Raubkunst im Humboldt Forum - Vielleicht soll es nicht heilen

Mit dem Humboldt Forum sollte das Zentrum der deutschen Hauptstadt zu einem lebendigen Ort der Weltkulturen werden. Die Vision geriet in den Strudel einer Raubkunstdebatte. Nun stehen mit den Benin-Bronzen erste Rückgaben an.

Gedenkkopf einer Königinmutter, 18. Jh., Nigeria, aus der Berliner Sammlung / Martin Franken
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Autoreninfo

Johann Michael Möller, Jahrgang 1955, war von 2006 bis 2016 Hörfunkdirektor beim Mitteldeutschen Rundfunk. Er ist Herausgeber des Rotary Magazins. Im Verlag zu Klampen erschien 2019 sein Buch „Der Osten“.

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Jahrzehntelang hat man um sie gerungen. Am Ende ging alles ganz schnell. Ein Teil der berühmten Benin-Bronzen wird in das Ursprungsland Nigeria zurückkehren. Das hat die Bundeskulturministerin in verantwortlicher Runde beschlossen. Der öffentliche Druck wurde zu groß. Da blieb nur die Flucht nach vorn. 

Monika Grütters hat sie ergriffen. Sie ahnt bereits, dass das einen Dominoeffekt auslösen wird. Schon wird über die Bronzen nicht mehr gesprochen. Das berühmte Luf-Boot ist jetzt das Thema. Es stammt vom früheren Bismarck-Archipel in der Südsee und war das Prunkstück der ethnografischen Sammlung in Dahlem. Im Humboldt Forum soll es der Blickfang sein. Doch daraus könnte nichts werden. Denn der Historiker Götz Aly hat ein Buch über das Boot geschrieben. Auch da geht es um Raub. Für die Verantwortlichen in der Preußenstiftung wird es jetzt ernst. Sie haben die prekären Umstände dieser Provenienz offenbar ignoriert. Das lässt sich kaum mehr korrigieren. Denn das gewaltige Boot dieser Inselkultur wurde bereits in das Humboldt Forum verbracht; man hat es dort buchstäblich eingemauert.

Historie der Raubkunst

Mit Götz Aly nimmt die Raubkunstdebatte jetzt eine gravierende Wende. Er zeigt einen exemplarischen Fall kolonialistischer Praxis – auch für uns Deutsche. Am Ende wurde nicht nur das Boot weggeschafft, sondern die Inselkultur vernichtet. Die Legende von deren eigenem Untergangswillen geisterte lange genug herum. Doch diese kleine Bevölkerungsgruppe wurde „rattenkahlgefressen“, wie es in den historischen Dokumenten heißt. Das beschreibt das Vorgehen der deutschen Kolonialtruppen und Plantagenbetreiber sehr viel genauer.

Damit verschiebt sich der Fokus der Raubkunstdebatte vom rechtmäßigen Besitz der Objekte hin zu den genauen Umständen ihres Erwerbs. Die Debatte erreicht nach den ethnografischen Sammlungen jetzt auch die ethnologische Wissenschaft selbst, die sich einmal mehr fragen muss, worin ihr Anteil am kolonialen Plündern bestand. Man wird zu einem zwiespältigen Urteil gelangen. Die Versuchung war viel zu groß. Vor allem Adolf Bastian, der legendäre Gründer des Berliner Museums, betrieb dieses „Sammeln“ mit aller Macht. Am Ende hatte sein Museum in Berlin das Zehnfache dessen, was London besaß. Auf den vollgestopften Korridoren konnte man sich kaum mehr bewegen.

Ein Weg voller Fehler

Die Ethnologie hat selbstredend von der kolonialen Landnahme profitiert; und sie hat sich der kolonialen Machtsicherung angedient. Ob das Fach tatsächlich ein Kind des Kolonialismus war, kann man dabei so pauschal gar nicht sagen. Es ist eine Wissenschaft, die im Zuge der europäischen Welt­erfahrung entstand. So einfach wie man es sich heute macht – kolonialistische Ethnologie sozusagen – liegen die Dinge jedenfalls nicht.

