Phänomen Wutbürger - Warum so zornig?

Die Erfolge der AfD zeigen es: Aus Enttäuschung kann eine politische Macht erwachsen. Doch wie mit den verärgerten Bürgern nun umzugehen ist, dafür scheinen den etablierten Parteien die Rezepte zu fehlen. Christian Heinze plädiert dafür, die Ursachen zu erforschen

Wütende Demonstranten in Spanien / picture alliance
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Dr. Christian Heinze arbeitet als Rechtsanwalt in München.

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Unter einem Wutbürger dürften sich die meisten jemanden vorstellen, der dauernd oder ungewöhnlich häufig wütend ist. Die Frage ist, ob oder wann ein Wutbürger gut oder schlimm ist. Man wird sagen müssen: Es kommt darauf an. Denn Wut verwirrt zwar den Verstand, die Rede und das Verhalten und behindert so vernünftiges Vorgehen. Aber menschliche Trägheit erfordert nicht selten Emotionen und sogar Wut, um etwas zu bewegen, Hindernisse zu überwinden. Der Kampf gegen das Böse oder um Fortschritt kann durch Wut wirksamer, manchmal überhaupt erst in die Wege geleitet werden. Und wie fad ist der Mensch ohne Temperament!

Noch größere Aussicht etwas zu bewegen, hat kollektive Wut. Paradebeispiel ist die Auslösung der Französischen Revolution durch den Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789. Oft wird kollektive Wut angefacht durch Agitation organisierter politischer Kräfte. Man denke an die russischen Revolutionen von 1917 oder an die chinesische „Kulturrevolution“ von 1966. Diktatoren bedienen sich der Wut der Bevölkerung, um ihre Macht zu etablieren oder zu erhalten. Auch der Nationalsozialismus entfaltete sich ab 1930 in einer Art kollektiver Wut eines erheblichen Teils der Bevölkerung.

Das Gefühl ist wertfrei

Als Wutbürger werden Menschen bezeichnet, weil sie sich mehr oder weniger laut gegen oder für etwas aussprechen. So zum Beispiel die „Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Weltweit gibt es Wut gegen „den Westen“ oder „die Amerikaner“, überall gibt es sie zwischen Staaten, Völkern und allen möglichen Gruppierungen. Wo sich dagegen Wut gegen Staat und Gesellschaft selbst richten darf, ist sie Anzeichen eines freiheitlich verfassten Gemeinwesens.

Wut hat in der Regel einen Anlass, geht auf die Ablehnung eines Zustandes oder auf unerfüllte Ansprüche zurück. Wut ohne Gegenstand außerhalb des Wütenden oder als Selbstzweck ist selten und meist lächerlich. Zustände und Verhaltensweisen lassen sich besser sachlich und vernünftig kritisieren und ändern. Wenn aber nichts davon gelingt oder sich schon der Zustand nicht begreifen lässt, macht sich Hilflosigkeit breit. Wut als Emotion ist wertfrei. Sie kann gute wie schlechte Gedanken, Äußerungen oder Verhaltensweisen emotional überhöhen. Gesellschaftlich relevant ist Anlass oder Ziel der Wut und das aus ihr erwachsende Verhalten.

Eine Welt ohne Wut ist nicht denkbar

Was nun anfangen mit der ganzen Wut? Gewiss trägt zwar Wut auf den ersten Blick nicht nachhaltig zur Befriedung oder Problemlösung bei. Aber ist nun Ruhe oder Unruhe die erste Bürgerpflicht? Ist nicht Unruhe, die zur Berichtigung eines Übels führt, ein Weg zum Frieden? Wut ist oft ein nützliches Signal. Sie erinnert daran, dass etwas bewältigt werden muss. So beruhigend und zweckmäßig emotionslose Auseinandersetzungen, so unästhetisch Wutausbrüche sein mögen, so sinnlos wäre es, Wut schlechthin abzulehnen.

Bewältigt sollte Wut aber wohl werden. Bewältigung ist denkbar durch Beseitigung ihrer Ursachen, durch Verwirklichung des Ziels, schließlich durch Besänftigung. Die meist mit Wut verbundenen Andeutungen lassen Anlässe oder Ziele oft nur umrisshaft erkennen, entweder weil sie der Wütende selbst nicht genau kennt oder formulieren kann, oder weil sie ihm nicht erklärt worden sind. Geboten ist daher vor allem eine gründliche Erforschung. Wer auf Wut stößt und nicht gleich nach der Polizei oder dem Psychiater ruft, fragt: Warum? Meist zeigt sich bald, dass Wut differenzierte Gegenstände und nicht selten einen berechtigten Kern hat. Das gilt besonders für kollektive Wut.

Offener Austausch von beiden Seiten

Ist der Grund geklärt, muss er bewertet werden. Verdient er Ablehnung, Bestätigung, Durchsetzung? Hier liegt die Schwierigkeit, die der Anti-Wutbürger geflissentlich umgehen will, indem er sich auf die Ruhe als erste Bürgerpflicht beruft. Denn selbst wenn mit Bezug auf den Gegenstand der Wut nichts zu veranlassen ist, haben doch die Wutbürger ernstzunehmende Probleme. Deshalb ist jedenfalls eines zu veranlassen: Um die notwendige Homogenität einer Gesellschaft zu erhalten, muss Wut durch Überzeugungsarbeit möglichst weitgehend aufgelöst werden. Die Interessen aller Beteiligten und der Gesellschaft müssen offengelegt und es muss gezeigt werden, welchen Beitrag, welche Toleranz ein jeder schuldet, mit welchen Kompromissen alle leben müssen. Und das ist nur möglich durch vernünftige Diskussion und Vorbildhaftigkeit.

Allerdings haben auch Wutwillige und ihre Mitläufer eine Aufgabe: sich über Wirkung und Rechtfertigung ihrer Wut Gedanken zu machen. Auch sie sind die Auseinandersetzung schuldig.

 

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