Tag der Befreiung - Verbrechen lassen sich nicht aufrechnen

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. 40 Jahre später erklärte Richard von Weizsäcker in einer Rede diesen Tag zu einem „Tag der Befreiung“. Die Niederlage der Deutschen beendete die NS-Diktatur. Bis heute bleibt die Frage, wie wir uns angemessen an die Gräueltaten erinnern

Bilder können helfen, über das Geschehene nachzudenken. Dieses stand vor vier Jahren vor dem Brandenburger Tor / picture alliance
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Autoreninfo

Rainer Paris, Jg. 1948, war bis 2013 Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze in Fach- und Kulturzeitschriften, unter anderem im „Merkur“ und zuletzt die Bücher: „Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie“ (Weilerswist 2015) und „Ein Ball. Kleine Schriften zur Soziologie“ (Heidelberg 2016).

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Als Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Deutschen Bundestag vom 8. Mai 1945 als einem „Tag der Befreiung“ sprach, war die Resonanz auf diese Wortwahl gewaltig. Nie zuvor, so schien es, sei in dieser Klarheit in der westdeutschen Politik und Gesellschaft von der nationalsozialistischen Vergangenheit so geredet worden. Dabei hatte er eigentlich nur eine allseits bekannte Tatsache benannt: Die Niederlage im Krieg beendete gleichzeitig die NS-Diktatur.

Woher kam diese durchschlagende Wirkung? Nun, die Rede von Weizsäckers unterschied und entkoppelte zwei Paradigmen, die in der bundesrepublikanischen Sicht auf den Nationalsozialismus und den durch Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieg allzu oft vermischt und gegeneinander ausgespielt wurden. Das Referenzsystem der „Niederlage“ ist der Krieg, das der „Befreiung“ die Diktatur. Wo vorher in Rhetorik und Erinnerung zumeist von „der Katastrophe“ die Rede war, schlug die begriffliche Differenzierung mit einem Mal eine Schneise, die fortan kognitiv und moralisch nicht mehr ignoriert werden konnte.

Indirekt war damit zugleich der Unterschied des Schicksals der Deutschen zu allen anderen Ländern angesprochen, die im Krieg von den Deutschen besetzt worden waren. Für sie bedeutete der Sieg der Alliierten zugleich die Befreiung vom Terror der Besatzungsmacht. Sie hatten allen Grund für überschäumende Freude und Jubel. Die Deutschen hingegen hatten alle Veranlassung, die Vergeltung der Sieger zu fürchten.

NS-Diktatur war Zustimmungsdiktatur

Die NS-Diktatur war ja, anders als beispielsweise die DDR, bis in die letzten Kriegsmonate hinein immer noch weitgehend eine Zustimmungsdiktatur geblieben, die Loyalität zum „Führer“ war trotz der sich abzeichnenden Niederlage in breiten Bevölkerungskreisen ungebrochen. Der Historiker und Hitler-Biograph Ian Kershaw hat diese Situation als „charismatische Herrschaft ohne Charisma“ charakterisiert.

Nicht das Gefühl der Unterdrückung, sondern die Angst vor der Niederlage und ihren Folgen stand für fast alle im Vordergrund. Dass die Kapitulation der Wehrmacht zugleich die Befreiung von der Nazi-Diktatur war, war nur für eine Minderheit der Deutschen das ausschlaggebende Moment. Wie aber befreit man Menschen, die gar nicht wissen, dass sie eine Befreiung nötig haben?

Das gegeneinander Ausspielen von Kriegsgräueln

Stattdessen gewannen schon bald nach dem Kriegsende und spätestens in den fünfziger Jahren in beiden deutschen Staaten Legitimationsmuster an Boden, die in unterschiedlicher Weise Kriegsgräuel, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und staatlich organisierte Massenverbrechen unter jeweils anderen ideologischen Vorzeichen in Beziehung setzten und häufig im Endeffekt gegeneinander ausspielten. Die Verbrechen des einen wurden gegen die Verbrechen des anderen aufgerechnet, und damit indirekt ein Stück weit entschuldigt. Dies ist bis heute eine beliebte Rechtfertigungsstrategie, im Grunde nur eine Variante des bekannten Prinzips „Haltet den Dieb!“.

Während der deutschen Belagerung Leningrads sind eine Million Menschen umgekommen, die meisten verhungert. Die von Stalin verfügte und organisierte Hungersnot in der Ukraine zu Beginn der dreißiger Jahre kostete dreieinhalb Millionen Menschen das Leben. Welchen Sinn sollte es haben, die Verhungerten gegeneinander aufzurechnen? Nein, Opfer von Massenverbrechen muss man addieren, nicht voneinander abziehen. Kein einziges Opfer ist durch die Opfer anderer Täter in anderen Konstellationen und Zusammenhängen gerechtfertigt.

Vergleiche nicht grundsätzlich illegitim

Dennoch sind Vergleiche keineswegs grundsätzlich falsch oder illegitim. Gerade der Abgleich von Ähnlichem ermöglicht soziale und historische Differenzierungen und damit wichtige Erkenntnisfortschritte. Zugleich kann er freilich auch Strukturgesetzmäßigkeiten freilegen, die manch einem unerwünscht sind.

So werden Vergleiche von Stalinismus und Nationalsozialismus oftmals auch deshalb tabuisiert, weil sie Gemeinsamkeiten zwischen den staatlichen Gewalt- und Terrorsystemen aufzeigen könnten, die dem Zeitgeist und seinen moralischen Imperativen zuwiderlaufen. Man denke hier auch an die kaum vorhandene und unwillige Rezeption von Hannah Arendts Totalitarismustheorie in der sozialwissenschaftlichen Linken und der Frankfurter Schule.

Wie angemessen erinnern und gedenken?

Von der gegenseitigen Aufrechnung der Verwüstungen und Verbrechen ist die Asymmetrie der Gründe zu unterscheiden. Die Anwesenheit der Roten Armee in Berlin im Mai 1945 hatte wesentlich bessere Gründe als die Anwesenheit deutscher Truppen vor Moskau drei Jahre zuvor. Die Deutschen hatten dort einfach nichts zu suchen! Es gibt keine Rechtfertigung für den von Hitler vom Zaun gebrochenen barbarischen Eroberungskrieg.

Trotzdem ist auch hier die moralische Asymmetrie nicht total. So waren es zum Beispiel sehr schlechte Gründe, aus denen Stalin im Herbst 1944 den Vormarsch der Roten Armee vor den Toren Warschaus abstoppen ließ, um abzuwarten, bis Wehrmacht und SS den Warschauer Aufstand niedergeschlagen hatten. (Dies war gewissermaßen eine Neuauflage des Hitler-Stalin-Pakts, nun aber mitten im Krieg.) Kurzum: Auch beim Wägen der Gründe geht es stets um die Betrachtung des Einzelfalls.

Es bleibt ein Problem auf Dauer: Wie können wir angemessen erinnern und gedenken? In jedem Fall ist es falsch, das Gedenken ideologisch aufzuladen und für heutige Konflikte zu instrumentalisieren. Aufrechnen und Verteufeln nützen niemandem und verdrängen im Grunde die Ehrung der Opfer. Ein kleiner Ausweg sind Bilder: Sich einige Fotos aus dieser Zeit vornehmen, sich darin versenken und dann – Nachdenken!

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