Aber das hilft den Verantwortlichen für das Humboldt Forum auch nicht weiter. Die haben jetzt ein ernstes Problem. Götz Aly präsentiert den brutalstmöglichen Vorschlag. Es wäre wohl das Beste, man bräche das Humboldt Forum noch einmal auf. Das ist leider nicht zum Lachen. Man könnte heulen, was aus diesem Vorhaben geworden ist. Es sollte einmal das Schaufenster einer weltoffenen Nation werden; es wurde ein Ort verquälter Debatten. Vom anfänglichen Streit um den Schlossbau selbst über das Kuppelkreuz bis zu den Benin-Bronzen schleppt sich ein zäher Strom an Verdruss. Vielleicht soll dort wirklich nicht heilen, was wohl nicht heilen darf.

Anstoß durch Savoy

Man kann das an keine einzelnen Personen adressieren. Aber Verantwortlichkeiten gibt es schon. Und es lässt sich so etwas wie ein Urknall ausmachen. Für den hat die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy früh schon gesorgt. Das ist kein unmäßiger Vorwurf, das ist ihr eigenes Verständnis. Seit ihrem Tschernobyl-Vergleich von 2017 – im Humboldt Forum solle unter der Bleidecke der Schlossfassade die Weltkunst samt der heiklen Frage nach der Provenienz begraben werden wie Atommüll – ahnte die Öffentlichkeit, dass da vieles nicht stimmt.

Savoy hat das Thema Raubkunst populär gemacht – um das sich die Politik lange nicht scherte. Im Auftrag des Präsidenten Macron fuhr sie in das ehemals französische Westafrika, schrieb Berichte und Bücher gemeinsam mit dem afrikanischen Ökonomen Felwine Sarr, gab Interviews und trat in Talksendungen auf. Darüber ist sie zum postkolonialen Popstar geworden. Die Zeit schwärmte vom „Savoy-Effekt“.

Aber Savoy ist auch Historikerin. Sie hat sich in die Archive gesetzt, hat Akten studiert und ein Kapitel Verweigerungsgeschichte der Museen ausgegraben, das wohl nur Insider kannten. Man versteht nach der Lektüre ihres neuen Buches („Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage“) viel besser, warum der Druck sich inzwischen entlädt. Die Raubkunstdebatte hat einen langen Vorlauf. Er wirkt wie die zwingende Hinführung zu der jetzt gefällten Entscheidung über die Benin-Bronzen.

„Gebt uns unsere eigene Kunst zurück“

Die erste Raubkunstdebatte begann in den sechziger Jahren und endete zwei Jahrzehnte später im Nichts. Da war der Elan der frühen Forderungen wieder erloschen. Das Museumskartell hatte obsiegt. Man kann den Startpunkt dieser Debatte ziemlich genau benennen. Sie beginnt im Jahr 1965. Den Auftakt machte der in Cotonou im heutigen Benin geborene Journalist und Literat Paulin Joachim. In der Zeitschrift Bingo formuliert er zum ersten Mal jenen berühmten Appell, um den es bis heute geht: „Rendez-nous l’art nègre.“ „Gebt uns unsere eigene Kunst zurück“, würde man das heute wohl übersetzen. 

Dass diese Debatte in Frankreich und von afrikanischer Seite angestoßen wurde, ist nicht überraschend, wenn man die Zeitumstände von damals bedenkt. Das legendär gewordene „afrikanische Jahr“, das Jahr 1960, in dem die meisten afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, war frisch im Bewusstsein, Dekolonisierung das alles beherrschende Thema. Die jungen afrikanischen Eliten machten sich ein zweites Mal auf, um nach den Zeugnissen ihrer eigenen Geschichte zu suchen. Aber sie fanden sie häufig nicht mehr an ihrem angestammten Ort, sondern in den ethnografischen Sammlungen der früheren Kolonialmächte. Dass sie womöglich nur dort überlebt haben, ist kein wirklich überzeugendes Argument. Es macht die Umstände nicht ungeschehen, unter denen man sie „erwarb“. Raub ist schon das richtige Wort dafür.

Aber der museale Kontext hat diese Objekte ihren Herkunftsgesellschaften auch entfremdet; sie kehren mit einer veränderten Bedeutung zurück. Und treffen heute auf veränderte Welten. Was einmal zerstört wurde, lässt sich nicht einfach mehr heilen. Mit einer Rückkehr zur „afrikanischen Seele“ hat das schon gar nichts zu tun. Koloniale Raubkunst und afrikanische Gegenwart finden nicht auf einfachem Wege wieder zusammen. 

