Politische Rhetorik - Populistisch sind immer die Anderen

Um aus ihrer Sicht unangenehme Meinungen zu bekämpfen, bedienen sich gerade die etablierten Parteien zentraler Instrumente des Populismus, obwohl sie genau dies beim politischen Gegner scharf verurteilen. Das schadet der Demokratie

Grünen-Plakat gegen Populismus: eingeübtes Ritual der politischen Korrektheit / picture alliance
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Autoreninfo

Prof. Dr. Martin Wagener unterrichtet Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin.

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Der Westen scheint ein Problem zu haben: den Populismus. In der Wahrnehmung führender deutscher Politiker und zahlreicher Medienvertreter hat sich dieses Phänomen in den vergangenen Jahren in geradezu epidemischer Form ausgebreitet. Zu nennen sind die Wahlerfolge der AfD, der beschlossene Austritt Großbritanniens aus der EU oder die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten. Politische Vereinfacher rütteln nach dieser Erzähung an den Grundfesten des Westens, seinen Werten.

Tatsächlich ist es jedoch gar nicht der Populismus, der als scheinbar neues Phänomen Deutschland und den Westen bedroht. In vielen Gesellschaften Europas wie auch in jener der USA sind die Bürger mit der politischen Klasse schlicht unzufrieden. Sie protestieren gegen eingeübte Rituale, zu denen ausgeprägte Formen der politischen Korrektheit gehören. Diese bilden eine Art Zement, der politische Kulturen zusammenhalten soll und der vom jeweiligen Diskurshegemon – den politisch-medialen Deutungseliten – unter einen besonderen Schutz gestellt wird. Konkret bedeutet „Schutz“, abweichende Positionierungen weniger zu Wort kommen zu lassen beziehungsweise sie gleich ganz inhaltlich zu diskreditieren. So werden sie im Diskurs marginalisiert, was zur Festigung der etablierten politischen Kultur beiträgt.

Als Populisten gebrandmarkt

Ein vermeintlicher Populismus wird – je nach Standpunkt – vor allem bei der Betrachtung der folgenden Themen entdeckt: dem Streit um die Funktionsfähigkeit multikultureller Gesellschaften, der Integrierbarkeit des Islam in westliche Demokratien, der Bedeutung des Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung sowie der Zukunft des Euros und der EU. Bemerkenswert ist, dass im derzeitigen Diskussionsklima Menschen, die bei diesen Themen eine vom Mainstream abweichende Positionierung einnehmen, sogleich als Populisten, wenn nicht auch als AfD-Anhänger oder gar Verfassungsfeinde gebrandmarkt werden. Eine offene demokratische Auseinandersetzung sieht sicherlich anders aus.

Wie unsinnig die Zuschreibung „Populismus“ zur Erklärung eines besonderen Politikstils ist, zeigt die Definition des Begriffs. Im Duden heißt es dazu: „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen.“ Dieses Mittels bedienen sich aber sämtliche Parteien, die regieren, Opposition betreiben oder Wahlkämpfe zu bestreiten haben.

Auch die Bundesregierung agiert populistisch

Während der Flüchtlingskrise 2015 ließ etwa die Bundesregierung verkünden, dass die Migranten in ihrer großen Mehrheit eine Bereicherung für Deutschland seien. Dies war zweifellos eine populistische Verkürzung der Problematik, um das eigene Handeln zu legitimieren. Alle Zahlen sprechen gegen die damalige Einschätzung. Die Kriminalitätsstatistik des Bundes weist bei der Kategorie „Zuwanderer“ für 2016 insgesamt 174.438 Tatverdächtige auf. Dies ist im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um 52,7 Prozent. Die asylbedingten Leistungen des Bundes lagen im vergangenen Jahr bei geschätzten 14,5 Milliarden Euro, für 2017 sind 14,1 Milliarden Euro im Bundeshaushalt eingeplant (jeweils ohne Ausgaben zur Fluchtursachenbekämpfung).

Am 19. Mai 2010 erklärte Angela Merkel im Bundestag: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Auch dieser Satz und die mit ihm verbundene Botschaft waren populistisch. Die Regierung stellte dem Bürger die eigene Politik als alternativlos dar. Merkel wollte nicht als jene deutsche Regierungschefin dastehen, die als erste zu einer Verkleinerung der Euro-Gruppe beigetragen hat. Daher wurde die Bedeutung Griechenlands für das europäische Projekt dramatisiert, obwohl die Wirtschaftskraft des Landes bei etwas weniger als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU lag. Ein Ausschluss dieses Akteurs aus der Euro-Gruppe hätte weder die Währung und schon gar nicht den Kontinent scheitern lassen.

