Politik und Wahrheit - Willkommen in der postfaktischen Welt

Das Wort „postfaktisch“ wurde zum „Wort des Jahres“ gewählt. Damit wird die Praxis beschrieben, Gefühlen und Spekulationen mehr zu glauben als Tatsachen. Das ist verführerisch. Aber vor allem gefährlich

Das Gefühl spielt in der Politik eine immer größere Rolle / picture alliance
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Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das hat nicht irgendwer gesagt, sondern die Kanzlerin Angela Merkel. Genauso hat sie es gesagt. Das ist ein Fakt. Wir konnten es alle sehen in der Bundespressekonferenz. Der Begriff „postfaktisch“ aber waberte schon vorher durch Zeitungen, Radio und Fernsehen. Die Kanzlerin selbst hatte es auf dem Rückflug vom G-20-Gipfel in China von Journalisten aufgeschnappt. Das Wort müsse sie erst einmal in ihren Wortschatz aufnehmen, sagte sie, so jedenfalls stand‘s im Spiegel. Ist das jetzt ein Fakt? Dazu später mehr.

Fakt ist aber, dass „postfaktisch“ das „Wort des Jahres“ ist, ja, vielleicht wird es sogar einmal die Ära der Kanzlerschaft Angela Merkels definieren. Reingefallen. Das war jetzt natürlich Spekulation, mehr so ein Gefühl. Aber genau darum geht’s ja in der postfaktischen Welt, um die Vermischung von Tatsachen mit Gefühlen und Spekulationen und was dabei herauskommt.

Postfaktisches Denken sickert in die Gesellschaft

Ganz neu ist das alles nicht. Schon Friedrich Nietzsche sagte, dass es keine Fakten gebe, nur Interpretationen. Diesen Gedanken griffen postmodernistische und relativistische Denker auf, um zu argumentieren, dass jede Version eines Ereignisses eine eigene Realität habe, dass Unwahrheiten „eine alternative Sichtweise“ darstellten, weil sowieso alles relativ sei. In den vergangenen 30 Jahren sickerte dieses Denken durch in die Medien, in die Gesellschaft und in die Politik.

In den achtziger Jahren prägte der US-Amerikaner Lee Atwater den Satz „perception is reality“, Realität sei das, was man empfinde. Atwater arbeitete als Wahlkampfmanager für Ronald Reagan und George Bush Senior. Er galt als skrupellos – und erfolgreich. Bei der Präsidentschaftswahl 1988 gelang es Atwater für Bush, einen Rückstand von 17 Prozent auf den demokratischen Kandidaten Michael Dukakis wettzumachen und die Wahl zu gewinnen. Vor Schmutzkampagnen und gefälschten Umfragergebnissen schreckte er nicht zurück, Fakten interessierten ihn nicht. Denn indem er die Gefühle der Wähler beeinflusste, würde er die Fakten eben schaffen. Wenn Menschen an etwas glauben, ist es dann noch wichtig, dass dieses etwas wahr ist?

Wenn das Gefühl mehr zählt

Dass aber gerade jetzt alle von postfaktischen Zeiten reden, hat vor allem mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump zu tun,  und dem auch in Deutschland beliebten Satiriker John Oliver. Letzterer zeigte während des Wahlkampfes in seiner Show den Ausschnitt eines Interviews, das eine CNN-Reporterin beim Parteitag der Republikaner mit Newt Gingrich geführt hatte. Gingrich ist ein hohes Tier in der Partei, in den neunziger Jahren organisierte er als Fraktionschef den Aufstand gegen den Demokraten Bill Clinton.

Die Reporterin legte Gingrich eine Statistik vor, die aufzeigt, dass die Kriminalität in den letzten Jahren stark gesunken ist. Das bedeute gar nichts, konterte Gingrich, die Linken würden für alles irgendeine Statistik haben. Die Statistik stamme aber vom FBI, es handle sich um offizielle Fakten, entgegnete wiederum die Moderatorin. Jetzt kommt der entscheidende Moment. Es möge ja sein, dass dies Fakten seien, sagte Gingrich, er jedoch verlasse sich auf das Gefühl der Menschen. Und dieses Gefühl sage ihm, dass die Verbrechen zugenommen hätten. Das sei genauso viel wert wie Fakten.  

