Politisierung der Kirche - Bye bye Transzendenz

Zu Weihnachten ist eine Debatte darüber entbrannt, wie politisch Predigten seien und seien dürften. Die zweifelhafte Nähe der Kirchen zur Politik war auch das Thema der Cicero-Titelgeschichte in der September-Ausgabe

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Vor allem die Flüchtlingskrise hat den Kirchen einen Aufschwung beschert / picture alliance
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Das Reich Gottes liegt in Hamburg-Bahrenfeld, an der A 7. Mitten auf dem Friedhof Holstenkamp an der Regerstraße, neben dem Areal mit Gartenabfällen und kaum größer als ein Pausenhof. Hier, zwischen Wohncontainern und einem Minispielplatz, arbeitet Diakon Nils Baudisch für die kirchliche Flüchtlingshilfe. „Flüchtlinge“ sagt er aber nicht, sondern „Geflüchtete“. Das sind die Afghanen, Syrer, Iraner und die vielen anderen, die in die Regerstraße kommen, um Deutsch zu lernen oder Kleider und gespendete Fahrräder abzuholen. In der Containerwerkstatt riecht es nach Gummi­kleber und Kettenöl. „Als Christ fühle ich mich angesprochen, den Geflüchteten zu helfen“, sagt Baudisch. „Wir arbeiten damit am Reich Gottes weiter.“

Aufschwung für die Kirchen

Vor allem die Flüchtlingskrise hat den Kirchen einen Aufschwung beschert. Plötzlich blühen ganze Gemeinden wieder auf. Und ihre Arbeit ist nicht nur dia­konisch. Die Kirchen politisieren sich immer mehr: Klimaschutz, Waffenhandel, Genderforschung – kein Thema, zu dem sie keine eigene Agenda verfolgen. „Wir verstehen unsere Arbeit auch als politisches Statement“, sagt Baudisch.

Langsam verwandelt sich das Reich Gottes in jenes Prinzip Hoffnung, das Ernst Bloch so fulminant entwarf. Bloch war von Marx und Hegel inspiriert, und er wollte die konkrete Utopie. Nicht den Himmel, sondern den Sozialismus. Den Unterschied sah er nicht so. Utopien sind immerhin nicht ungefährlich, sie passen den Menschen an sich an, biegen ihn zurecht. Das kann im Extremfall mörderisch werden.

Jesus war kein Totalitarismusforscher, aber vielleicht hat er diese Gefahr schon erkannt, als er sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Inzwischen sieht es so aus, als sei die feine Membran zwischen Himmel und Erde durchstoßen. Das Politische tränkt die religiösen Sphären, das Religiöse drängt ins Politische. Der Extremismusforscher Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin, hat dafür den Begriff „Käßmannisierung der Politik“ geprägt. „Die evangelische Kirche in Deutschland ist eindeutig dem linken Spektrum zuzuordnen“, sagt Schroeder. „Sie hat zudem keine Hemmungen, mit links außen zu kooperieren. Auch beim katholischen Kardinal Marx habe ich manchmal den Eindruck, der will die Partei, die sich ‚Die Linke‘ nennt, links überholen. Wenn das so weitergeht, machen die Kirchen sich überflüssig.“

Der coole Christ

Diakon Baudisch ist so ein Käßmann-Kind. Erst 28 und frisch von der Uni, trägt er seinen Bart, wie dieser wachsen will, und ein Hemd mit hellbraunen Karos. In seiner Freizeit geht er am liebsten ins Kino, „gern auch mal in schlechte Hollywood-Blockbuster“. Er verortet sich, wie Schroeder formuliert hat, „im linken Spektrum“. Baudisch ist der Inbegriff des coolen Christen, er frömmelt nicht, sondern wuselt, von der Kleiderkammer in die Fahrradwerkstatt, von seinem Containerbüro in die Kaffeeküche, vom Kunstzelt zum Deutschkurs. Zwischendurch gurkt er in seinem klapprigen Opel Rekord zum Gemeindehaus auf der Lutherhöhe, wo die Anwaltsberatung für Flüchtlinge stattfindet, dann kommt er wieder zurück und guckt, wie der Bau des Begegnungscafés vorangeht. Das sind zwei alte Lkw-Anhänger, die jetzt von den Flüchtlingen umgebaut wurden, damit sie sich, wie der Name schon sagt, darin begegnen konnten. Ihre Hammerschläge hallen über das Gelände. „Die Bibel gibt uns einige Hinweise darauf, wie wir handeln sollten“, sagt Baudisch. „Zum Beispiel bei Matthäus 25: Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“

