Netflix & Co - Da guckst Du!

Streamingdienste lassen die öffentlich-rechtlichen Sender alt aussehen. Ihr Erfolg ruht auf stabilen Säulen. Der Siegeszug von Netflix & Co. hat gerade erst begonnen – sofern sie nicht Opfer des eigenen Erfolgs werden.

Auftakt eines globalen Siegeszugs: Kevin Spacey als Frank Underwood in der Netflix-Serie „House of Cards“ / A.P.L. Allstar Picture Library
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Max Link arbeitet als freier Autor in Berlin und schreibt für verschiedene Zeitschriften und gern über Pop.

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Eine kleine Schockwelle ging durch Deutschland, als Netflix Ende März, mitten in der Corona-Pandemie, ankündigte, seinen Service einzuschränken. Ausgegangen war die Idee, Netflix zeitweise abzuschalten, von der Schweiz. Deren Netzanbieter Swisscom hielt der Belastungsprobe Corona nicht stand. Kurz darauf wurden derartige Stimmen auch in Österreich laut. Hiesige Netzprovider wie die Telekom hatten zwar versichert, man könne das zusätzliche Streaming stemmen, doch da hatte Netflix schon reagiert – und angekündigt, die Streamingqualität europaweit einzuschränken. 

Letztlich war das Ganze dann halb so wild. Netflix bot weiterhin die gebuchte Auflösung, die Streams wurden lediglich in einer geringeren Bandbreite gezeigt. Sprich: Wer HD gebucht hatte, sah auch weiterhin HD, der Qualitätsverlust wurde kaum bemerkt. Dennoch zeigt diese kleine Episode, wie wenig Netflix inzwischen aus den Leben unzähliger Menschen wegzudenken ist. Viele Kunden werden sich gefragt haben, ob man statt Netflix lieber etwas anderes abschalten könne.

Nur noch 54 Prozent sehen linear

Streamingdienste haben unsere viel zitierten Sehgewohnheiten, die Art und Weise, wie wir fernsehen, tatsächlich für immer verändert. Während klassisches Fernsehen fremdbestimmt war, lässt Netflix seine Abonnenten schauen, was und wann sie wollen. Nach einer Studie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sehen nur noch 54 Prozent der deutschen Fernsehzuschauer das sogenannte lineare Programm an, der Rest streamt. 

Weltweit ist Netflix der Video-Streamingservice mit den meisten Abonnenten. Über 183 Millionen Menschen überweisen dem Konzern monatlich Geld. In Deutschland (je nachdem, in welcher Qualität und auf wie vielen Geräten man die Serien, Filme und Dokumentationen sehen möchte), kostet der Spaß acht, zwölf oder 16 Euro. Auch wenn der Strea­mingdienst von Amazon in Deutschland offiziell einen höheren Marktanteil hat – fast 47 Prozent entfallen auf Amazon Prime, 36 auf Netflix, den Rest machen Sky Ticket, Maxdome und Co. aus –, schaut man hier doch mehr Netflix. Deutsche Zuschauer verbringen mit Netflix mehr Zeit als mit jedem anderen Fernsehanbieter.

Auf die Originals kommt es an

Der Legende nach entstand die Idee zu Netflix, als Unternehmensgründer Reed Hastings Mitte der neunziger Jahre einmal 40 Dollar für eine ausgeliehene DVD hinlegen musste, von der er vergessen hatte, sie rechtzeitig zurückzubringen. Weiter in der Legende war er gerade auf dem Weg ins Fitnessstudio, als ihm plötzlich einfiel: Wieso sollte man für das Ausleihen von Filmen nicht genauso einen monatlichen Festbetrag zahlen können wie für die Mitgliedschaft in einem Sportstudio? Eine nüchternere Erzählung bietet Mitgründer Marc Randolph an: Ihm zufolge wollte man schlicht etwas Ähnliches wie Amazon aufziehen. Wer 1997, im Jahr der Firmengründung, ein Netflix-Abo besaß, konnte sich so viele DVDs zuschicken lassen, wie er wollte. Aus diesem Modell entstand erst Ende der 2000er-Jahre der Streamingdienst, den wir heute als Netflix kennen. Jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Es gab damals noch keine eigenständigen Netflix-Produktionen.

