das Time Magazine (auf dessen Cover 1963 er als erster schwarzer Künstler zu sehen war) jüngst fest. Das ist gut so: Damit wir lernen, wofür Baldwin zeit seines Lebens gekämpft hat: „echte Menschen hinter den Kategorien, Etiketten und Vorurteilen zu sehen“.

James Baldwin: Ein anderes Land. dtv, München 2021. 576 Seiten, 25 €

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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