Gegen Jesus ist wohl nichts einzuwenden. Gegen die Grenzöffnung durch die Kanzlerin vielleicht doch, und sie ist ja nicht Jesus. Obwohl: Immerhin haben ihr die Katholiken kürzlich den Eugen-Bolz-Preis verliehen, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, lobte Merkel in der Laudatio für ihre christliche Nächstenliebe. Er stilisiert die chaotische Grenzöffnung von 2015 zum Akt des Glaubens. Selbst Papst Franziskus dankt Deutschland für die Aufnahme von Flüchtlingen, und der Kölner Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki macht schon mal ein umgekipptes Flüchtlingsboot zum Altar. Er predigt aber nicht auf dem offenen Meer, sondern eher bequem vor dem Kölner Dom.

Grenzenloses Gutsein

Politik wird damit auf den Ausdruck eines grenzenlosen Gutseins reduziert. Umgekehrt wird die Verkündigung zur Apologie politischen Handelns. Dieses Handeln wird dadurch nicht richtiger. Wenn die EKD 100 000 Euro an die umstrittene NGO Seawatch spendet, die Flüchtlinge über das Mittelmeer holt, unterstützt sie damit auch die Schlepperkriminalität.

Dieser Prozess der Politisierung läuft nicht ohne Widerstand von Theologen beider großen christlichen Konfessionen ab. Der katholische Priester Hubert Windisch, emeritierter Pastoraltheologe der Universität Freiburg, nimmt sich viel Zeit, um seine Positionen zu erläutern. Windisch klingt gütig, seine Konsonanten setzen weich auf, aber inhaltlich wird er deutlich.

Wäre Jesus für Merkels Flüchtlingspolitik gewesen? „Theologisch nicht korrekt wird dort argumentiert und auch gehandelt, wo die Individualethik Jesu kurzschlüssig in die Sozialethik eines Staates übergeht. Um auf biblischem Fundament staatlich handeln zu können, braucht es einige Schritte im Zusammenhang von Glaube und Vernunft, den sowohl Papst Johannes Paul II. als auch Papst Benedikt XVI. immer wieder betont haben, dem aber der jetzige Papst nicht ganz gewachsen zu sein scheint.“

Kirchenleute sind politisch oft nicht unabhängig. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, ist Mitglied der SPD und erweckt den Eindruck, als wäre selbstverständlich auch Gott in der SPD. Glauben, behauptet Bedford-Strohm, sei politisch. Die Positionen der Kirche sieht er im Evangelium begründet: für die Menschenwürde, die Armen und Ausgeschlossenen, für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. An der Regerstraße in Hamburg kriegt man das alles unter einen Hut, sogar die Schöpfung. 

Stichwort Begegnung

Um die Ecke liegt der interkulturelle Luthergarten, „mit viel Platz für viele Menschen mit vielen Ideen“, wie die Homepage verrät. Es gibt einen „Bauwagen der Stille“, eine Kinderwildnis, Apfelbäume und jede Menge Brombeeren. Politik wächst auf den Bäumen: Zwischen den Zweigen wehen Spruchbänder, darauf steht „Steuergeld nur für Leben statt Kriege“ oder „Wir müssen Frieden lernen“. Nicht überraschend hat der Garten den Nachhaltigkeitspreis der Evangelischen Bank gewonnen, dotiert mit 10 000 Euro. „Unser Stichwort ist Begegnung“, sagt Baudisch. „Die Menschen sollen aufhören, Angst voreinander zu haben.“

