Michel Houellebecqs Rede - Der Geist steht nicht mehr links

Kisslers Konter: Michel Houellebecqs Berliner Rede war eine scharfe Anfrage an die deutschen Verhältnisse und wurde missverstanden. Wer den Linken ihre Neigung zur Unfreiheit vorwirft, muss mit Widerstand rechnen. Dahinter steckt die Sorge um Machtverlust

Harter Tobak für deutsche Ohren: Michel Houellebecq / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die Beunruhigung mag nicht enden. Michel Houellebecqs Berliner Rede traf einen Muskel im deutschen Bewusstseinsgewebe. Wie chirurgisch genau der Gast aus Frankreich den Gastgebern ins Innere griff, zeigen die Reaktionen in dem, was sie verschweigen oder an den Rand rücken. Natürlich blieb Houellebecq der Islamkritik treu und verlängerte das Szenario seines Romans „Unterwerfung“ auf ganz Europa. Der Kontinent als solcher begehe kulturellen wie demographischen Suizid im Angesicht eines expandierenden Islams. Und natürlich warf er sich zuverlässig machohaft für die Legalität der Prostitution in die Bresche. Vor allem aber stellte er die zwei heikelsten Fragen anno 2016: Ist die Linke nur noch ein Milieu und keine Denkweise mehr? Und ist dieses linke Milieu ein Feind der Freiheit?

Appell für ein „neues Denken“

Schriftsteller fragen auch dann, wenn sie Aussagen formulieren. Jeder Punkt ist ein Fragezeichen, sonst gäbe es nur letzte Sätze, wäre alle Literatur Epilog. Wenn Houellebecq sich nun laut vernehmbar in der Kunst des Abschieds übte, des Abschieds vom Abendland, vom Mann und von der eigenen Zeitgenossenschaft, ist so viel Enden eine Vorbereitung zum Aufbruch. Da bricht ab, was sich aufraffen sollte. Houellebecq schloss deshalb mit dem Appell für ein „neues Denken“. Die professionellen Denker, die Intellektuellen, sollten tun, was Schriftsteller wie er vorbereitet hätten und sich ebenfalls aus der „Zwangsjacke der Linken“ befreien. Ein dezidiert anti-linkes Denken wäre die Folge.

Harter Tobak, zumal in deutschen Ohren, denen der Gleichklang von Emanzipation, also Befreiung, und Linkssein ein Gassenhauer ist. Nicht so für Houellebecq. Er verweist auf die „monströse Grausamkeit der französischen Revolutionäre“ und die gegenwärtige „Rückkehr der Sozialisten an die Macht“, unter denen sich die innere Auszehrung des Westens wie auch der linken Denkungsart beschleunigt habe. Die Linke hat sich demnach zum Milieu verpuppt, hermetisch geschlossen im Inneren, „immer aggressiver und bösartiger“ nach außen. Einzelkämpfern wie ihm und seinen verstorbenen Schriftstellerkollegen Philippe Muray und Maurice Dantec sei es aufgetragen, „einzig und allein für ihre Leser“ zu schreiben, „ohne jemals an die Begrenzungen und Befürchtungen zu denken, die die Zugehörigkeit zu einem Milieu einschließt.“

Die deutsche Linke schießt zurück

Das Juste Milieu schoss zurück. Houellebecqs Rede sei eine Botschaft aus dem Führerbunker, schwer erträglich, wirr, muffig, nekrophil. Da zündle jemand und sei in seiner Unterstellung „eine Zumutung“. Das darf man so formulieren, bitte sehr. Das Entscheidende aber wird auf ein Nebengleis gerückt: Die bitterernste Anfrage des diesjährigen Trägers des Frank-Schirrmacher-Preises, ob auch hierzulande im Namen des Linken und durch Linke Freiheiten beschnitten werden. Ob sich auch im Deutschland der Regierung Angela Merkel, Heiko Maas und Manuela Schwesig Freiheitsverluste als Demokratiegewinne drapieren. Ob auch in Berlin an einer publizistischen Zwangsjacke gestrickt wird, die das Denken fesselt. Und ob auch an den deutschen Universitäten Milieutreue vor Gedankenfreiheit geht.

Um „Aber nein doch!“ entgegnen zu können, muss man Optimist, Opportunist oder Linker sein. Houellebecq, gestand er nun in einem Interview mit der Schweizer Weltwoche, teilte nie die Meinungen der Linken, „in keinem Bereich“. Jedoch sei er auch „nie wirklich für die Rechte gewesen.“ Heute indes seien die Linken „verloren, weil sie keinerlei Unterstützung von der Bevölkerung haben. Das können sie kaum ändern, ihre Ideen werden großenteils abgelehnt.“

Provokation trifft unser Selbstverständnis

Insofern trifft die französische Provokation das deutsche Selbstverständnis ins Mark. Wenn schon in Paris der Geist nicht mehr links steht – wo steht er bei uns? Aus welchen Quellen könnte er sich erneuern? Aus jenen, die Houellebecq andeutete, aus den Quellen der literarischen Tradition, der Modernekritik und des politischen Realismus? Über diese peinliche Befragung hinwegzugehen, hieße den Ernst der Lage und den Unernst dessen zu verkennen, was wir Debatte nennen und doch oft nur Klientelpflege ist, Selbstberuhigung und Bequemlichkeit. Mit einem Wort: Dummheit.

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