Trump ist ehrlich unehrlich

Unseren eigenen Gingrich-Moment erlebten wir im Vorfeld der Berlin-Wahlen. In der Elefanten-Runde im RBB-Fernsehen wurde AfD-Spitzenkandidat Georg Pazderski mit den Kriminalitätsstatistiken des Bundesinnenministeriums konfrontiert, die nahelegen, dass Ausländer nur unwesentlich mehr Straftaten begehen als die deutsche Bevölkerung. Aber Pazderski ließ sich von Zahlen nicht beeindrucken. Es gehe eben „nicht nur um die reine Statistik, sondern darum, was der Bürger empfindet“, sagte er.

Das ist die neue Dimension, die wir auch erleben, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin im Fernsehen sagt, dass keine russischen Soldaten in der Ukraine seien, obwohl wir auf anderen Bildern russische Soldaten in der Ukraine sehen. Wir erleben es, wenn Michael Gove von der britischen Brexit-Kampagne sagt, die Leute hätten die Schnauze voll von Experten und wir erleben es vor allem bei Donald Trump, der Fiktion und Realität in seinen Reden geradezu beliebig vermischt.

Schaut her, scheint er zu sagen, ich bin genauso, wie ihr immer geglaubt hat, dass Politiker sind. Ich bin ein Behaupter, ein Wortverdreher, ein Lügner. Trump ist ehrlich unehrlich.Lügen und Interpretationen der Wahrheit gehören zur Politik seit jeher dazu. Es ist die demonstrative Schamlosigkeit, mit der Politiker wie Trump auftreten, die neu ist. Sie lügen nicht nur, die Wahrheit ist ihnen auch egal.

Im Kalten Krieg wurde um die Wahrheit gekämpft

Wie kommt das, und warum passiert es gerade jetzt? Es scheint – Achtung, jetzt wird wieder spekuliert – mit der Entwicklung der Technologie und der globalen Ökonomie zu tun zu haben, wie das Granta Magazin argumentiert.  Noch im Kalten Krieg war die Wahrheit unheimlich wichtig. Kommunisten und Kapitalisten setzten auf Fakten, um zu belegen, dass ihre Ideologie die richtige ist. Beide Seiten fälschten ihre Bilanzen, vor allem die Kommunisten, aber wenn sie dabei erwischt wurden, waren sie zutiefst verärgert. Und am Ende verloren die Kommunisten, weil ihnen niemand mehr glaubte. Beide Seiten versuchten aber, jedenfalls offiziell, eine Art rationalen Fortschritt nachzuweisen, und dazu benutzten sie Ideologie, Geschichte und Fakten.

Dann kamen die neunziger Jahre, und es gab nichts mehr zu beweisen. Die Fakten wurden von der politischen Geschichte, die es zu erzählen gab, getrennt. Die neuen Herren der Politik waren PR-Berater, Spin-Doctors wie Joe Lockhart unter Bill Clinton in den USA, Alastair Campbell in Großbritannien unter Tony Blair und Uwe-Karsten Heye, Bodo Hombach und Matthias Machnig als Mitglieder der „Kampa“ unter Gerhard Schröder. In Russland entstand eine Art „virtuelle Politik“, in der es künstliche Parteien und künstliche Nachrichten gab. Dennoch versuchten die Spin-Doctors immer noch, zumindest eine Illusion der Wahrheit zu erzeugen.