Angesichts der islamistischen Terrorangriffe auf Deutsche und der rechtsradikalen Angriffe auf Flüchtlingsheime ist das ein optimistisches Vorhaben. Aber hier an der Regerstraße scheint irgendwie das Lamm beim Wolf zu wohnen. Fest steht, dass die Mitarbeiter gar nichts auf ihre Flüchtlinge kommen lassen. Sie grillen mit ihnen und besuchen sich gegenseitig. Ein Iraker ist Taufpate geworden. Gerade sitzen vier Mitarbeiterinnen vor der Kleiderkammer unterm Sonnenschirm, rauchen und trinken Cola. Ob ihre Arbeit christlich sei? „Das Wort ‚Gott‘ fällt eher dann, wenn einem ein Kleiderkarton auf den Kopf kracht“, sagt die Kleiderkammerchefin Bettina Buhr im hellsten Hamburgisch. „Es gibt schon mal eine Andacht bei der Dienstbesprechung, aber wir beten hier eigentlich nicht.“

Gerade das findet der evangelische Theologe Sebastian Moll bedenklich. Moll schreibt schlagfertige Bücher über das Christentum und eckt gelegentlich damit an. „Viel schwerer als die Verquickung der Politik mit dem Religiösen wiegt der Verlust der Transzendenz“, sagt er. „Es ist nicht so, dass die Leute sich nicht mehr danach sehnen. Aber sie erfahren in den Kirchen immer weniger darüber.“

Helferinnen in der Not

Bettina Buhr ist ja schon sehr weltlich, eine Bärin von einer Frau, Muscleshirt, blondierter Pferdeschwanz. Zwischen den Ranken-Tattoos auf den kräftigen Oberarmen versteckt sich ein Teufel. Früher hat sie in einer Kneipe, der „Schnulze“, gearbeitet: „Wenn da zwei aufeinander los sind, bin ich über den Tresen gesprungen! Ich kann Streit überhaupt nicht ab!“

Die Frauen unter dem Sonnenschirm sind alle Riesenfans von Angela Merkel. Deren Grenzöffnung vom September 2015 finden sie großartig. Sie sind wie verliebt in ihre Flüchtlinge. Nicht in Einzelpersonen, eher in das Gesamtphänomen. Sie sehen weniger den Strom der Einwanderer als eine Welle der Dankbarkeit, die warm auf sie, die Helferinnen, zurauscht. Sie wollen wohl nicht, dass das je wieder aufhört. Skepsis ist tabu. Terrorattentate? „Böse Menschen gibt es überall.“ Radikalisierung? „Passiert nicht, wenn man miteinander redet.“ Die Kölner Silvesternacht? „Nur weil die Täter schwarze Haare hatten, waren das noch längst keine Flüchtlinge.“ Man kann das ziemlich einfältig finden. Aber wer sich vorstellt, einmal selbst in Not zu geraten, will genau auf diese Leute treffen. Vor allem auf die starke Bettina Buhr aus der Schnulze, die jetzt beherzt ihre Kippe ausdrückt. 

Finanziert wird die Flüchtlingshilfe der Lutherkirche seit 2016 zu zwei Dritteln von der Hamburger Innenbehörde, mit 37 000 Euro pro Quartal. Der Rest kommt vom Bezirk Altona, von der Nordkirche und verschiedenen Stiftungen. Vom Staat ausgestattet, bieten solche Kirchen die religiöse Legitimation für den politisch initiierten Prozess der Masseneinwanderung. Und die katholische Kirche mischt sich auch ein. Kardinal Marx mahnt schon mal die CSU ab, wenn die sich, wie er meint, nicht angemessen äußert.

Staat und Kirche sind voneinander abhängig

Die verfassungsrechtlich vorgesehene Trennung von Staat und Kirche ist jedenfalls vom Tisch. Beide sind jetzt abhängig voneinander. Der Staat fordert die Hilfe der Kirche, und die Arbeitsplätze an der Regerstraße sind an die Existenz der Erstaufnahmestelle gebunden, tatsächlich also an die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Ob die Motive der Kirche monetär oder moralisch sind, ist jetzt irrelevant. Vielleicht kommt das Geld zur Moral, aber vielleicht geht die Moral auch da hin, wo das Geld sich findet.

