Olympische Spiele 1972 - „The games must go on“

An diesem Montag vor 50 Jahren wurden die Olympischen Spiele in München durch die Geiselnahme eines achtköpfigen palästinischen Terrorkommandos überschattet. Noch in der Nacht starben neun israelische Geiseln im Feuergefecht eines Himmelfahrtskommandos ohne zureichend ausgebildete Scharfschützen. Unser Autor erinnert sich noch gut an das Sportereignis, das zur Tragödie wurde.

Mark Spitz bei den Olympischen Spielen 1972 / pictute alliance
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Autoreninfo

Eckhard Jesse ist emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz. 2014 hat er ein Buch über „Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung“ herausgegeben.

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„München 1972“ sollte nicht an „Berlin 1936“ erinnern. Die transparente Zeltdachkonstruktion des Architekten Günter Behnisch, die das Olympiastadion mit der Olympiahalle und dem Olympiaschwimmbad verbindet, unterstrich den Ausdruck von unbeschwerter Leichtigkeit und stand so im wohltuenden Kontrast zum steinernen Monumentalbau der Vergangenheit. Die Filmemacherin Leni Riefenstahl, die sich für die Propaganda der Nationalsozialisten hergegeben und 1938 einen zweiteiligen, auch international als künstlerisch innovativ empfundenen Film über „Olympia“ 1936 („Fest der Völker“, „Fest der Schönheit“) präsentiert hatte, war in München nicht wohlgelitten. Bundespräsident Gustav Heinemann ließ sie von der Einladungsliste für einen Empfang streichen. Ausländer reagierten unbefangener. Für das Sunday Times Magazine fotografierte die 70-Jährige das (Sport-)Geschehen – ihre Bilder gelangten auf die Titelseite.

Das doppelte Motto von Olympia 1972 lautete: „Spiele im Grünen“, „Spiele der kurzen Wege“. Die freundlichen Ordner im Olympischen Dorf, Polizisten in hellblauer Zivilkleidung ohne Waffen, halfen, wo sie konnten. Zu Behnischs kühner Konzeption passte das Design des Gestaltungsbeauftragten der Spiele Otl Aicher, verheiratet mit Inge Scholl, der Schwester von Sophie. Heitere Spiele ohne Kontrollen sollten es sein. Ausgerechnet deren laxe Handhabung erwies sich als dermaßen verhängnisvoll. Das ahnte wohl niemand, trotz dreier palästinensischer Anschläge allein gegen die Schweiz 1969/70 und zweier palästinensischer Flugzeugentführungen in der ersten Jahreshälfte 1972.

Vom 26. August bis zum 11. September sahen 4,5 Millionen Zuschauer 7147 Teilnehmer aus 122 Ländern in 195 Entscheidungen, die sich auf 21 Sportarten erstreckten. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) schloss auf Druck afrikanischer Staaten die Sportler Rhodesiens, die bereits in München trainierten, von den Spielen aus. Die Geschichte der Olympischen Spiele ist eine Geschichte ihres Boykotts – die Leidtragenden: die Athleten. 1976 traten Olympioniken aus vielen afrikanischen Ländern nicht an, weil das IOC Neuseeland, dessen Rugby-Mannschaft im geächteten Südafrika Rugby-Wettbewerbe absolviert hatte, teilnehmen ließ. 1980, nach der militärischen Intervention der Sowjetunion in Afghanistan, boykottierten 42 Länder vornehmlich des Westens die Spiele in Moskau. Politik siegte über Sport. Postwendend folgte die Retourkutsche: Die Sowjetunion verzichtete mit den Staaten des Ostblocks auf die Teilnahme in Seoul 1984.

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Die Stimmung war zunächst ausgelassen

