Rausschmiss von Karen Parkin bei Adidas - Die neuen Jakobiner und ihr Jahrtausende altes Terrorwissen

Ist die Aufklärung am Ende? Mit den neuen Göttern der Identitätspolitik ist jedenfalls nicht zu spaßen. Zuletzt durfte das Karen Parkin, Personalchefin bei Adidas erfahren. Doch ihr Rausschmiss zeigt auch einen Widerspruch der Rechthaber.

Wenn es nach den neuen Jakobinern geht, sind alle Weißen Rassisten, wer damit nicht einverstanden ist, bestätigt nur seinen Rassismus / dpa
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Als die griechische Flotte auf ihrer Fahrt zum Trojanischen Krieg in Aulis strandete, flehte ihr Feldherr Agamemnon die Götter um Rat an. Die göttliche Weisung war wie so vieles, was die Götter damals rieten, von einer sadistischen Perfidie. Agamemnon sollte seine Tochter Iphigenie unter dem Vorwand ihrer Vermählung nach Aulis locken, um sie dann vor dem Altar nicht zu verheiraten, sondern hinterrücks zu schlachten.

Der Vater und Feldherr sah sich in der Falle. Entweder er bringt das Heer gegen sich auf, weil er die Weisung missachtet, oder er muss seine Tochter opfern und wird damit zum Kindermörder. Warum erzähle ich diese alte Geschichte? Unsere Gegenwart verlässt in atemberaubender Geschwindigkeit die Standards der universellen Menschenrechte und zeigt immer öfter Verhaltensweisen, die an archaische Opferrituale erinnern. Gerade erst musste der Adidas-Konzern ein Frauenopfer bringen. Die langjährige Mitarbeiterin und Personalchefin Karen Parkin trat mit sofortiger Wirkung zurück.

Entfernt diese Frau!

Was war geschehen? Sie hatte 2019 in einer Rede davon gesprochen, dass die Antirassismus-Debatte in den USA nur „Noise“ sei und jenseits der USA keine Bedeutung hätte. Diese Einschätzung war nicht nur falsch, sondern sie reichte nun aus, um ihren Rausschmiss zu verlangen. Die alte Rolle der göttlichen Weisung ist inzwischen von der aufgebrachten Schar der Konsumenten und empörten Mitarbeiter übernommen, und die undankbare Rolle des Feldherren wurde der Konzernleitung übertragen.

Die tragische Weisung, die an Adidas erging, war unmissverständlich: Entfernt diese Frau! Die Reaktion war wie Agamemnons Kinderopfer folgerichtig: Die Umsatzeinbußen wären bei einer Kampagne gegen die Turnschuhe ungleich schmerzhafter ausgefallen als das kleine Opfer, die Personalchefin zu entlassen.

Ungnädige Götter

Mit den neuen Göttern ist nicht zu Spaßen. Wie ungnädig sie sein können, zeigte sich schon daran, dass sie keine Entschuldigung mehr akzeptieren wollten. Sie wiesen jedes Ansinnen nach Gnade zurück, da die entschuldigenden Worte von Karen Parkin „unzureichend und kein Zeichen von echter Reue“ seien.

Was seit jeher Teil der religiösen Gewissensprüfung war, ist endgültig im Zentrum des Kapitalismus angekommen. Es reicht nicht mehr aus, sich zu entschuldigen, sondern es braucht ein Zeichen echter Reue. Wie die echte Reue hätte aussehen können, darüber hüllen sich die neuen Götter in Schweigen. Das tun die Götter seit jeher, denn es ist der wichtigste Teil ihrer Macht. Würden sie ihre Kriterien offenlegen, nach denen die Menschen gerichtet werden, so wären sie nicht mehr allmächtig, sondern nur noch eine besonders totalitäre Form von Macht. 

Universelle Rechte für alle Menschen

Die religiöse Macht zu zerstören, war einst der Antrieb für einige, meist alte weiße Männer. Sie wollten mit der Arbeit ihres Geistes etwas dazu beitragen, dass Menschen nicht mehr der Willkür ausgesetzt sind. Unter dem Begriff der Aufklärung sollten sadistische Gottesurteile und willkürliche Herrschaft ebenso kritisiert werden, wie Gewissensprüfungen, bei denen der ohnmächtige Prüfling einem unberechenbaren Urteil ausgeliefert wird.