Diakon Baudisch muss sich um seine berufliche Zukunft keine Sorgen machen. Wenn die Erstaufnahme in der Schnackenburgallee geschlossen wird, bleiben ihm, wie er sagt, genügend andere Projekte. Zum Beispiel jenes Begegnungscafé in den beiden alten Lkw-Anhängern, an denen so fleißig herumgehämmert wird. Tatsächlich lässt sich der Diakon von den Flüchtlingen seinen nächsten Arbeitsplatz zimmern. Natürlich ist Baudisch ein netter Kerl, augenscheinlich auch ein guter Mensch. Aber er sägt an der Unabhängigkeit seiner Kirche.

Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass Christen, die Gutes tun, oft genug Aggressionen wecken. Demut zeigt sich ja eher in Gesten, die keine Antwort verlangen. Aber Demut verträgt sich nicht mit Politik. Politik braucht Reaktionen, ohne die kann sie nichts entwickeln. Insofern sind politische Christen darauf angewiesen, dass man ihr Gutsein fantastisch findet. Beim Kirchenasyl fällt das besonders auf.

Die Pastorin Ute Gniewoß lädt in der evangelischen Kirche Heilig Kreuz-Passion in Berlin-Kreuzberg zum Kaffee. Gniewoß ist 60 Jahre alt, blondierter Pony, Sportsandalen und leuchtend, geradezu stechend blaue Augen. „Für das Kirchenasyl braucht es Menschen mit Zeit und Liebe“, sagt sie mit leiser, behutsamer Stimme. Der Unterton ist aber imperial.

Strafverfahren gegen Pfarrer

Pastorin Gniewoß hat eine ehrenamtliche Mitarbeiterin und einen ihrer Schützlinge, Frau X, mitgebracht. Frau X kommt aus Afghanistan, ihr droht die Abschiebung nach Ungarn. Wenn sie Glück hat, darf sie nach erneuter Prüfung ihren Asylantrag in Deutschland stellen und hierbleiben. Wenn sie Pech hat, wird sie abgeholt. Darum wird nicht gesagt, in welchen Räumen der Kirche Frau X derzeit wohnt. Berlin ist zwar noch tolerant, aber in Bayern laufen Strafverfahren gegen Pfarrer, die Kirchenasyl anbieten. „Wir sind lieber vorsichtig“, sagt Gniewoß.

Die Ehrenamtliche, die mit dabeisitzt, heißt Marita Leßny, 63, kurzhaarig, mit einem Mund, der von selber lächelt. Sie hat sieben erwachsene Kinder. Im Gemeindeblatt wird sie als „Die große Mutter“ vorgestellt. Sie hat in den letzten zweieinhalb Monaten 31 Termine beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten begleitet, Wartezeit: mindestens vier Stunden, eher sechs. Sie nennt die Flüchtlinge „meine Jungs“. Ohne Begleitung würden sie oft weggeschickt, erklärt sie. „Jeder braucht mal ein bisschen Familie. Und ich kann das bieten. Wenn jeder mit den Flüchtlingen so umgehen würde wie ich, gäbe es viel weniger Probleme. Ich glaube nicht, dass ein Anis Amri solche Kontakte hatte.“

Die eigentliche Hauptperson an diesem Vormittag, Frau X, sagt fast nichts. Sie ist Muslimin, trägt kein Kopftuch und hat die dunklen Augen noch dunkler geschminkt. Die 36-Jährige wirkt gedämpft. Ohne Tabletten kann sie nicht schlafen, und sie lässt die ganze Nacht das Licht an. Sie ist allein und weiß nicht, wie das geht, als Frau allein zu sein. Vermutlich ist sie auch psychisch erkrankt, ein Gutachter hat das bestätigt. In ihrem Heimatland würde sie zugrunde gehen, in Ungarn vermutlich auch. Pastorin Gniewoß rettet ihr wohl das Leben. Das ist schon großartig. 

