Norbert Lammert liest... - Das politische Buch

Robert Menasse geht mit seinem Roman „Die Erweiterung“ in die nächste Runde. Es ist sein zweites Buch über Europa. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hat es für uns rezensiert und sagt, wer es lesen sollte.

Robert Menasse wurde mit „Die Hauptstadt“ 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet / dpa
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Autoreninfo

Norbert Lammert war 2002 bis 2005 Bundestags-Vizepräsident und anschließend bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages. Heute ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Es kommt nicht häufig vor, dass ein Autor nach einem großen, erfolgreichen und preisgekrönten Roman mit seinem nachfolgenden Buch erneut Leser und Kritiker überzeugt – schon gar nicht, wenn er das gleiche Thema noch einmal aufgreift.

Robert Menasse hatte mit seinem Roman „Die Hauptstadt“, für den er 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, sein großes Thema „Europa“ in einer ebenso informativen wie kritischen Weise intoniert: „Eine grandiose Liebeserklärung an Europa und gleichzeitig eine blendend recherchierte Innenansicht der Europäischen Kommission“ (Denis Scheck im Tagesspiegel). 

Sein neuer Roman „Die Erweiterung“ ist mehr als ein „Unterhaltungsroman für gebildete Stände“ (Paul Jandl, NZZ). Menasse führt seine Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis und dem Zustand der europäischen Staatengemeinschaft mit Blick auf die angestrebte und angekündigte Erweiterung um neue Mitglieder am konkreten Beispiel Albaniens weiter. Wobei er die als Einwand regelmäßig beklagten Defizite des Kandidatenlands zum acquis communautaire mit den ebenso regelmäßig verdrängten Vertragsverletzungen von Mitgliedsländern konfrontiert.

Dabei gelingt ihm nicht nur eine meisterhafte Charakterisierung von zentralen politischen Führungspersönlichkeiten wie dem albanischen Ministerpräsidenten, sondern auch von Verhandlungen, Strukturen, Seilschaften, offenen und verdeckten Rivalitäten, die den europäischen Integrationsprozess beinahe folgerichtig an den selbst erzeugten Realitäten scheitern lassen: „Wenn die Gründerväter der europäischen Einigung Realpolitiker gewesen wären, gäbe es keine EU.“

Die EU irrt vorwärts

Für die Schilderung der verworrenen Verhältnisse findet Menasse Prototypen, die in ihren privaten wie dienstlichen Aktivitäten gelegentlich skurril, aber immer lebensnah wirken. Zwei „Blutsbrüder“, durch einen jugendlichen Schwur verbunden, den sie im polnischen Untergrundkampf gegen das kommunistische, von Moskau fremdgesteuerte Regime geleistet haben, machen nach dessen Zusammenbruch beachtliche, aber zunehmend entgegengesetzte politische Karrieren: Der eine wird polnischer Ministerpräsident, der andere ist in der EU-Kommission zuständig für Erweiterungspolitik.

In der Vorbereitung auf eine Westbalkan-Konferenz in Polen wird aus der Jugendfreundschaft im Streit über das Beitrittsgesuch Albaniens eine erbitterte Gegnerschaft. Der Autor verwebt tatsächliche Ereignisse mit fiktiven. Er verbindet sie mit einer grotesken Kriminalgeschichte um den aus einem Wiener Museum gestohlenen Helm des albanischen Volkshelden Scanderbeg, die zur fiktionalen Dokumentation des Scheiterns einer Vision wird, die nicht auf Gestaltung, sondern auf Inszenierung angelegt ist. Am Beispiel eines unvollendeten Kreuzworträtsels verdeutlicht Menasse, wie die hartnäckige Fortsetzung eines anfänglichen Irrtums mit immer neuen Fehlern am Ende tatsächlich ein Lösungswort ergibt, das ebenso folgerichtig wie falsch ist: „Alles, was falsch war, schien logisch, alles.“

Man hätte sich als Leser nach mehr als 600 Seiten anspruchsvoller Literatur, glänzender Unterhaltung wie gnadenloser Aufklärung einen anderen Schluss gewünscht als die heillose Irrfahrt eines spektakulären, irrwitzigen EU-Gipfels auf hoher See. Am Ende löst sich nicht nur die fiktive Handlung der Protagonisten zunehmend auf, sondern auch die Zuversicht auf den realen Fortschritt eines politischen Projekts, bei dem es nicht nur um Erweiterung geht.

Robert Menasse: Die Erweiterung. Suhrkamp, Berlin 2022. 653 Seiten, 28 €

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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