Um auf dem Markt bestehen zu können, würde es auf Dauer nicht ausreichen, nur die Lizenzen fremder Inhalte einzukaufen. Anfang der 2010er Jahre begann Hastings, Netflix zum Produktionsstudio zu erweitern. Die erste Eigenproduktion wurde die im Frühjahr 2013 erschienene Polit­thrillerserie „House of Cards“, in der Kevin Spacey den korrupten Politiker Frank Underwood spielt. Es folgten „Orange is the New Black“, eine Serie über eine junge Amerikanerin, die aus Versehen in einem Frauengefängnis landet, und „Narcos“, eine Serie über das kolumbianische Drogenkartell. Heute sind immer mehr Serien, Filme und Dokumentationen solche Originals, also direkt von Netflix in Auftrag gegebene Produktionen. Originals sind entscheidend. Sie garantieren Netflix neue Abonnenten. Die nostalgisch in den Achtzigern schwelgende Serie „Stranger Things“ wurde zum Aushängeschild überhaupt für das Unternehmen. 

Verbunden durch dieselben Geschichten

Diese großen Erkennungsmarken sind aber nur die eine Seite des Systems Netflix. High-End-Serien wie „Stranger Things“ und „House of Cards“ ziehen die Abonnenten und ermöglichen damit Serien für die Nische, zum Beispiel die Ende März erschienene Miniserie „Unorthodox“, die von der Selbstbefreiung einer Jüdin aus einer ultraorthodoxen Community erzählt – eine lose Adaption des gleichnamigen Romans der jüdischen Autorin Deborah Feldman.

„Unorthodox“ steht beispielhaft dafür, was ein System wie Netflix, das keine Ländergrenzen kennt, erst ermöglicht. In dieser Form wäre die Serie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bereits an der Sprache gescheitert. Gerade diese macht die Serie aber aus: Neben Englisch und etwas Deutsch spricht man hier über weite Strecken Jiddisch. 

„Unorthodox“ spielt zwar im Mikrokosmos der jüdischen Satmarer-Gemeinde in New York, einer sektenähnlichen Gemeinschaft, die den Holocaust für eine Strafe Gottes hält und in der Frauen kaum mehr als Gebärmaschinen sind, doch sie handelt von der Selbstermächtigung einer jungen Frau. Die Serie ist nicht nur gut gemacht und ohne Unterbrechung anzuschauen (im Jargon: wegzubingen), sie entspricht auch exakt der Erwartung, die Netflix an internationale Produktionen stellt. Eine universelle Geschichte wird in einem lokalen Setting erzählt. Die Idee dahinter: Wir mögen zwar an verschiedenen Orten leben und einen unterschiedlichen Hintergrund haben. Verbunden sind wir aber durch dieselben Geschichten. 

Netflix lässt die Öffentlich-Rechtlichen alt aussehen

Auf der Suche nach diesen universellen Geschichten, die Netflix seinem globalen Publikum erzählen will, zieht es das Unternehmen verstärkt nach Deutschland. Deutsche Produktionen gibt es auf der Plattform schon einige. Die erste deutsche Netflix-Serie „Dark“ gehört zu den meistgesehenen und beliebtesten überhaupt. Die Serie spielt in Winden, einer fiktiven, typisch deutschen Kleinstadt samt Kernkraftwerk und dunklem Wald. Eigentlich handelt die Serie aber vom Zeitreisen; ein Onlineforum auf Reddit beschäftigt sich ausschließlich mit Theorien über den Fortlauf der Handlung. Unter anderem ist es dem erfolgreichen „Dark“ zu verdanken, dass Netflix noch viel mehr deutsche Serien produzieren lassen will. Die Schöpfer der Serie, Baran bo Odar und Jantje Friese, wurden von Netflix gleich mit neuen Projekten betraut: Eine Verfilmung des Romans „Tyll“ von Daniel Kehlmann ist ebenso in Planung wie eine Serie mit dem Titel „1899“ über Auswanderer auf einem Dampfschiff.

Im Herbst vergangenen Jahres bezog Netflix ein Büro an der Berliner Friedrichstraße. Das Team von Netflix Deutschland, das Serienkonzepten zustimmt oder sie ablehnt, besteht aus nur fünf Personen. Verglichen damit, meinte Die Zeit kürzlich, wirkten die öffentlich-rechtlichen Sender, bei denen dieser Prozess sich meist über Wochen und Monate hinzieht, so beweglich wie Galapagos-Schildkröten.

Netflix hat nicht nur unsere Sehgewohnheiten verändert, sondern auch die Art und Weise, wie Fernsehen entsteht. Produktionen gehen bei Netflix für gewöhnlich weit schneller über die Bühne. Die durchschnittliche Vorgabe für eine Serienstaffel lautet: zwölf Monate. Hierzulande hat man dafür normalerweise etwa doppelt so viel Zeit. Unter anderem zu verdanken ist diese neue Schnelligkeit auch dem Umstand, dass es wegen Netflix in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft neuerdings sogenannte Showrunner gibt. Ein Showrunner entwickelt Idee und, gemeinsam mit anderen Autoren, Drehbuch einer Serie, ist gleichzeitig aber auch dafür verantwortlich, die Produktion finanziell und logistisch zusammenzuhalten. Der Ruhm, der bei Filmen normalerweise dem Regisseur zukommt, gehört beim Serienmachen den Showrunnern. 