Das ermattete Christentum

Die Pastorin weiß das sehr wohl. Das Interview hat sie voll im Griff, sie sagt den anderen, was sie erzählen sollen, und korrigiert Frau X, sobald die was sagt. Dabei macht Frau X einen mündigen Eindruck. Sie hat schnell Deutsch gelernt und ist Lehrerin, immerhin für Mathe und Physik. Natürlich ist es verantwortungsvoll, dass Pastorin Gniewoß ihren Schützling vor der Presse und dem Bamf behütet. Genau das demonstriert sie ja auch. Frau X wird zum Präsentationsobjekt.

Wenn Pastorin Gniewoß von den „erfrischenden Sichtweisen“ der Flüchtlinge schwärmt, ihrer „Herzlichkeit, Direktheit und Weisheit“, dann klingt das, als sei es deren ontologische Funktion, uns alle ekstatisch zu erlösen, von unserer eigenen blöden Kultur. Und dem Christentum irgendeinen Sinn zurückzugeben.

Das Christentum ist wohl ermattet, die Hingabe eines Franz Xaver oder Philipp Melanchthon verweht. Als Landesbischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx im vergangenen Herbst den Tempelberg in Jerusalem bestiegen, mit Lutherrock und Kardinalsgewand, legten sie ihre Kreuze ab. Sie wollten niemanden provozieren. Er habe keine Zwietracht säen wollen, erklärte Bedford-Strohm danach. Konsequenterweise hätte er zu Hause bleiben müssen. Aber er machte vor, wie das geht, ein bisschen Christ zu sein. Das Glaubensmodell der Zukunft offenbar.

Dabei ist es ja gar nicht so, dass Jesus als schlaffer Hippie durch die Gegend zog. Er hat auch Sachen gesagt wie: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.“ Wenn die Kirchen heute politisch sind, dann nicht, indem sie wie Jesus das Andere, auch mal Empörende wagen. Sie unterwerfen sich dem unreflektierten Mainstream.

Trend aus der Bibel ein Parteiprogramm zu extrahieren

Der evangelische Theologe Ulrich Parzany hat dazu gerade ein Buch geschrieben, „Was nun, Kirche?“ Parzany ist Leiter der Projektarbeit von ProChrist. In seinem Buch beklagt er, dass vor allem die EKD ihre Basis, das Wort Gottes, verliert. Er steht gerade im Nordseewatt, als er durchs Handy erklärt: „Die Kirchen haben sich schon immer politisch engagiert. Geändert hat sich, dass die evangelischen Kirchen sich in letzter Zeit überwiegend einseitig grün-rot positionieren. Peinlich ist, dass keine 4 Prozent ihrer Mitglieder an ihren Gottesdiensten teilnehmen. Die Kirchen erreichen mit der Verkündigung des Evangeliums die meisten ihrer eigenen Mitglieder nicht, wollen aber in der Öffentlichkeit politisch das große Wort führen.“

Der Trend, aus der Bibel ein Parteiprogramm zu extrahieren, erfasst auch die Katholiken. Die internationale katholische Friedensorganisation Pax Christi entstand zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Versöhnungsbewegung. Damals reichten französische Christen den deutschen die Hand. Inzwischen arbeitet Pax Christi gezielt mit linken Politikern zusammen, zum Beispiel mit Jan van Aken, der für die Linkspartei im Bundestag sitzt. Mit ihm betreibt Pax Christi einen engen Informationsaustausch über Rüstungsexporte. Es gibt gemeinsame Veranstaltungen. Pax Christi ist an die Strukturen der römisch-katholischen Kirche gebunden. Die deutsche Sektion teilt sich in 22 Diözesanverbände, den Präsidenten beruft die Bischofskonferenz.

Alle Konflikte der Welt zivil lösen

Eine dieser Gruppen trifft sich seit 14 Jahren zum Friedensgebet in Osnabrück, jede Woche. An diesem verregneten Samstagvormittag ist in der Stadt nichts los. Die Hase fließt träge unter mittelalterlichen Brücken, von den Spiegelbildern der Kastanien durchwirkt. Musiker des Straßenmusikfestivals singen vor sich hin. Zur Andacht kommen etwa 30 Leute. Die meisten sind über 50, kennen sich schon lange. Ein paar plaudern über Waffelrezepte, bevor es losgeht. 

