WM-Aus der deutschen Nationalmannschaft - Sechs Lektionen

Gründlicher als die deutsche Nationalelf bei der Fußball-WM in Russland konnte sich ein Weltmeister nicht entzaubern. Es war ein Debakel mit Ansage – und es hält Lektionen parat, die diesseits wie jenseits des Fußballs von Belang sind. Von Alexander Kissler

Joachim Löw: Hinabgestürzt vom Berg der eigenen Ergriffenheit / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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1. Hochmut kommt vor dem Fall

In zwei Interviews vor der Fußballweltmeisterschaft nannte Bundestrainer Joachim Löw sich selbst einen Visionär. Das Fachmagazin kicker übernahm die Aussage und titelte neben einem fast bildfüllenden Porträt: „Löw. Der Visionär im großen WM-Gespräch.“ Ob solcher Selbstbezichtigung ist dem badischen Sportlehrer keineswegs der Gang zum Arzt zu empfehlen, wie es einst Bundeskanzler Helmut Schmidt Menschen riet, die Visionen haben. Wohl aber spricht aus diesen Worten ein Hochmut, der nicht zu den jahrelang vom DFB gepredigten Tugenden deutscher Seriosität und Bodenhaftung passt. Wer sich als Visionär begreift und es offensiv ausspricht, der steht über dem Alltagsgeschäft, über der Gegenwart, der hat einen klaren Blick auf eine ferne Zukunft, die den Kleingeistern am Boden verschwommen erscheint. Der hat abgehoben, der ist abgehoben. Natürlich braucht es in jedem Leistungsbereich Langzeitperspektiven. Sich persönlich vor der bedeutendsten internationalen Konkurrenzveranstaltung aus der Konkurrenz zu nehmen und auf eine dionysische Rolle zu pochen, deutet jedoch nicht auf Augenmaß, sondern auf einen schweren Kategorienfehler. Hier sprach kein Trainer, sondern ein Prophet in eigener Sache. Der dann vom Berg seiner Ergriffenheit hinab stürzte.

2. Es gibt keine Nebenschauplätze

Ein vormodernes Öffentlichkeitsverständnis spricht aus der Überzeugung des DFB, man könne den Fußball heute in Staats- und Nebenaktionen unterteilen und diese Scheidung autoritativ durchsetzen. Heute ist fast alles Öffentlichkeit, was nicht eigens als Privatsphäre geschützt wird. Den berühmten Flaschenhals der Aufmerksamkeit gibt es nicht mehr. Was Fußballprofis auf ihren sozialen Kanälen verbreiten, was sie in Interviews sagen oder bewusst verschweigen, welche Botschaften zahlende Sponsoren mit hohem Aufwand vervielfältigen: all das gehört untrennbar zum Profifußball und ist ebenso relevant. Das törichte Engagement der türkischstämmigen Nationalspieler Ilkay Gündogan und Mesut Özil für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und das katastrophale Management dieser Affäre durch den DFB ergaben ein schrilles Auftaktgeräusch. So war die Axt an den Zusammenhalt von Beginn an gelegt. (Vielleicht hatte das Foto des ägyptischen Stars Mohamed Salah mit dem tschetschenischen Machthaber Kadyrow einen ähnlich großen Einfluss auf das enttäuschende Abschneiden der Ägypter) Kaum weniger destruktiv wirkte sich die allseitige Verwertungsgier aus. Man musste den Eindruck gewinnen, da träte keine Mannschaft an, sondern ein Ensemble perfekt gecasteter Werbeträger. Zwischen „Best never rest“- und „ReDefiningSuccess“-Werbekampagnen zerrann die Unterscheidbarkeit und damit die Begeisterungsfähigkeit. Dem Hyperkapitalismus ist alles gleich. Er macht alle gleich.

3. Jede Gruppe braucht eine Identität

Fußball ist ein Mannschaftssport. Wer ihn als Zugewinngemeinschaft talentierter Ich-AG.s begreift, wird keine Spiele gewinnen, zumindest nicht dauerhaft. Joachim Löws „Matchpläne“ müssen vom russischen Zoll einbehalten worden sein. Dreimal gab es Spiele ohne Spielidee zu besichtigen. Ohne Ideen kann keine Identität wachsen, und ohne Identität zerfällt jede Gruppe. Wenn Guido Buchwald, Fußballweltmeister von 1990, nun erklärt, „das Ausscheiden hat mentale Gründe“, während Sebastian Schweinsteiger, Weltmeister von 2014, vor der WM überzeugt war, die anderen Nationen beneideten Deutschland um seine „Mentalität“, ist das Entscheidende benannt: Eine Gruppe muss wissen, was sie zusammenhält, welches Ziel sie verbindet, welche Mittel sie anwendet, um andere Gruppen in Schach zu halten. Fußball ist prinzipiell agonal. Man muss gemeinsam besser sein wollen als der jeweilige Gegner. Den diesjährigen WM-Kader verband die vage Hoffnung, irgendwie ein gutes Turnier zu spielen. Und so spielten sie dann auch: irgendwie.