Besonders, weil es Raubkunst ist

Viele Werke der Raubkunst sind inzwischen mit einer ästhetischen Bedeutung aufgeladen, die aus der künstlerischen Wahrnehmung der Moderne stammt. Es waren die Maler und Bildhauer der Jahrhundertwende, die diese Objekte für sich entdeckten. Das Archaische hielten sie für das eigentlich Moderne. Ohne diesen fremden, bewundernden Blick hätte sich die herausragende Bedeutung dieser Skulpturen für den Selbstfindungsprozess der jungen afrikanischen Eliten womöglich gar nicht ergeben. So aber ließ sich die eigene, die „subalterne“ Vergangenheit mit der Zukunft einer modernen Gesellschaft verbinden. Von der Erfindung der Traditionen pflegt man heute zu sprechen. Benin ist ein leuchtendes Beispiel dafür. 

Für die simple Täter-Opfer-Erzählung ist Benin dagegen gar nicht geeignet. Das alte Königtum war – um es in unseren Worten zu sagen – eine blutige Despotie; und dass sein Reichtum auf dem Sklavenhandel beruhte, haben die umliegenden Völker alle gewusst. Die Basler Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin hat jüngst darauf hingewiesen, wie viel Blut an der schönen Form dieser Kunstwerke klebt. Sie hätte es freilich auch sein lassen können. In Berlin will das niemand mehr hören. 

Wem steht es wirklich zu?

Doch schon die Vorgeschichte der Strafexpedition britischer Kolonialtruppen war anders verlaufen, als man es heute zu lesen bekommt. Der Anblick der monströsen Opferpraxis des Königs, des Obas, hat den Befehlshaber dieser Strafexpedition, Reginald Bacon, so sehr erschüttert, dass er ein berühmt gewordenes Buch darüber schrieb: „Benin – The City of Blood“. Sicherlich war das auch Kolonialpropa­ganda. Die Briten sprachen vom heiligen Krieg. Aber die weitverbreitete Vorstellung einer friedfertigen, vom Kolonialismus zerstörten afrikanischen Kunstmetropole gehört in das Reich der Mythen und Sagen.

Bacon war einer der Ersten, der den künstlerischen Wert dieser Bronzen erkannte. Die heutige Wertschätzung haben diese Werke aber erst auf dem Kunstmarkt bekommen, „entkoppelt“, wie Hauser-Schäublin sagt, von ihrer „Herkunftsgesellschaft“ und der eigenen Geschichte beraubt. 

Auf die Frage, was denn mit diesen Werken nun werden soll, gibt es verschiedene Antworten. Da sind die Nachfahren des Königs, des Obas. Sie halten die Bronzen für ihren legitimen Besitz. Dann gibt es den Staat Nigeria, für den es um einen nationalen Erinnerungsort geht; und schließlich hat der nigerianische Bundesstaat Edo mit der Hauptstadt Benin City auch noch seine Aktien im Spiel. Dort soll auf altem Königsland jetzt das Edo Museum für westafrikanische Kunst entstehen. Es wird der Gegenakzent zum Nationalmuseum in Lagos werden.

Komplexer als auf den ersten Blick

Man macht es sich in Deutschland sehr einfach, wenn man glaubt, die Sache sei damit erledigt. Wo bleiben die Stimmen all derer, die Opfer der Edo-Herrschaft in Benin waren: die „einfachen Leute“, die Nachkommen der vielen Versklavten und vor allem die benachbarten Ethnien, die unter den Raubzügen des Königtums litten? Sie alle kommen im Traditionsverständnis der Edo-Eliten nicht vor. Und in unserem Benin-Bild schon gar nicht. Hauser-Schäublin warnt vor der Gefahr einer „politischen Reethnisierung“ mittels Kulturgütern und Museen. Auch das müsste uns in Deutschland wohl interessieren. 

Bénédicte Savoy warnt vor der Überforderung der Empfängerländer. Doch sie lässt es dabei bewenden und wendet sich lieber der deutschen Museumswelt zu und den dort herrschenden weißen Männern. Die haben sich jahrzehntelang quergelegt und alle Restitutionsversuche verhindert. Jede Erzählung braucht ihren Helden. Bei Savoy ist das der Bremer Museumsdirektor Herbert Ganslmayr, der nicht mehr vielen in Erinnerung sein wird, obwohl er damals eine ähnliche Rolle spielte wie heute sie selbst. Mit dem Journalisten Gert von Paczensky hatte er jenes Buch herausgegeben, dessen Titel zum Schlagwort der ersten Raubkunstdebatte wurde: „Nofretete will nach Hause“. Man kann es in den Antiquariaten noch finden. Wenn man sich unter alten Kollegen nach Ganslmayr erkundigt, bekommt man die Antwort auf Englisch. „He was mostly in the air.“ Und er sorgte für Unruhe in einer verschlafenen Branche. 