Die Stimmung in München war nicht einzig des sonnigen Wetters wegen ausgelassen, wenngleich dem Gastgeber nach fünf Tagen noch immer eine Goldmedaille fehlte – bis die Leverkusenerin Heide Rosendahl, von Funktionären als ein enfant terrible betrachtet, gleich im ersten Durchgang des Weitsprungs olympischen Rekord erzielte und die Scharte auswetzte. Am 3. September sorgte die bundesdeutsche Leichtathletikmannschaft innerhalb einer Sternstunde für einen „goldenen“ Sonntag“. Träume wurden wahr, schwarz-rot-goldene Fahnen aber kaum geschwenkt. Klaus Wolfermann bezwang mit einer Weite von 90,48m im Speerwerfen den haushohen Favoriten, den Letten Janis Lusis, um ganze zwei Zentimeter – die damals kleinstmögliche Messdifferenz für die Kampfrichter. Die Wolfsburger Weltrekordhalterin Hildegard Falk über 800 Meter, die wegen ihres zweiten Platzes bei den bundesdeutschen Meisterschaften nicht in Form zu sein schien, überraschte nun ihre Kritiker, holte Gold – wie der Geher Bernd Kannenberg aus Fürth, der nach seinem Scheitern beim Wettkampf über 20 Kilometer jetzt nach 50 Kilometern als Erster ins Stadion zurückkehrte. Ausgerechnet Heide Rosendahl, die Favoritin im Fünfkampf, musste an diesem Tag den zweiten Platz akzeptieren, da die Britin Mary Peters über sich hinauswuchs. Am Ende fehlten der Deutschen zehn Punkte zum Sieg oder elf Hundertstelsekunden beim abschließenden 200-Meter-Lauf.

„Die“ Sensation der Spiele bescherte der nächste Tag. Ein unbekümmerter Backfisch, die 16-jährige Ulrike Meyfarth aus Wesseling bei Bonn, gewann dank der neuartigen Technik des Flop, nicht bäuchlings zuerst über die Latte wie beim Straddle, sondern rücklings, den Hochsprungwettbewerb mit der Weltrekordhöhe von 1,92 Meter. Ein halbes Jahrhundert später sprach sie, keineswegs übertrieben, von der „womöglich größten Sensation der Spiele“. Die bis heute jüngste Olympiasiegerin der Leichtathletik durchschritt danach ein Tal der Tränen, ehe sie bei den Spielen in Los Angeles 1984 ihren Erfolg wiederholen konnte. 

Ein jähes Erwachen

Zwölf Stunden nach ihrem Münchner Triumph erlebte Meyfarth, und nicht nur sie, ein jähes Erwachen. Ein achtköpfiges palästinisches Terrorkommando des Schwarzen September – der Organisator Abu Daoud blieb zurück – überquerte am 5. September den Zaun zum Olympischen Dorf, überfiel die Widerstand leisteten, und nahm neun Geiseln in Gewahrsam.

Die Terroristen forderten die Freilassung von 328 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen. Israel weigerte sich, und in der Nacht passierte auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck, wohin der Krisenstab die Geiselnehmer und Geiseln dirigierte, einen Weiterflug nach Ägypten vortäuschend, eine Katastrophe aufgrund schwerer Fehler und Versäumnisse: Alle Geiseln starben im Feuergefecht eines Himmelfahrtskommandos ohne zureichend ausgebildete Scharfschützen. Zudem verlief die Kommunikation dilettantisch: Regierungssprecher Conrad Ahlers erklärte zunächst, die Operation sei „glücklich und gut“ ausgegangen.

Dem Freudenfest folgte ein Trauerakt. Die Olympischen Spiele wurden für einen Tag unterbrochen, nicht abgebrochen. Das Diktum des scheidenden IOC-Chefs Avery Brundage „The games must go on“ rief Zu- und Widerspruch hervor. Die Zuschauer trauerten um David Berger, Anton Fliegerbauer, Zeev Friedman, Yossef Gutfreund, Eliezer Halfin, Yoseff Romano, Amitzur Shapira, Kehat Shorr, Mark Slavin, Andrei Spitzer, Yajov Springer, Moshe Weinberg. Rechtfertigten deutsche Linksextremisten wie Ulrike Meinhof und Horst Mahler offen die „mutige Kommandoaktion“, lieferten deutsche Rechtsextremisten heimlich Waffen.