Das Netflix-Paradox

Dass Netflix den hiesigen Sendern mehr und mehr Talente wegschnappen wird, scheint sicher. Das Prestige von Netflix, auf Bildschirmen in aller Welt zu laufen, ohne Werbeunterbrechungen, ohne dass nur eine Folge pro Woche ausgestrahlt wird, können andere Sender den Autoren, Regisseuren und Schauspielern nicht bieten. Netflix geht aber auch Risiken ein, die andere nicht eingehen. Das deutet zumindest der Fall der Produzenten Philipp Käßbohrer und Matthias Murmann an. Öffentlich-rechtliche Sender gaben deren Firma ­bildundtonfabrik keine Chance, eine Serie zu produzieren, da sie noch nie zuvor „Fiktion gemacht“ hätten, erklärten sie der Süddeutschen Zeitung. Obwohl sie bereits mehrere preisgekrönte Formate, zum Beispiel die Talkshow „Roche und Böhmermann“, entwickelt hatten, sah erst Netflix ihr Talent, eine innovative Serie zu entwerfen. 

Käßbohrer und Murmann sind Showrunner der dritten deutschen Netflix-Serie, „How to Sell Drugs Online (Fast)“. Die Serie knüpft lose an einen Artikel aus dem Magazin Vice an, der von Maximilian S. handelt, einem Schüler, der aus seinem Kinderzimmer in einem Leipziger Vorort kiloweise Partydrogen im Darknet verkaufte. Eigentlich handelt die Serie jedoch von jugendlicher Rebellion, der ersten großen Liebe, abermals von Dingen, mit denen fast jeder Abonnent etwas anfangen kann. Das ist die Erwartungshaltung von Netflix: Serien müssen ein globales Publikum ansprechen. Und darüber hinaus müssen sie mehr als nur durchschnittlich gut erzählt und gemacht sein.

Viele sind dann aber eben doch genau das: Durchschnitt. Paradoxerweise trägt daran gerade die große Konkurrenz Mitschuld. Der Streamingmarkt ist mit einem Mal nämlich hart umkämpft. Neben Amazon verfügt seit Ende letzten Jahres auch Apple über einen eigenen Streamingdienst namens Apple TV+, Anfang April stieß Disney mit Disney+ hinzu. Der Vorteil der anderen ist, typisch für den Plattformkapitalismus, dass ihr Kerngeschäft außerhalb des Streamings liegt. Netflix ist hingegen ganz auf seine Abonnenten angewiesen. Und die bleiben nur, wenn man ihnen mehr bietet als die anderen. Für Netflix wächst damit der Druck, Originals zu produzieren. Dieser steigende Druck führt vermehrt zu mittelmäßigen Produktionen. Beinahe hat man das Gefühl, als würde Netflix nach dem Motto „viel hilft viel“ immer neue Inhalte rasend schnell produzieren.

Der Konkurrenzdruck führt zu immer mehr Mittelmaß

In der digitalen Videothek findet man unzählige mittelmäßige Filme. Ärgern kann man sich beispielsweise über die Verfilmung eines Joan-Didion-­Romans, „The Last Thing He Wanted“, durch Regisseurin Dee Rees. Hier stimmt wirklich ästhetisch wie dramaturgisch gar nichts. Fast genauso schief geht die erst im März erschienene Serie „Freud“, in der der Ahnherr der Psychoanalyse zum Mystiker und Profiler entstellt wird. Sobald ein wenig Atmosphäre im Wiener Fin-de-Siècle-Setting aufkommt, wird sie vom nächsten hölzernen Dialog zerstört. Wie ist das mit dem Qualitätsanspruch von Netflix vereinbar? Man braucht eben Originals. Schwarze Zahlen schreibt das Unternehmen damit nicht, es ist hoch verschuldet. 2019 gab Netflix über 15 Milliarden Dollar für eigene Produktionen aus.

