Die letzten 24 Stunden von Ingrid Noll - Im Sommer, im Garten, mit Hummer, Wein und einem Streichelzoo

Die Krimi-Autorin Ingrid Noll über ihre idealen letzten Lebensstunden mit Gedichten von Gottfried Keller, Kantaten von Bach und Édith Piafs „Non, je ne regrette rien“

Erschienen in Ausgabe
„Als mir als Kind meine Puppe aus dem Garten geklaut wurde und Gott sie nicht zurückbrachte, wurde ich misstrauisch“ / Zino Peterek
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Autoreninfo

Björn Eenboom ist Filmkritiker, Journalist und Autor und lebt im Rhein-Main-Gebiet.

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Mein letzter Tag ist gekommen – das ist keine Tragödie. Seit ich lebe, weiß ich, dass ich sterben muss. Ich hatte ein reiches Leben, also ist es in Ordnung, wenn es zu Ende geht. Jetzt habe ich sogar die Chance, meinen letzten Tag zu gestalten, statt völlig unvorbereitet abzutreten. Ich bin sehr praktisch veranlagt. Das Testament ist unterschrieben, alle Unterlagen für meinen Tod liegen bereit. In meinem Alter möchte ich keinen Stress. Früher hätte ich mir mehr Abenteuer gewünscht. Lautlos mit einem Ballon über einen Wald zu fahren oder in die Mongolei zu reisen. Nun möchte ich den letzten Tag zu Hause in Weinheim verleben.

Es ist ein schöner Sommertag bei angenehmen Temperaturen. Ich wache wie immer früh auf und lasse mich ausnahmsweise bedienen. Während ich ein anständiges Frühstück einnehme, lese ich gewöhnlich die Zeitung. Doch was heute drinsteht, geht mich nichts mehr an. Ich beobachte die Tiere im Garten. Wenn ich zuschaue, wie eine Amsel herumhopst und ihr Junges ihr nachrennt, bettelt und gefüttert wird, erfüllt das mein Herz mit Freude. Es ist mir wichtig, schöne Bilder einzusaugen. Das kann ein Tautropfen auf einem Blatt sein. Dabei denke ich an mein Lieblingsgedicht „Abendlied“ von Gottfried Keller: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, / Von dem goldnen Überfluss der Welt!“ Es könnte auf meinem Grabstein stehen.

Auf keinen Fall verzagen

Ich bin evangelisch getauft, doch schon lange aus der Kirche ausgetreten. Als Kind fand ich die Vorstellung von einem allmächtigen Gott sehr beruhigend. Doch als mir mit neun Jahren meine Puppe aus dem Garten geklaut wurde und Gott sie mir nicht zurückbrachte, wurde ich misstrauisch. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Vielleicht wäre es ein Trost. Man könnte hoffen, dass man seine Lieben wiedertrifft. Das würde aber auch peinlich werden, zum Beispiel für jene Witwen, die mehrmals verheiratet waren.

Ich möchte auf keinen Fall verzagen, sondern einen schönen Tag mit der Familie erleben. Unser vermooster Rasen soll in einen potemkinschen Garten verwandelt werden. Lilien und Rosen blühen, es wird musiziert, gelesen, es gibt ein Wasserbecken. Er sieht bezaubernd aus wie ein Paradiesgärtlein der alten Meister, das die Geborgenheit eines Hortus conclusus ausstrahlt. Für meine Enkelkinder soll ein Streichelzoo hergerichtet werden, weil ich ihnen beim Spielen mit übermütigen Jungtieren gern zuschaue.

„Schlummert ein, ihr matten Augen“

Auf einer großen Tafel sind mediterrane Speisen angerichtet. Noch einmal möchte ich frischen Hummer essen und einen guten Wein trinken. Ich bin in China aufgewachsen und habe antike Cloisonné-Döschen gesammelt. Die werde ich an meine Liebsten verteilen. Ich höre Schuberts „Winterreise“ und „Die schöne Müllerin“. Auch Édith Piafs „Non, je ne regrette rien“ oder ein Madrigal aus der Renaissance wären mir lieb.

Nun wird es Zeit. Ich ruhe im Liegestuhl im Garten. Über mir sehe ich die Zweige des Kirschbaums, ein Vogel zwitschert, und die Enkelkinder spielen mit ihren Tieren. Ich höre Bach-Kantaten und schließe meine Augen für immer: „Schlummert ein, ihr matten Augen, / Fallet sanft und selig zu!“

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.














 

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