Etablierte Parteien verteidigen Status quo

Zum Mittel des Populismus greift also nicht nur Frauke Petry, sondern auch Angela Merkel.  Warum halten dann Vertreter der Medien und der Politik an der Aussage fest, in Deutschland, Europa und der Welt sei der Populismus auf dem Vormarsch? Die Antwort ist einfach: Es geht darum, existierende politische Mehrheiten, die grundsätzlich auf der geistig-ideologischen Linie der politisch-medialen Elite liegen, zu erhalten. Zur Verteidigung steht ein etabliertes Gesellschaftsmodell. Dabei wird ausgeblendet, dass in Deutschland auf der Grundlage des Grundgesetzes eine große Bandbreite von politischen Kulturen und gesellschaftlichen Formationen möglich ist. Es gibt mehrere Wege, Frieden, Freiheit und Wohlstand abzusichern.

Dem Wahlvolk wird dagegen etwas ganz Anderes suggeriert. Demnach gibt es nur einen Weg, das Niveau des Status quo zu erhalten – den der etablierten Parteien. Um den Glauben an diese Kernbotschaft zu festigen, wird zu den zentralen Instrumenten des Populismus gegriffen. Dazu gehören die inhaltliche Verkürzung und die Erzeugung von Angst durch Dramatisierung. Vor allem wird das demokratische Spektrum verkürzt, indem zwischen legitimen und illegitimen Parteien unterschieden wird. Letztere seien es, die einseitig unsachlich – populistisch! – agierten und den Status quo gefährden würden. Der Populismus-Vorwurf kann somit auch als Herrschaftsinstrument der etablierten Parteien eingeordnet werden.

AfD macht es Kritikern einfach

Die AfD macht es ihren Gegnern in der derzeitigen Auseinandersetzung allerdings auch recht einfach. Die erst 2013 formierte Partei befindet sich nach wie vor in der Gründungsphase, von einer Konsolidierung ist sie weit entfernt. Derzeit zieht sie reihenweise Hasardeure an, denen es nicht um den Aufbau einer sachlich orientierten, konservativen Partei geht. Sie streben nach Karrieren unter dem Schild der AfD und sind selbst kaum gesellschaftlich satisfaktionsfähig. Dies führt zur Schwächung der Gruppierung, weil Politclowns nicht integrierbar sind und damit innerparteilich spalterisch wirken.

Die etablierten Parteien verfügen über einen weiteren, ganz natürlichen Vorteil, der aus der Dauer ihrer Existenz rührt. Im Gegensatz zur AfD haben sich CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP in den vergangenen Jahrzehnten nachweislich in Regierungsverantwortung um das Land verdient gemacht und zur Festigung der Demokratie beigetragen. Dadurch haben diese Parteien beim Wähler langfristig bindendes Vertrauen aufgebaut, das auch in Krisenzeiten nachwirkt. Die Große Koalition hat gegenwärtig bei der Sonntagsfrage stabile Zustimmungswerte von mehr als 60 Prozent, während sich die AfD bei etwa 7 bis 9 Prozent bewegt.

Doppelte Standards

Das so geschaffene Vertrauen hat zu einer Entkopplung zweier Entwicklungen beigetragen. Spitzenpolitiker der CDU, der CSU oder der SPD können sich persönliche Fehltritte erlauben oder sachliche Fehlentscheidungen immensen Ausmaßes treffen. Der Bürger ist dennoch bereit, es ihnen immer wieder zu verzeihen. Die Wahlentscheidung erfolgt zu großen Teilen unabhängig von der Leistungsbilanz der Regierung, eine klare Status-quo-Neigung der Mehrheit der Wähler ist dabei unübersehbar. Im Falle der AfD ist es genau umgekehrt. Fehltritte ihrer Politiker werden wesentlich stärker auf den Charakter der Partei übertragen und bei der nächsten Wahlentscheidung abgestraft. Eine Entkopplung hat nicht stattgefunden.

Ergebnis ist ein klarer doppelter Bewertungsmaßstab. Die Äußerungen Alexander Gaulands zu Jérôme Boateng, Frauke Petrys zum Schießbefehl an der Grenze oder Björn Höckes zur Geschichtspolitik sind breit diskutiert worden, und sie haben das Bild der AfD in der gesellschaftlichen Wahrnehmung geprägt. Dazu tragen auch Teile der Medien bei, indem sie markante verbale Fehltritte regelmäßig wiederholen. Beim etablierten Spitzenpersonal ist die Berichterstattung gnädiger, aus Entgleisungen werden gerade keine Schlussfolgerungen gezogen, die das Wesen der Person oder der Partei betreffen.

Und dies, obwohl es zahlreiche Beispiele gibt, die auch die Satisfaktionsfähigkeit von Vertretern der Großen Koalition in Frage stellen. Es seien an dieser Stelle nur einige besonders auffällige Vorfälle genannt.

Beispiele von Populismus überall zu finden 

Im August 2015 bezeichnete der damalige SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel rechtradikale Randalierer als „Pack“ und bediente sich dabei der Sprache der Dehumanisierung des Individuums. Im August 2016 zeigte er dieser Klientel wenig staatsmännisch den Mittelfinger. Gabriel beteiligte sich somit an einer Verrohung der Umgangsformen, die er selbst bei bestimmten Bevölkerungsgruppen beklagt.

