Pro und Kontra in den Tagesthemen - Braucht die ARD mehr konservative Stimmen?

Erstmals präsentierten die Tagesthemen in dieser Woche mit Kristin Schwietzer und Tom Schneider einen Pro- und einen Kontra-Kommentar. Die ARD will damit auch dem Vorwurf begegnen, sie würde politisch zu einseitig berichten. Ein Gespräch über private und professionelle Meinung in den Öffentlich-Rechtlichen.

Miteinander gegeneinander: Kristin Schwietzer (MDR) und Tom Schneider (HR) / Bastian Brauns
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Kristin Schwietzer ist Korrespondentin für den MDR, Tom Schneider ist Korrespondent für den HR. Beide arbeiten im Hauptstadtstudio der ARD.

Frau Schwietzer, Herr Schneider, Sie sind die ersten, die in den ARD-Tagesthemen einen doppelten Kommentar sprechen durften – einen pro Schulöffnungen und einen contra Schulöffnungen. Wie ist es zu diesem neuen Format gekommen?

Kristin Schwietzer: Wir hatten schon lange vor, das Pro-Contra-Format in den Tagesthemen auszuprobieren. In der Wahrnehmung vieler Zuschauer verschwimmt zunehmend der Unterschied zwischen einer geäußerten Privatmeinung im Internet und einer journalistischen Meinung, also der klassischen Kommentierung. Um das auch bei der Wahrnehmung der Tagesthemen klarer abzugrenzen, wollen wir zeigen: Wir haben bei der ARD eine Bandbreite von Perspektiven auf die Themen. Wir wollen niemandem sagen, was man denken soll. Wir wollen ein Angebot machen, was man denken könnte. Das neue Doppelformat ist eine schöne Chance, zu zeigen: Hier ist ein Pro. Hier ist ein Kontra. Und die Conclusio, liebe Zuschauer, die könnt ihr so machen, wie ihr das für richtig haltet.

Kritiker finden, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk solle am besten gar keine Meinung vertreten sein. Weil alle den Rundfunkbeitrag bezahlen, ist der Wunsch nach möglichst großer Objektivität da. Hätten Sie das Meinungs-Format statt es zu verdoppeln nicht auch einfach abschaffen können?

Tom Schneider: Das Format Meinung oder der Kommentar ist schon immer außer Konkurrenz gelaufen. Für den Großteil unserer Beiträge haben wir immer den Anspruch, Ausgewogenheit und Objektivität zum Maßstab zu machen. Für den Kommentar gilt das ausdrücklich nicht. Die Pro-Kontra-Form kann zumindest dazu beitragen, eine polarisierte Gesellschaft wieder besser ins Gespräch zu bringen. Der zunehmenden Polarisierung fühlen wir uns als Journalisten ebenso ausgesetzt wie andere Menschen auch. Oft wirft uns eine Seite vor, wir würden die Nachrichten falsch darstellen, weil ein Beitrag nicht der eigenen Perspektive entspricht. Wenn wir uns im Kommentar-Format vielschichtiger positionieren, können wir zeigen: Man kann ein bisschen über den eigenen Standpunkt nachdenken, ihn vielleicht etwas verrücken, und dann die Dinge auch anders sehen. Das kann Verständnis schaffen für andere Sichtweisen.

Kristin Schwietzer: Ich finde es sogar schön, dass wir an einem Meinungsformat festhalten. Ein Kommentar erlaubt uns als Journalisten eine Haltung, aber er verlangt uns auch eine ab. Mit einem Pro-Kontra können wir sogar einer größere Objektivität herstellen, als wenn wir ganz darauf verzichten würden. Denn das schafft ein Bewusstsein für Differenzierung.

Wie waren denn die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer?

Tom Schneider: Tatsächlich war das Feedback anders als sonst. In den Rückmeldungen war Respekt dafür zu spüren, dass es zwei Meinungen gab. Wenn wir sonst Einzelkommentare sprechen, wird oft sehr viel auf uns als Person projiziert.