Es sollten keine Iphigenien mehr geopfert werden, weil ein unerklärlicher Ratschluss das verlangt. Es sollten keine Biographien mehr zerstört werden, weil ein diffuses Volksempfinden das will. Statt der Grausamkeit einer willkürlich zuschlagenden Cancel-Culture sollten universelle Rechte für alle Menschen gelten. 

Alle Weißen sind Rassisten

Die kurze Epoche der Aufklärung scheint an ihr Ende zu kommen. Denn die neue Cancel-Culture, die gerade in Empörungswellen über die Welt schwappt, hat die Aufklärung als ihren Hauptfeind ausgemacht. Ihre Reinigungsfeldzüge folgen dabei der uralten Logik absoluter Herrschaft. Am brutalsten hat es die US-amerikanische Autorin Robin DiAngelo auf den Punkt gebracht: Alle Weißen sind Rassisten. Und wer dem widerspricht oder gar versucht, sich zu verteidigen, bestätigt nur seinen Rassismus.

Der Gott des Mittelalter wäre stolz auf Frau DiAngelo gewesen. Seine heilige Inquisition begründete mit der gleichen Logik ihre Todesurteile. Überlebt ein Ketzer die Folter, ist bewiesen, dass er mit dem Teufel im Bunde ist, also gehört er verbrannt. Oder in stalinistischer Manier gesagt: Wer sich verteidigt, klagt sich an. Denn wer sich verteidigt, akzeptiert nicht, dass die Partei immer recht hat. Und das allein spricht ihn schuldig.

Die Widersprüche häufen sich

Die neuen Jakobiner greifen also auf Jahrtausende altes Terrorwissen zurück. Und wie schon in allen dunklen Epochen zuvor, ist ihnen keine Aufklärung gewachsen. Denn wer sie anklagt, macht sich verdächtig. Und wer erst einmal verdächtig ist, der ist auch schuldig. Der einzigen Lichtblick, den die antike Mythologie hier anbietet, besteht darin, dass die Kettenhunde, sind sie erst einmal losgelassen, anfangen sich gegenseitig zu zerfleischen.

Und tatsächlich häufen sich die Widersprüche der Identitätspolitik. Die Taz bat nach einer Kolumne, in der alle Polizisten als Müll auf der Müllkippe entsorgt werden sollten, um Polizeischutz, als die Kritiker der Zeitung und ihrer Kolumnistin zu nahe kamen.

Wo waren die Frauenrechtler?

Der Präsidentschaftskandidat Joe Biden beharrte einst darauf, dass einer Frau, die von einer sexuellen Belästigung berichtet, in jedem Fall geglaubt werden müsse. Nun hat eine Frau solche Vorwürfe gegen ihn erhoben, und siehe da, Joe Biden, seine Demokratische Partei und sogar die Aktivistinnen von #Metoo wollen davon nichts wissen. Und im Fall des Frauenopfers bei Adidas könnte man die Frage stellen, wo diejenigen waren, die sich berechtigterweise für mehr Frauen in Vorständen einsetzen, als Karen Parkin als einzige Frau im Vorstand zurücktreten musste. 

Es könnte aber auch sein, dass die Vertreter*innen der intersektionalen Diskriminierung die alte Göttermythologie gut verstanden haben. Denn schon damals gab es für die verschiedenen Interessen unterschiedliche Götter und Göttinnen. Gerieten sie in Streit, war eine Lösung fern, und das Nachsehen hatten die Menschen. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Opfergruppen, die um ihre Sonderrechte kämpfen, ist in diesem Stadium angekommen. Die jüngsten Querelen bei der Taz lassen einiges Chaos im Götterhimmel erwarten. 

Fast nur alte weiße Männer

Die Vielgötterei hatte bekanntlich eine begrenzte Lebensdauer. Sie wurde vom Monotheismus abgelöst, der seine Macht für viele Jahrhunderte nicht mehr hergab, bis ihn schließlich die Aufklärung mit ihren Menschenrechten ablöste. Unsere Epoche hat gerade das zweifelhafte Vergnügen, den neuen Kampf im Götterhimmel ausbaden zu müssen. Dass die Stimme der Aufklärung dabei nur noch so leise zu hören ist, ist leicht zu erklären.

Es waren eben fast nur alte weiße Männer, die sich so etwas Verrücktes wie universelle Rechte ausgedacht haben, und die haben im neuen Götterhimmel leider keinen Platz mehr. Iphigenie wurde seinerzeit von Aphrodite gerettet und nach Tauris gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte aus einer anderen Götterwelt. 

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