Obgleich der Schock tief saß, reiste kaum ein Sportler vorzeitig ab. Das Duell der beiden deutschen 4-mal-100-Meter-Staffeln am 9. September konnte nicht dramatischer sein, wiewohl sich niemand recht vorzustellen vermochte, die Westdeutschen besäßen eine realistische Chance. Schlussläufern Heide Rosendahl bezwang in Weltrekordzeit die Jenaerin Renate Stecher, die bereits im 100- und 200-Meter-Sprint Gold gewonnen hatte. So lagen die beiden mit ihrer Medaillenausbeute nun gleichauf. Allerdings heimste die kleine DDR 66 Medaillen ein, die große Bundesrepublik im eigenen Land bloß 40. Der Hauptgrund: die bessere, weil systematische Förderung des Spitzensports in der DDR, deren politisch Verantwortliche ihm hohes Prestige zumaßen. Die Einnahme von Anabolika dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben, freilich noch nicht in dem Umfang wie bald danach. Erreichte die DDR in München bei den Schwimmerinnen keine einzige Goldmedaille, regnete es vier Jahre später in Montreal gleich elffach Gold. Auf die tiefen Stimmen der Schwimmerinnen angesprochen, erklärte ein DDR-Trainer lakonisch, diese seien nicht zum Singen da.

Mark Spitz war der Star der Spiele

Der Freistil- und Delphinschwimmer Mark Spitz, der 1968 die hohen Erwartungen nicht erfüllt hatte, galt dank seiner sieben Goldmedaillen, jeweils in Weltrekordzeit, in vier Einzel- und drei Staffelwettbewerben, als der Star der Münchner Spiele. Fragen auf der Pressekonferenz nach seinem letzten Sieg, bei der er erst von den schrecklichen Geschehnissen in der Nacht erfahren hatte, gingen dem Juden nahe. Spitz, der um seine Sicherheit fürchtete, verließ flugs München flugs und streng bewacht. Dem Schwimmsport sagte der Zahnmedizinstudent ade – lukrative Werbeverträge warteten auf ihn.

Gemeinhin zählen in den Annalen ausschließlich die Sieger, jedoch nicht für die Spieler der US-amerikanischen Basketballmannschaft. Auf die Goldmedaille bei allen Spielen abonniert, trat sie 1972 nicht so souverän auf wie sonst. Im Endspiel gegen die Sowjetunion immer zurückliegend, bekam das blutjunge Team kurz vor Spielende zwei Freiwürfe zugesprochen. Da es diese verwandelte, ging es – drei Sekunden vor Schluss – das erste Mal mit 50:49 in Führung. Mehrfach wurde das Spiel an- und wieder abgepfiffen – Unbefugte griffen in den Tumult ein. Die US-Boys wähnten sich als Sieger. Bei einem erneuten Anpfiff flog der Ball von der sowjetischen Grundlinie nach vorn zu Alexander Below, der, fixer als zwei Gegenspieler, ihn sofort in den Korb warf. Die Mannschaft der USA protestierte – der Italiener und der Puerto Ricaner im Schiedsgericht gaben dem Einspruch statt, jedoch nicht der Kubaner, der Pole und der Ungar. Das USA-Team verweigerte die Annahme der Silbermedaille, 40 Jahre später scheiterte eine Medaillenverleihung abermals. Das Drum und Dran vor, bei und nach dem Spiel: ein Politikum.

Die Ereignisse vor 50 Jahren, mehr die traurigen als die fröhlichen, sind im Gedächtnis nicht nur Sportinteressierter wie eingebrannt. Bei einer Umfrage 1972, für welchen Sportler eines Nachbarlandes die Westdeutschen die Daumen drückten, rangierte der Ostdeutsche (47 Prozent) vor dem Österreicher (20 Prozent), dem Schweizer (15 Prozent) und dem Tschechen (6 Prozent). Es gab für die Westdeutschen also noch eine deutsche Nation, für die Ostdeutschen ohnehin. 1992 trat wieder, wie 1956, 1960 und 1964, eine deutsche Mannschaft an, jetzt aus einem Staat. 1972, als der Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten unterzeichnet und das Errichten Ständiger Vertretungen eingefädelt wurde, ahnten dies nicht einmal die Auguren. Eine Paradoxie: Die deutsche Einheit gelang über die vorübergehende Akzeptanz der Teilung.

Nach dem Kapern eines Passagierflugzeuges durch Palästinenser im Oktober 1972 ließ die Bundesregierung die drei überlebenden Geiselnehmer frei. Israel, darob schwer verstimmt, übte massive Vergeltung an schuldigen wie unschuldigen Palästinensern. Und ein halbes Jahrhundert später, kaum zu glauben, dauert der Streit um die Entschädigung für die Hinterbliebenen immer noch an. Was hingegen gut nachvollziehbar ist: Olympisches Dorf und Olympiapark sollen auf die Liste des Unesco-Weltkulturerbes gelangen.

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