Politische Rhetorik - Mach mit oder mach dich vom Acker

Kisslers Konter: Die großen Begriffe boomen. Haltung, Mut, Weltoffenheit werden tagtäglich gefordert, jetzt hat sich dafür sogar eine „Allianz“ gegründet. Doch Tugenden kehren sich ins Gegenteil, begreift man sie als Mitgliedsmarken für Rechtgläubige

„Allianz für Weltoffenheit“: ein drohendes Wir / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Man stelle sich vor: Menschen, die sich für besonders schön halten, gründen eine Allianz für Weltschönheit und erklären allen, die es wissen wollen, dass sie schön sind und für Schönheit stehen. Menschen, die sich für besonders klug halten, gründen eine Allianz für Weltklugheit und geben zu Protokoll, dass sie für Klugheit stehen und Klugheit gegen alle Unklugen verteidigen werden. Käme einem das nicht trotzig vor, hochfahrend, ein klein wenig kindisch? Und verhält es sich mit der neugegründeten „Allianz für Weltoffenheit“ wirklich ganz anders?

Begriffe machen Politik

In einer Zeit, in der die Politik zwischen Sachzwängen und internationalen Verpflichtungen antriebsarm dahin schlingert, sollen Begriffe einen klaren Kurs vorgeben. Deshalb erleben wir einen Boom der politischen Rhetorik. Neu- und umgeprägte Begriffe sollen leisten, wozu sich die große Politik derzeit außerstande sieht: Kohorten bilden, Zusammengehörigkeit stärken, Moral durchsetzen. Wie Mitgliedsmarken, nicht wie Benennungen funktionieren diese. Wer sie im Munde führt, der gehört dazu; wer sich das Recht auf Eigensinn und Freimut nicht moralisch abpressen lässt, der muss leider draußen bleiben.

Mitmenschlichkeit zum Beispiel. Offensichtlich ist das Wortungetüm gleichbedeutend mit Menschlichkeit, die ein Faktum benennt: dass jemand zur Gattung des Menschen gehört und sich infolgedessen menschlich verhält. Mitmenschlichkeit hingegen ist Benennung plus Appell. Der Mitmensch ist der gute Mensch, das Gattungswesen ohne alle Abgründe, der einreihungsbereite Homo sapiens, Subjekt der richtigen Politik, des sozial erwünschten, exekutiv geforderten, moralisch belobigten Umgangs. Mitmenschen sind jene, auf die man stolz sein darf. Menschen könnten stören. Sie sprengen Raster.

„Demokratiekongress“ für Mitmenschlichkeit

Kein Wunder also, dass sich die Mitgliedsmarke Mitmenschlichkeit bei besagter Weltoffenheitsallianz wiederfindet, die mit vollem und einigermaßen alarmistischem Namen „Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat – gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt“ heißt und die nun mit einem „Demokratiekongress“ in Köln das Licht der Öffentlichkeit suchte. Oder müsste es, der Selbstbezeichnung entsprechend, „Weltöffentlichkeit“ heißen? So klänge im superlativischen Stil der Gratisverdopplung das Offensichtliche. Wenn Mitmenschlichkeit ein Fahnenappell ist, dann wäre Weltöffentlichkeit das Tribunal, vor dem über jene verhandelt wird.

Das drohende Wir

Im Aufruf „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, den sehr, sehr viele Lobbyvereine und Weltanschauungsverbände zwischen Gewerkschaft, Kirche, Kultur und Naturschutz unterstützen, heißt es also: „Die ungebrochene Hilfsbereitschaft zeugt davon, dass Solidarität und Mitmenschlichkeit zu den prägenden Werten unserer Gesellschaft gehören.“ Und weiter: „Deutschland braucht erheblich mehr Investitionen in seine Zukunftsfähigkeit.“ Und: „Maßnahmen und Programme müssen zu einer Gesamtstrategie für die Schaffung ökonomischer und gesellschaftlicher Teilhabechancen zusammengeführt werden.“ Zukunft reicht nicht, sie muss zur Zukunftsfähigkeit aufgebläht werden, damit sie angeordnet, kanalisiert, befohlen werden kann. Teilhabe reicht nicht, damit Chancenverwalter ihr Geschäft betreiben können. Darum ist das Wir der vielen Unterstützer ein drohendes Wir: „Wir stehen für Solidarität und Weltoffenheit.“ Sag mir, hieß es in der DDR, wo du stehst. Mach mit oder mach dich vom Acker. 

Brauchen wir wirklich Haltung und Mut?

Auch Haltung gehört zu den derzeit forcierten Begriffen, die ein handlungspolitisches Vakuum ausgleichen sollen. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen sieht sich nicht an eigenen Defiziten gescheitert, sondern am „Haltungsproblem“ der anderen. Medien und Parteien reklamieren inflationär Haltung für sich und fordern sie vom jeweiligen Gegenüber. Haltung ist der Patriotismus einer nachpatriotischen Gesellschaft. Haltung ist Konsensbereitschaft und ist von der individuellen Tugend des aufrechten Gangs zur Bringschuld des Kollektivs geworden. Wer Haltung ruft, darf mitessen am Tisch der Großen.

Oder der Mut. Er wird mittlerweile gerne da in Anspruch genommen, wo der Schutz der Menge lockt. Demokratie brauche Mut, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Schirmherr des „Demokratiekongresses“. Stimmt das? Braucht Demokratie nicht vor allem kompetente Politiker, transparente Verfahren und die Rückholbarkeit jeder mehrheitlich getroffenen Entscheidung? Demokratie toleriert Feigheit, indem sie auch den politisch unmusikalischen Bürger in Sicherheit und Freiheit leben lässt, ihn vor zivilgesellschaftlichem Moralaktivismus bewahrt. In Demokratien darf niemand gezwungen werden, auch nicht zum Guten, wie wünschenswert es sein mag. Der amerikanische Philosoph Jason Brennan schreibt: „Im Idealfall würde die Politik die Aufmerksamkeit des Durchschnittsbürgers kaum in Anspruch nehmen. Stattdessen würden die meisten Menschen ihre Tage mit Malerei, Poesie, Musik, Architektur, Bildhauerei und Töpferkunst verbringen, oder auch mit Fußball, Autorennen, Promi-Tratsch und Restaurantbesuchen.“

Tugend als Aushängeschild verliert ihren Kern

Keine Bange: Nie wird es in Deutschland so weit kommen. Politik ist hier nicht die aufwandsschonende Organisation guten Lebens, sondern die Verwaltung der guten Gesinnung. Schlechte Straßen sind weniger schlimm als schlechte Gedanken, öffentliche Sicherheit minder wichtig als die Sicherheit der Sprachspiele. Dabei sind Mut, Haltung, Menschlichkeit und Weltoffenheit tatsächlich Eigenschaften, die jeden Charakter adeln. Ihrer bedürfte es sehr. Werden sie aber verkürzt zum Fanfarenton der Rechtgläubigen, zur Grußformel bei der Moralausgabe, verlieren sie ihren Kern: die Überzeugung, dass Tugenden im Einzelnen wachsen und gedeihen und praktisch werden, in der Gruppe aber zerbersten.

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