Kristin Schwietzer: Ja und ich finde das interessant, denn es zeigt, dass eine geäußerte Meinung im Internet eben doch als etwas anderes wahrgenommen werden kann als eine Meinung bei uns in den Tagesthemen. Das eine ist eine persönliche Meinung, das andere eine journalistische Meinung.

Sie sagten, dass immer mehr zwischen persönlicher und professioneller Meinung verschwimmt. Aber tragen wir dazu als Journalisten nicht selbst bei, gerade auf Twitter.

Kristin Schwietzer: Auch Journalisten haben dort eine private Meinung, klar. Aber das, was wir bei den Tagesthemen meinen, ist keine private Meinung, sondern eine, die entlang journalistischer Kriterien arbeitet. Auch deshalb war das Feedback dieses Mal anders. Wie siehst du das, Tom?

Tom Schneider: Mein Eindruck war, dass einige diese doppelte Positionierung als eine wohltuende Entschärfung wahrgenommen haben. Allein durch die Tatsache, dass es noch eine andere Position gab. Hätte ein Zuschauer sonst vielleicht mit den Zähnen geknirscht, kam er in der Gesamtschau jetzt mit unserer Darstellung irgendwie klar. Ich glaube, dass so was gesucht wird.

Weil Sie von zunehmender Polarisierung sprechen, sehen Sie diese denn in besonderer Weise bei Corona?

Tom Schneider: Corona ist seit einem Jahr das prägende gesellschaftliche Thema. Die Hälfte bis Dreiviertel der Nachrichtensendungen handelt von nichts anderem und es beschäftigt die Menschen. Es gibt eine große Ungeduld, zu der sogenannten Normalität zurückzukehren. Über das Schulöffnungs-Thema haben wir versucht, uns diesem Wunsch nach Rückkehr anzunähern.

Frau Schwietzer, Sie haben kommentiert, man solle die Schulen jetzt bitte öffnen. Sie, Herr Schneider, sagten, man solle sie bitte noch zulassen. Sehen Sie das beide privat eigentlich auch so?

Kristin Schwietzer: Ich teile wichtige Argumente meiner eigenen Argumentation. Darum habe ich auch gesagt, ich könnte mir einen Pro-Kommentar vorstellen. Uns beiden ist aber beim Schreiben klar geworden, dass man sehr gut auch die andere Position hätte beziehen können. Man muss das professionell sehen. Was ist eine kluge Argumentationslinie? Man muss sich unheimlich konzentrieren, an dieser auch festzuhalten.

Tom Schneider: Wir haben unterschiedliche Rechtsgüter gegeneinander abgewogen. Einerseits das Kindeswohl, die Freiheitsrechte und das Recht auf Bildung. Andererseits die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Gesundheit und den Schutz bestimmter Gruppen, wie die Älteren oder Risikogruppen. Als Familienvater, so habe ich das im Kommentar auch gesagt, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als zu sagen: Los, Kinder, geht wieder in die Schule und lebt euer Leben! Aber ich sehe eben auch, dass die Argumente, die dagegen sprechen, ziemlich stark sind, weil es sonst sogar noch schlimmer kommen kann.

Wie gehen Sie beide damit um, dass Sie für diese professionelle und sehr klare Meinung persönlich angegriffen werden, weil man sie persönlich damit identifiziert?

Kristin Schwietzer: Ich glaube, dass man das aushalten muss. Es gehört zur Meinungsvielfalt, dass jemand zu einer anderen Meinung kommt als jener, die ich – und das ist wichtig – in diesem Moment vertrete. Man muss als Journalist in der Lage sein, auch die Contra-Meinung zu übernehmen. Es wird einem nie gelingen, von allen positives Feedback zu bekommen. Es geht nicht um mich, sondern wie gesagt darum, ein Angebot für die Zuschauer zu machen, damit die sich eine Meinung bilden können.

Müssen Journalisten vielleicht wieder lernen, weniger von allen lieb gehabt werden zu wollen?

Tom Schneider: Ich mache meinen Job nicht, um Anerkennung oder Zuneigung zu ernten, sondern, weil ich glaube, dass das, was ich freilege und zeige, Dinge sind, die gezeigt werden sollten und gezeigt werden müssen. Dazu gehört ein breites Kreuz und in erster Linie nicht die Haltung, jetzt besser keine Prügel einzustecken für diese oder jene Linie. Ich glaube auch, das muss man aushalten.