Wer heute bei Netflix vorbeischaut, wird von all den Filmen, Serien und Dokumentationen beinahe erschlagen. Schätzungen zufolge könnte man rund dreieinhalb Jahre in der Videothek von Netflix verbringen, ohne je ein Fernsehbild zweimal zu sehen. Es ist richtig, dass die größte Veränderung von Netflix die Freiheit vom linearen Programm ist. Aber ganz frei macht Netflix auch wieder nicht. Um sich in der audiovisuellen Gemengelage zurechtzufinden, ist man als User auf einen Algorithmus angewiesen. Dieser bestimmt, was wir sehen. Zumindest für viele. Statistisch gesehen entdecken Abonnenten mehr als 80 Prozent aller Filme und Serien nur aufgrund von algorithmischen Vorschlägen. Diese sind vor allem darauf ausgelegt, den Abonnenten in seinem bisherigen Geschmack zu bestätigen und ihn so möglichst lange auf der Plattform zu halten. Ohnehin versucht man Letzteres nicht nur durch gute Drehbücher, sondern auch mit technischen Tricks wie dem Autoplay, also dem automatischen Abspielen der nächsten Folge, nur wenige Sekunden, nachdem der Abspann der letzten begann.

Die Herrschaft der Daten über unsere Sehgewohnheiten

Datenauswertung ist bei Netflix eine zentrale Säule des Geschäftsmodells. Netflix weiß, wann die Nutzer welche Inhalte sehen, wann sie Pause machen, wann sie eine Serie verlassen. Mit diesem Wissen kann Netflix immer besser vorhersagen, wer von seinen Nutzern welche Sendungen sehen will. Die Kunden derart exakt zu kennen, bietet völlig neue Möglichkeiten der Vermarktung. Für „House of Cards“ veröffentlichte Netflix bei Serienstart mehrere Trailer für verschiedene Zuschauergruppen. Einer zeigte viele Großaufnahmen von Kevin Spaceys Gesicht, ein weiterer rückte den Regiestil David Finchers in den Vordergrund. Die Herrschaft der Daten kann genauso gut zu dem führen, was man im Fachjargon als „amputierte Serien“ bezeichnet: Serien, eigentlich für mehrere Staffeln konzipiert, werden schon nach der ersten Staffel abgesetzt.

Erst kürzlich äußerte der Schauspieler Edin Hasanovic auf Instagram seinen Unmut darüber, dass es von der von Netflix produzierten Serie „Skylines“, in der er die Hauptrolle spielte, keine zweite Staffel gebe. Im Vergleich zu den ebenfalls von Netflix produzierten „Dogs of Berlin“ ist Skylines die weitaus interessantere Serie, die im Straßenmilieu spielt. Frankfurter Halbwelt und Hip-Hop-Showbiz treffen aufeinander, alles wird erzählt aus der Sicht eines jungen und naiven Musikproduzenten. Doch anstatt „Skylines“ erhielt „Dogs of Berlin“ eine zweite Staffel. Wieso? Nun, ganz einfach: Die Daten wollten es so.

Eine Welt, ein Publikum

Netflix hat die Art verändert, wie wir fernsehen, wenn auch nicht derart radikal, wie es behauptet wird. Es gibt sie immer noch, die mittelmäßigen, einfallsarmen Serien, und auch um eine gemeinsame ­Seherfahrung, die beim individuell zeitversetzten Streamen eigentlich wegfällt, ist man bemüht. So enthält Netflix seit März dieses Jahres ein neues Feature, das zeigt, was andere Menschen in Deutschland gerade schauen. Der „Tatort“ am Sonntagabend musste nie besonders gut sein – die Vorstellung, ihn mit Millionen Menschen gemeinsam zu sehen, macht ihn zum Ereignis. Nun weiß ich zumindest, dass Anfang April sehr viele Menschen in Deutschland gemeinsam mit mir die Serie „Better Call Saul“ und die Dokumentation „Tiger King“ angesehen haben.

Vielleicht sind die fehlenden Ländergrenzen die größere Sehrevolution. Gerade in Quarantänezeiten entpuppte sich dies als Gewinn. So kann ich zwar nicht nach Island reisen, mir aber immerhin die achtteilige Serie „The Valhalla Murders“ ansehen. Sie beeindruckt durch atmosphärische Dichte. Die Serie spielt in Reykjavík, nach einigen Folgen verschlägt es einen in den Norden des Landes. Da die Serie nicht nur auf den Plot, sondern auf die Zeichnung der Figuren ausgelegt ist, bekommt man – zumindest als jemand, der noch nie dort gewesen ist – tatsächlich etwas davon mit, wie es sich anfühlen mag, in einem Land zu leben, in dem jeder jeden kennt und mit Vornamen anspricht. 

Fans hatten herausgefunden, dass die dritte Staffel der Serie „Dark“ Ende Juni ihr Finale erleben wird – bevor Netflix den Termin bekannt gab. Dass Menschen in den USA, Schweden und Chile kollektiv einer deutschen Serie entgegenfiebern, die so berauscht von der Waldeinsamkeit ist wie einst Caspar David Friedrich, das ist wirklich neu.

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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