Die Andacht hält diesmal eine Lehrerin. Sie erzählt von ihrem Urlaub auf Rügen und leitet dann irgendwie über zum Atombombenangriff auf Hiroshima und Nagasaki, der sich in diesem Jahr zum 72. Mal jährt. Ihre Stimme zittert. Pax Christi ist gegen Atombomben, gegen alle Waffen, überhaupt gegen Krieg. Die NGO will alle Konflikte der Welt zivil lösen. Sie arbeitet mit verschiedenen Friedensforschungsinstituten zusammen. Zum Abschluss der Andacht beten alle das Vaterunser, händehaltend. Danach laden einige Mitglieder zum Gespräch in ihr Büro, das nach Neubau und frisch gedruckten Broschüren riecht. Am hellen Kieferntisch erklären sie, warum sie das hier machen.

 

„Jesus selbst war auch politisch und ein Friedensstifter“, sagt Monika Becker, Pastoralreferentin im Ruhestand. „Mein christlicher Glaube ist eine Zusatzmotivation“, stellt die Schulsozialarbeiterin Silvia Westendorf klar, „ich könnte auch bei Attac oder den Grünen aktiv sein.“ „Aber ich fühle mich bei allem auch von Gott getragen“, ergänzt die Journalistin Ruth Beerbom. Die Leute am Tisch sind gebildet, politisch informiert, argumentativ geschult. Sie wirken ziemlich tough. Von moralischer Rührseligkeit keine Spur. Eher traut man ihnen zu, dass sie sich an eine Atombombe ketten, als dass sie irgendwo Kerzen schwenken. Vielleicht sieht die Gruppe das nicht so, aber offenbar übersetzt Pax Christi Transzendenz in ein Politparadies. Und wie bei jeder Übersetzung kommt es dabei zu Bedeutungsveränderungen, gegebenenfalls Entstellungen. Man kann ja die Transzendenz nicht fragen, ob man sie richtig kapiert hat.

Vielleicht ist alles ein Missverständnis. Die Kirchen wollen keine verknatterten Konservativen sein, sondern mindestens so hip wie alle anderen. Man hört das oft in den Gottesdiensten, wenn der Chor mal was Poppiges schmettert. Die neuen christlichen Mutmachlieder sind immer in Dur, und sie klingen wie aus dem Berliner Grips-Theater. Dabei ist das Gegenteil von Modernität in diesem Fall nicht das Konservative, sondern die Vergegenwärtigung des Ewigen. Nur: Damit können viele Christen nichts mehr anfangen. Sie haben jetzt neue Götter, die wie damals bei den Griechen die Welt besiedeln – den Gender-Gott, den Anti­rassismus-Gott, den Klima-Gott. Ihre CO2-Gesamtbilanz kennen die Kirchen inzwischen wohl besser als das Evangelium. Denn auch die Bewahrung der Umwelt ist längst zum aktiven Programmpunkt geworden. Vor dem G-20-Gipfel haben Landesbischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx die Gipfelteilnehmer angemahnt, sich ans Pariser Klimaabkommen zu halten.

Beide Kirchen erzielten 2016 einen Einnahmerekord

Jede evangelische Landeskirche und fast jede katholische Diözese hat einen Umweltbeauftragten. In seiner zweiten Enzyklika „Laudato Si“ ruft Papst Franziskus den Umweltschutz als gar heilige Pflicht aus. Die EKD indes betreibt ein eigenes Projektbüro Klimaschutz, um die „Schöpfungsverantwortung“ wahrzunehmen, was hier konkret bedeutet: um För­dergelder der Nationalen Klimaschutzinitiative des Bundesumweltministeriums aufzutreiben. Für die Jahre 2017 und 2018 wurden rund zwei Millionen Euro für insgesamt 55 Vorhaben von Religionsgemeinschaften und religionsgemeinschaftlichen Trägern bereitgestellt, 27 davon evangelisch, 28 katholisch.