Generationenwechsel

Als der Finsterling unter den Raubkunstbewachern kommt dagegen Friedrich Kußmaul ins Spiel. Er war Direktor des Lindenmuseums in Stuttgart; ein schaffiger Schwabe und Bauernsohn aus dem nahe gelegenen Korngäu; kein Intellektueller, aber ein Jäger und Sammler. Zur Völkerkunde ist er durch Zufall gekommen. Einen tieferen Bezug zu diesem Fach hatte er nie. Man staunt, welch mächtiger Mann er gewesen sein soll. Sein Leben spielte im Umkreis von nur wenigen Kilometern. Das hat die weltläufige Savoy natürlich bemerkt. Kußmaul rankte am Boden, Ganslmayr war in der Luft. Viel mehr an Glanz hatte das alte Westdeutschland offenbar nicht zu bieten.

Diese nach Bohnerwachs riechende Welt der alten Völkerkundemuseen gibt es nicht mehr. Fast keines der Häuser hat seinen Namen behalten; und an der Spitze steht eine neue, andersdenkende Generation. Den Kolonialismus müssen sie dort nicht erfinden. Er ist die alles verbindende Klammer. Die Stuttgarter Museumspädagogin Regina Weber hat im Übrigen in einem Leserbrief darauf hingewiesen, wie lange die Zerstörung Benins im Lindenmuseum schon ein Thema war – lange vor der Neugestaltung der Afrikaabteilung 2019. 

Es geht eigentlich um uns

Dass die neue Raubkunstdebatte weniger von den bestehenden Museen als vom neuen Humboldt Forum ausging, hat seinen Grund wohl in den noch weitgehend leeren Räumen. Diese Debatte wurde lange aus dem Nichts heraus geführt. Sie ist Zitat und Rekonstruktion; vieles war auch Behauptung. Noch stören die konkreten Sammlungen nicht, über die man jetzt streitet. Weshalb der Verdacht naheliegt, dass es dort eben nicht nur um Benin-Bronzen oder Südseeboote geht, sondern natürlich um uns selbst und das Verhältnis zu unserer Geschichte.

Die Zerstörung der fremden Kulturen spiegelt uns unsere Erblast zurück. Auch das erklärt die Heftigkeit der Debatte. Es ist ein kurioses Ding mit diesem Forum. Vorne wollte man einen Erinnerungsort rekonstruieren; doch hinter den historischen Fassaden betreibt man die Dekonstruktion unserer Geschichte. „Multidirektionales Erinnern“ nennt man das heute. Das zielt auf die deutsche Erinnerungskultur und ihren humanen Anspruch. Im postkolonialen Diskurs will man auch sie – wie das heißt – „provinzialisieren“. 

Das deutsche Erbe

Im Kern geht es dabei um die Vergleichbarkeit der im deutschen Namen begangenen Verbrechen. Darüber ist jetzt der nächste Streit entbrannt. Denn das richtet sich – ob man will oder nicht – gegen das Grundgebot, den Holocaust nicht zu vergleichen. So verwandelt sich die Rückgabeforderung von Raubkunst unter der Hand in eine grundstürzende erinnerungs- oder identitätspolitische Frage. Verkürzt gesagt, wird nun der Kolonialismus zum historischen Urgrund allen Menschheitsverbrechens. „Decolonize Au­schwitz“ heißt die haarsträubende Forderung in manchen postkolonialen Debatten.

Im Humboldt Forum wird man trotzdem erleichtert sein, die Benin-Bronzen erst einmal loszuwerden. Doch mit dem Luf-Boot fängt alles wieder von vorne an. Aber das lässt sich nicht ganz so einfach restituieren, weshalb Götz Aly – siehe oben – schon vom nächsten Mauerfall träumt. Vielleicht wird es so kommen. Vielleicht reißt man das Humboldt Forum wieder auf. Es hat einmal die Hoffnung bestanden, partikulares und universelles Gedächtnis an diesem Ort zu versöhnen. Doch für die Idee des gemeinsamen Erbes, eines „shared heritage“, stehen die Zeichen nicht gut. Man könnte es wenigstens mit der gemeinsamen Verantwortung für die Folgen des Kolonialismus versuchen. Identitätspolitische Zuschreibungen sind jedenfalls der grundfalsche Weg.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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