4. Fassaden stürzen ein

Es ist lange her, dass die DFB-Elf ein wirklich überzeugendes Spiel gemacht hat. Mats Hummels taxiert die Zeit des Darbens auf zehn Monate. Schlechte Testländerspiele waren die Norm. Österreich erwies sich in der Vorbereitung als zu stark, Saudi-Arabien agierte gleichwertig, und immer hörte man aus den Reihen der hauptamtlich Verantwortlichen: Keine Bange, bei Turnierstart in Russland werde alles in Ordnung sein. Joachim Löw sei da „extrem fokussiert“. Pustekuchen. Erfolge geben Sicherheit, Misserfolge verunsichern. Die schöne Fassade aus Geschichte, Bedeutung und Aufmerksamkeit zerbrach an der Wirklichkeit. Man hatte es sich eingerichtet in einem luxuriösen Potemkin’schen Dorf. Die Wirklichkeit entlarvte die Schönrednerei. Die Satten blieben satt, die innere Spannung stellte sich nicht ein, das Team verlor jeden Fokus. Die Weltmeisterschaft zeigte einen Weltmeister im Testspielmodus. Folgerichtig haben wir bald einen anderen Champion. Einen Fassadenstürmer.

5. Variation schlägt Konvention

Bemerkenswert rasch zeigte sich in Russland: Ein Team, das nur das immer Gleiche verwaltet, hat keine Zukunft. Auf dem Platz herrschte die pure Reaktion. Retro war hier alles, freilich im Sound und im Styling der Spätmoderne. Die klobige Sonnenbrille, die der gesperrte Jerome Boateng beim Südkorea-Debakel auf der Tribüne präsentierte, taugt zum Symbolbild. Hip sieht das aus und hochpreisig, doch auf dem Platz feierte schnarchiger Querpassfussball eine tumbe Wiederkehr. Parallelen zur rumpligen Ribbeck- und Völler-Ära waren mit Händen zu greifen, subtrahiert freilich um die Leidenschaft zur Grätsche. Eine aktuelle Musikkritik in der Süddeutschen Zeitung endet mit dem Satz: „Damals gab es noch richtige Tempi.“ Gemeint sind klassische Aufnahmen aus den Jahren 1985 bis 2001. So weit muss der Fußballbetrachter nicht zurückgehen, das Jahr 2014 reicht. Der Befund ist derselbe: Ohne Tempo und ohne Tempowechsel, ohne Variation im Spielaufbau, ohne Innovation in der Spielanlage findet der Ball nur zufällig ins Tor. Joachim Löws Männer zeigten sich in Russland als Verwalter ihrer einstigen Größe. Alte Rezepte taugen selten für neue Herausforderungen.

6. Nichts ist alternativlos

Die Selbstkritik des Bundestrainers nach dem Südkorea-Spiel deutet darauf hin, dass er sich seiner Gesamtverantwortung bewusst ist und einen Rücktritt erwägt. Diese Überlegung ehrt ihn. Schon bei der Kaderzusammenstellung mit den frühzeitig vergebenen Stammplätzen für die erprobten Recken von 2014 aber vermittelte er bei zu vielen Positionen den Eindruck, diese oder jene Besetzung sei alternativlos. Bei Lichte betrachtet war es weder der bestenfalls durchschnittliche Manuel Neuer im Tor, noch der gegen Südkorea in die Startelf zurückgekehrte und pomadig irrlichternde Sami Khedira oder der konstant fahrige Joshua Kimmich. Aus einem absichtsvoll gedrosselten Konkurrenzkampf gehen nur in Ausnahmefällen Siegertypen hervor. Wer intern mit dem Wettbewerb fremdelt, der wird extern in keinem Wettbewerb triumphieren. Der bloße Bestand gewinnt keine Zukunft, die Gewöhnung keine Spiele. Herbert Grönemeyers Lied zur Weltmeisterschaft 2006 lautete: „Zeit, dass sich was dreht“. So ist es.
 

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