Lügen verbreiten sich wie Waldbrände

Paradoxerweise hat das Informationszeitalter den Trend noch verstärkt. Obwohl so genannte Fakten-Checks in allen Medien hoch im Kurs stehen, und jedes Provinzblatt mittlerweile einen Datenjournalisten engagiert hat, verbreiten sich Lügen im Internet wie digitale Waldbrände. Sobald ein Faktenchecker eine Lüge ausfindig macht, entstehen gleichzeitig tausend neue. Durch das schiere Volumen dieser Informationskaskaden verbreiten sich die Unwahrheiten in Windeseile.

Alles was zählt, ist, dass die Lüge klickbar ist. Das wird wiederum durch die Vorurteile der Menschen bestimmt. Google und Facebook haben Algorithmen entwickelt, die sich nach den bisherigen Suchanfragen und Klicks der Menschen richten. Und die sozialen Netzwerke, für viele bereits die wichtigste Nachrichtenquelle, führen uns in Echokammern der Gleichgesinnten, in denen wir nur Dinge zu hören bekommen, die unsere Sicht der Dinge bestätigen, egal ob sie wahr oder falsch sind.

Natürlich sind wir Journalisten nicht ganz unschuldig daran. „Da brauchen wir noch eine Studie“, in jeder Redaktion ist dieser Satz bekannt. Irgendeine wird sich schon finden lassen, die unser jeweiliges Argument bestätigt. Und dass diese Studie wiederum untersucht wird, ob sie auch wirklich relevant und empirisch korrekt ist, kommt selten vor. Auch beschränkt sich die Entwicklung nicht auf Kräfte der rechten Politikseite. Ohne länger darauf einzugehen, gibt es auch bei „linken“ Themen wie Gentechnik, Atomkraft und den immer alarmierenderen Armutsberichten starke Tendenzen, die Fakten zu ignorieren oder zu verdrehen.

Das Bedürfnis nach Nostalgie

Zur Technologisierung kommt die generelle Desorientierung in einer immer globaleren Welt. Wenn die Fakten aussagen, dass es keine ökonomische Zukunft gibt, wer will diese Fakten schon hören? Wenn die Regierung die Kontrolle verloren zu haben scheint, warum soll man dieser Regierung vertrauen? Kein Wunder also, das die postfaktische Welt, oft eine nostalgische Welt der Vergangenheit ist. Deswegen lässt Putin die Menschen von einem restaurierten Russischen Reich träumen, deswegen verspricht Trump, Amerika „great again“ zu machen, deswegen nähren die Brexiteers die Sehnsucht nach einem „verlorenen England“ und deswegen glorifizieren die ISIS-Videos ein mythisches Kalifat. „Das 21. Jahrhundert ist nicht geprägt von der Suche nach Neuheit“, schreibt die russisch-amerikanische Philologin Svetlana Boym, „sondern von der Ausbreitung der Nostalgie. Die gibt das kritische Denken zu Gunsten einer emotionalen Verbundenheit auf. In extremen Fällen entsteht daraus eine Phantomheimat, für die man bereit ist, zu sterben und zu töten.“

Keine Frage, eine postfaktische Welt kann auch befreiend sein. Es hat etwas von jugendlicher Euphorie, die Fakten, diese schweren Symbole der Erziehung und der Autorität, von sich abzuschütteln, es ist rebellisch. Nicht umsonst nannte die rechtskonservative Kolumnistin Ann Coulter die Trump-Bewegung voller Enthusiasmus eine „Rebellion des Volkes gegen das Establishment“. Dagegen an die Wahrheit zu appellieren wirkt langweilig, von gestern, fast altväterlich. Nachprüfen, hinterfragen, herausfinden, das ist oft harte Arbeit und selten sexy. Doch genau darum geht es in der Aufklärung, das meint Immanuel Kant mit seinem „sapere aude“. Eine postfaktische Welt ist kein Fortschritt, sondern eine Rückkehr in dunkle Zeiten, wie hell sie auch im nostalgisch verbrämten Licht erscheinen mögen.

Eine Version dieses Textes erschien bereits im September auf Cicero Online. Aus aktuellem Anlass haben wir ihn aktualisiert und erneut veröffentlicht.

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