Ralf Stegner, Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein, war am 8. Mai 2016 auf Twitter noch einen Schritt weiter gegangen: „Fakt bleibt, man muss Positionen und Personal der Rechtspopulisten attackieren, weil sie gestrig, intolerant, rechtsaußen und gefährlich sind!“ Gefährlich sind allerdings auch solche Aufrufe, die zu Attacken gegen Mitglieder der AfD ermuntern und die von radikalisierten Personen nur allzu wörtlich genommen werden können. Stegner wird so fast zum Höcke der SPD, wenngleich er wegen des doppelten Bewertungsmaßstabs kaum mit Gegenwind zu rechnen hat.

Auch Justizminister Heiko Maas hält sich trotz mehrerer Fehltritte im Amt. Im August 2016 lobte er das angeblich antifaschistische Engagement der Musikband „Feine Sahne Fischfilet“, die nicht nur für Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung eintritt, sondern auch in mehreren Verfassungsschutzberichten des Landes Mecklenburg-Vorpommern Erwähnung findet. Gedankenlos war sein Besuch in der Berliner Sehitlik-Moschee im Januar 2015. Maas wollte ein Zeichen der Solidarität mit den Muslimen in Deutschland setzen, um antimuslimischen Diskussionen nach dem Pariser Anschlag gegen die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo vorzubeugen. Dabei ignorierte er, dass sich auf dem Friedhof der Sehitlik-Moschee bis heute nicht nur die Gräber von Cemal Azmi und Bahattin Sakir befinden. Sie gehörten zu den Drahtziehern des Völkermordes an den Armeniern von 1915. Auf der Internetseite der Sehitlik-Moschee werden beide Personen auch namentlich erwähnt und wie folgt eingeordnet: „Auf dem Friedhof befinden sich viele wichtige und bekannte Persönlichkeiten.“

Parolen von Grünen und Linken

Wer darüber hinaus verfassungsfeindliche Äußerungen sucht, wird bei den etablierten Oppositionsparteien umfassend fündig. Die Grüne Jugend forderte zum Tag der deutschen Einheit 2015: „Am 3. Oktober wurde ein Land aufgelöst und viele freuen sich 25 Jahre danach. Warum sollte das nicht noch einmal mit Deutschland gelingen?“ Nicht weniger problematisch ist das Verhalten von Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, in dieser Frage. Ende November 2015 marschierte sie auf einer Demonstration gegen die AfD mit. Dass dort „Deutschland verrecke“ und „Deutschland, Du mieses Stück Scheiße“ skandiert wurde, hat sie nicht davon abgehalten, der Veranstaltung durch Anwesenheit ihren Segen zu geben.

Die Linkspartei ist sogar ganz offen bereit, mit Verfassungsfeinden zusammenzuarbeiten. Die Kommunistische Plattform (KPF) wird weiter über die Internetseite der SED-Nachfolger beworben, obwohl im Verfassungsschutzbericht des Bundes von 2016 festgestellt wird: „Ziel der KPF ist die Überwindung des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung und der Aufbau einer kom­munistischen Gesellschaft.“ Das einstige Gesicht dieser Gruppierung, Sahra Wagenknecht, ist etablierte Kraft der deutschen Talk-Show-Landschaft.

Kaum Unterschiede zu Vertretern der AfD

Was zeigen diese Entgleisungen von Spitzenpolitikern der etablierten Parteien? Zwischen ihnen und vielen Vertretern der AfD gibt es im Stil und der Bereitschaft, im Kampf mit dem politischen Gegner inhaltlich zuzuspitzen, kaum Unterschiede. Der Populismus ist auf allen Seiten breit vertreten. Die Meinungsführer der etablierten Parteien werden sich auf diese Sichtweise natürlich nicht einlassen können, weil zur Verteidigung der eigenen Position alle Mittel recht sind. Ganz vorne steht dabei der Wille, die Inhalte des Gegners politisch und gesellschaftlich zu delegitimieren.

Opfer dieser Form der Auseinandersetzung in Deutschland ist die Demokratie. Denn dem Diskurshegemon geht es nicht nur darum, den Aufstieg einer neuen Partei zu verhindern. Er strebt auch danach, das eigene Lager durch eine einseitige Erörterung kritischer Themen zu festigen. Dafür sind in der Bundesrepublik jene angeblich liberalen Kräfte maßgeblich verantwortlich, die Toleranz predigen, selbst aber nur Meinungen innerhalb des eigenen Echoraumes ertragen. Wenn dem Freiheitsindex des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung 2016 zu entnehmen ist, dass nur 57 Prozent der Deutschen der Meinung sind, im eigenen Land frei reden zu können und sogar 28 Prozent Angst haben, ihre Meinung offen zu bekunden, dann muss es dafür Gründe geben.

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