Kristin Schwietzer: Und man bekommt natürlich immer auch sehr positives Feedback. Das macht es etwas leichter.

Es gibt Menschen, die bemängeln, in den Öffentlich-Rechtlichen fänden konservative Meinungen zu wenig Platz. Der Meinungsteil würde zu stark dominiert von Kollegen und Kolleginnen, wie Georg Restle oder Anja Reschke. Braucht die ARD mehr konservative Stimmen mit ähnlicher Prominenz?

Kristin Schwietzer: Das müssen andere Menschen beantworten. Wir sind immer bemüht, auch konservative Positionen darzustellen. Grundsätzlich will man sich als Journalist aber ungern in eine Ecke stellen lassen. Und wir sollten das auch nicht tun. Es ist wichtig, dass man sich positioniert und dabei auch mal eine konservative Haltung vertritt. Man kann zum Beispiel das Klima-Thema nicht immer nur von einer Seite betrachten. Man muss auch die gesellschaftlichen Folgen des Strukturwandels betrachten.

Tom Schneider: Das ist auch eine sehr persönliche und eine Typenfrage. Wollen Sie Ihre Rolle eher so wahrnehmen, dass Sie jemandem etwas aufdrücken und erklären wollen? Oder wollen Sie letztlich eher zu einer Meinungsbildung beitragen. Ich nehme meine Rolle als Journalist eher so wahr, dass ich mich streng an der Sache orientiere. Ich würde mich ungern einsortieren lassen – ob nun in eine konservative Schublade oder in eine progressive. Es kommt auch immer darauf an, wer einen da gerade als was registriert und einordnet.

Würden Sie denn sagen, für Schulöffnungen zu plädieren ist bei Corona eher eine konservative Sicht auf die Pandemie?

Kristin Schwietzer: Meine geäußerte Meinung zu den Schulen findet bestimmt Anhänger bei Konservativen oder Wirtschaftsliberalen. Aber ich glaube, dass es auch ganz viele Eltern gibt, die sich das wünschen und die sich dabei weder in die eine noch in die andere Ecke stecken lassen wollen. Die glauben nicht, in eine Kategorie zu gehören, die wünschen sich das einfach. Die Position von Tom kann bei Konservativen aber genauso gut verfangen, immerhin ist es die Position der CDU-Kanzlerin, aber auch die von einigen CDU-Ministerpräsidenten.

Tom Schneider: Bei diesem Thema kann man schwer entscheiden, was eine konservative Position ist. Die Schulen vorerst noch zuzulassen hat ja etwas Bewahrendes und hat insofern einen konservativen Ansatz.

Wird es weiter solche Doppel-Kommentare geben? Woran entscheidet sich das?

Tom Schneider: Ich denke, das wird es weiter geben. Ich habe das auch als einen Aufruf an uns als Kolleginnen und Kollegen verstanden, die Initiative dafür zu ergreifen und solche Paare, wie wir jetzt eines gebildet haben, zu finden.

Kristin Schwietzer: Ich hoffe, dass das Format so bleibt, weil ich das echt spannend finde. Es gibt wirklich Themen, bei denen es sich lohnt so eine Kontroverse zu führen – und sie auch mal auszuhalten.

Und wann erfahren wir, welche nächste Kontroverse wir aushalten müssen?

Kristin Schwietzer: Das entscheidet die Chefredakteurs-Runde der ARD. Die findet jeden Tag um 14 Uhr statt. Jede Rundfunkanstalt kann einen Vorschlag machen und ihre Kommentatoren vorschlagen. Dann wird darüber demokratisch abgestimmt.

Tom Schneider: Nicht jedes Thema und jeder Tag eignen sich für eine Kontroverse. Das Doppel-Format benötigt auch ein bisschen mehr Vorbereitung. Als Kommentatoren-Paar will man auch auf die Argumente des jeweils anderen eingehen, sonst wäre es ja auch keine echte Kontroverse.

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