Die Kirchen sind auf dieses Geld eigentlich nicht angewiesen. Beide Kirchen haben 2016 einen Einnahmerekord erzielt und zusammen fast 11,6 Milliarden Euro Kirchensteuer eingefahren. Weil die Kirchensteuer an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und das derzeit allgemein steigende Steueraufkommen gebunden ist, fällt der Mitgliederschwund finanziell nicht auf. Der EKD sind letztes Jahr 350 000 Mitglieder weggelaufen, der katholischen Kirche 180 000. 

Inzwischen sieht man immer mehr Gemeindehäuser mit Solaranlagen auf den Dächern. So auch im Berliner Bezirk Lichtenrade. Mit dafür verantwortlich sind hier die 15 Mitglieder der ökumenischen Umweltgruppe. Drei von ihnen, eine katholisch, zwei evangelisch, treffen sich an einem schwülen Augustabend zu Weizenbier und Apfelschorle beim Italiener. Sie ignorieren den Mückenschwarm, der es auf sie abgesehen hat, und erzählen. Von den Fahrrad-Pilgerfahrten, die sie jährlich unternehmen.

Von der Klimaresolution, die sie verfasst haben. Vom gut besuchten Themenfrühstück, das sie regelmäßig veranstalten, mitten auf der Bahnhofstraße. Und von der alten Mälzerei. Das historische Gebäude steht seit Jahrzehnten leer, fast wäre hier ein Einkaufszentrum entstanden. Aber nachdem die Gruppe, zusammen mit dem Bürgerforum, die Grünen mit ins Boot geholt hatte, fand sich ein ökologisch motivierter Investor.

Spirituelles Leben und bürgerschaftliches Engagement

„Wir sind aber parteipolitisch ungebunden“, erklärt Georg Wagener-Lohse. Er will „spirituelles Leben mit bürgerschaftlichem Engagement verbinden“. Der promovierte Ingenieur sieht genau so aus, wie man sich einen Naturschützer vorstellt: freundliche Augen, ein wilder Bart.

„Es ist natürlich lästig für die Politik, wenn wir uns einmischen“, sagt die Gymnasiallehrerin Gisela Theisen-Grams. „Aber das ist doch die Aufgabe der Kirche.“ Als junge Frau wurde ihr das katholische Elternhaus in Bonn zu eng, sie zog nach Berlin und ging in der Anti-AKW-Bewegung auf. Sie singt im Gospelchor und trägt eine schicke Silberkette.

Die Dritte im Bund heißt Margrit Schmidt, große Augen, rote Haare. Die Logopädin fühlt sich noch immer friedensbewegt. „Das Seelenheil und das Heil der Welt lassen sich nicht trennen.“ Unbedingt will sie dem Papst mal schreiben und ihm für „Laudato Si“ danken, wenn sie rauskriegt, „wie man so etwas adressiert“. Papst Franziskus ist ihr Vorbild – er und Petra Kelly.

Irgendwie erinnern die drei an die Lehrer von früher, die ihren Klassen „Die letzten Kinder von Schewenborn“ vorlasen. Sie wirken bei aller Tatkraft ein wenig fragil, als würden sie durch ein letztes schmales Fenster aus der Vergangenheit in die Gegenwart schauen und auf irgendwas zeigen, das keiner mehr kennt.

Politikfreie christliche Enklaven

Es scheint, als befreie sich das neue Christentum von seinem ursprünglichen Referenzsystem. Nicht, dass die Heilige Schrift keine Verwendung mehr fände. Aber die Bibel ist jetzt eher eine Hausapotheke für den politischen Alltagsgebrauch. Es spitzt sich auf einen Machtkampf zu – mit Gott. Als hätten sich die Christen von ihrem alten Herrn lange genug die Meinung geigen lassen. Vor allem die „Ehe für alle“ wirft die Frage auf, ob die Bibel noch à jour ist. Der Kampf innerhalb der Kirchen zu diesem Thema ist nicht ausgestanden, aber Bedford-Strohm wünscht sich auf Facebook schon mal „ein neues Bewusstsein“.

