Rhetorik der Bundeskanzlerin - Angela hat uns lieb

Kisslers Konter: Die Bundeskanzlerin sprach engagiert zur Flüchtlingskrise. Ein erneutes „Wir schaffen das“ vermied sie. Ihre Rhetorik aber blieb autoritär, der Gestus moralisch

Das „wir“ ist sie. Angela Merkel bei ihrer Rede im Bundestag / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Immerhin: Die rosarote Lamers-Brille ließ die Kanzlerin zuhause. Der CDU-Doyen Karl Lamers hatte vor den letzten Landtagswahlen in einem an Realitätsverkennung kaum zu übertreffenden Interview erklärt, Mecklenburg-Vorpommern sei nicht Deutschland. Die Probleme der Migrationskrise seien „gewissermaßen naturgegeben“, um die SPD müsse man sich mehr sorgen als um die CDU, es gebe „gar keinen Grund für besondere Aufregung“, denn „wenn es darauf ankommt, werden sich die Leute schon noch überlegen, ob sie AfD wählen“. Sprach Karl Lamers eine knappe Woche, ehe die AfD  21 Prozent auf sich vereinigen konnte.

Sprachpsychologe: Merkel spricht „bürokratisch, entseelt“

Das Vertrauen in Angela Merkels Problemlösungskompetenz erodiert. Europaweit ist es implodiert, in Deutschland rutschen die Bastionen. In der gestrigen Generaldebatte unternahm eine sich kämpferisch gebende Kanzlerin den Versuch, ihrem neuen Image entgegenzuwirken. Der Merkel-Malus sollte getilgt werden. Gelang es ihr aber, jene „gravierende psychologische Kompetenzlücke“ zu schließen, die der Sprachpsychologe Leo Sucharewicz konstatierte? In dessen  42-seitiger Analyse von fünf Zeitungsinterviews Angela Merkels zwischen September 2015 und März 2016 („Die Flüchtlingskrise im Wording der Bundeskanzlerin“) heißt es, Merkel bediene sich einer „bürokratischen, entseelten, funktionellen Sprache“. Dieser „Politjargon“ sei wesentlich verantwortlich „für die heute weit verbreitete Politikverdrossenheit, die dem Grunde nach eine Politiker-Sprache-Verdrossenheit ist“.

Hat Merkel sich im Bundestag „aus der Deckung des risikolosen Politjargons“ (Sucharewicz) herausgewagt? Sie sprach beachtliche sechzehnmal von Flüchtlingen, nie vom Migranten, einmal von der „Migrationspartnerschaft mit Niger und Mali“. So hielt sie den moralischen Druck auf die Gegner ihrer Flüchtlingspolitik aufrecht. Zwar billigte sie zu, „nicht jeder Flüchtling“ käme „in guter Absicht“ – das Ankommen aber müssten wir uns als Resultat einer Flucht vorstellen. Dass dem nicht immer so ist, es sich erstens in weiten Teilen um Wirtschaftsmigration ohne Bleibeperspektive handelt, um illegale Grenzübertritte und Zuzug in die Sozialsysteme, und es zweitens keinen Grund gibt, etwa aus Österreich nach Deutschland zu flüchten, bewegt sich jenseits des sprachlichen Horizonts der Kanzlerin.

Theologisierung des Staates

Wenn im zurückliegenden Jahr seit Merkels Grenzöffnung „uns vieles abverlangt wurde“, ist dieses „uns“ eines der seltenen Fälle, in denen Merkel eine begriffliche Einheit  von „ich“ und „ihr“ herzustellen bemüht ist, abgemildert und verunklart freilich durch die Passivkonstruktion. Die Schicksalsgemeinschaft, die Merkel nie so benennen würde, steht am Beginn einer knapp halbstündigen Rede, in der die alte Dichotomie zurückkehrt. Niemals täte die Chefin der Exekutive sagen, das Volk möge seine Widerspenstigkeit aufgeben und sich hinter der Regierung einreihen. Wohl aber gibt sie zu verstehen: „wir“ müssten „den Menschen Halt und Orientierung geben“, und dazu noch in „unserem Land“ eine  „Perspektive“. Dieses Wir ist das anordnende, das verfügende, das sinnstiftende Prinzip der Gesellschaft. Es richtet sich an keine Staatsbürger, keine Deutschen, sondern an alle Menschen, und es spricht aus der Kanzlerin. Auch so kann man einen Staat theologisieren.

Halt, Orientierung, Perspektive: Selbst der vorbildlich geführte Staat wäre mit dieser letztlich metaphysischen Trias überfordert. Um wieviel mehr gilt das von einer Staatsmacht, die eingestandenermaßen auf Sicht fährt, also keine längerfristige Perspektive hat, mehr oder minder orientierungslos durch das neue Zeitalter der Völkerwanderung taumelt und an ihren Grenzen eher durch haltlose Passivität denn Standfestigkeit auffällig wurde. Im Licht dieser Verhältnislosigkeit gewinnt das doppelte Bekenntnis Merkels zu „Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ beziehungsweise zu Liberalität, Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft ein Gschmäckle. Wer solche Werte energisch einklagt, darf nicht im selben Atemzug Politik naturalisieren und Gestaltungskraft mit Fatalismus verwechseln.

Kein Mandat für Veränderung

Die von Merkel als geschichtsnotwendig hingestellte „Veränderung“, mag ein „notwendiger Teil unseres Lebens“ sein – doch für die „Veränderung“ der Bundesrepublik Deutschland in jenen Dimensionen, wie sie sich derzeit ereignet, hat die Regierung kein Mandat. Es geht hier nicht um Metamorphosen im Lebenskreis, Jahresringe oder inneres Wachstum. Die Zeiten ändern sich, gewiss, doch nur Karl Lamers dürfte die Chuzpe haben, politische Willensentscheidungen der eigenen Corona zu natürlichen Gegebenheiten umzubiegen. Politik ist das Gegenteil von Natur. Eine verordnete Veränderung ist ein Befehl, kein Schicksal.

Merkel mag diese Inkongruenz gespürt haben. Sie schloss antithetisch mit einem Bekenntnis zum Dauernden. Deutschland werde „Deutschland bleiben – mit allem, was uns daran lieb und teuer ist.“ Die Pointe der Rede aber lautet: Turbulenzen sind gewollt, doch seid gewiss, ihr Menschen im Land, die Kanzlerin hat euch lieb.

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