Unterdessen bilden sich in Deutschland politikfreie christliche Enklaven. Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, SELK, gegründet 1972, lässt sich als Gegenentwurf zur EKD verstehen. Sie hat den Anspruch, allein die Heilige Schrift zum Maßstab ihrer Entscheidungen zu machen. Die Pfarrer hier dürfen politisch nicht aktiv sein. Sie sollen den Gemeindemitgliedern unvoreingenommen begegnen können. Kirchensteuer gibt es keine, dafür Beiträge.

Auf einem Gottesdienst der SELK passiert am neunten Sonntag nach Trinitatis etwas Merkwürdiges. Der Pfarrer der Kirche St. Marien in Berlin-Zehlendorf, Markus Büttner, erwähnt in der Predigt tatsächlich das Jenseits. Das ist schon ein Schock, eigentlich eine Unhöflichkeit. „Worauf baust du im Leben und im Sterben?“, fragt Büttner, „wenn es hart auf hart kommt. Wenn die Schrecken des Todes, der Gewalt, des Hasses um sich greifen?“

In der Welt und zugleich nicht von der Welt

Pfarrer Büttner hat ein fröhliches Gesicht. Er wirkt geruhsam, aber beim Predigen unterstützt er seine Worte mit lebhaften Gesten, sein Körper will mitreden. Alle haben sich heute schön gemacht, die Männer sitzen in Anzügen da, die Frauen in Kleidern oder Kostümen, ein kleines Mädchen hat eine Rosenspange im Haar. Auf einmal fallen hier Worte wie „Sünde“, „Schuld“, „Vergebung“. Antiquiert wirkt das nicht, eher ungewohnt – das könnte einen ja selbst betreffen, nicht nur Schwulenfeinde, Waffenexporteure und Umweltsünder. Zum Glück vergibt Pfarrer Büttner allen, indem er ihnen die Hand auf den Kopf legt, jedem Einzelnen.

Ob das die Lösung ist – schwer zu sagen. Die Christen müssen ja beides sein: in der Welt und zugleich nicht von der Welt, wie es bei Johannes 17 heißt. In seiner Freiburger Rede beschrieb Papst Benedikt XVI. im September 2011 genau diese Dialektik als Kompass christlichen Handelns: Erst in der Entweltlichung finde das Christentum ein neues Offensein für die Anliegen der Welt. Im Augenblick scheint das nicht zu gelingen.

Nach der Predigt grillen alle im Garten hinter der Kirche. Pfarrer Büttner verzichtet auf sein Mittagessen und erklärt – schwarzes Kollarhemd, weißer Gartenstuhl –, dass selbst manche Christen nicht mehr so recht an die Ewigkeit glauben. „In Predigten kriegt man oft zu hören: Trennt den Müll und seid nett zueinander. Und das ist als Quintessenz deutlich zu wenig. Manchmal, wenn ich in evangelischen Gottesdiensten bin, habe ich den Eindruck, die kriegen eine Bonuszahlung, wenn sie das Wort ‚Jesus‘ nicht erwähnen.“

Sie retten die ganze Welt

Drüben stehen sie in kleinen Gruppen, reden über die Apostelbriefe und essen Nudelsalat. Die Kinder laufen durchs hohe Gras. Eine Frau winkt Büttner energisch aus dem Interview weg. Er, der sich einfach nur wünscht, dass seine Gemeindemitglieder ewig selig werden, soll jetzt endlich was essen.

Die Straßen in Zehlendorf sind leer. Die Kirche St. Marien bleibt verschlossen, fast dunkel, zwischen den Villen zurück. Plötzlich kommt der Gedanke, dass die freundliche Gartengesellschaft vielleicht nicht ganz real war, nur ein flüchtiger Gruß, der von woanders kam. Und dass dieses Woanders ganz langsam seine Pforten schließt. Die Christen sind müde geworden, sie haben vergessen, wer sie sind. Sie retten keine Seelen mehr, nur noch die ganze Welt. Das ist immerhin etwas. Bye bye, Transzendenz. 

 

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