Özil und die Integration - Der islamische Faktor

Ein Fußballnationalspieler zieht sich zurück. Mesut Özil begründet seinen Schritt auch damit, dass er als Moslem nicht hinreichend wertgeschätzt worden sei. Doch so verschärft er jenen Loyalitätskonflikt, den er beklagt

Am Fall Özil zerschellen gleich zwei Integrationsmythen / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Der Fall Mesut Özil bewegt die Gemüter, weil Özils Rückzug aus der deutschen Fußballnationalmannschaft und die nachgeschobenen Gründe eine Frage aufwerfen, die in dieser Klarheit bisher nicht gestellt worden ist: Warum muss ein deutscher Staatsbürger, hier geboren und hier aufgewachsen, ein Mann, dessen erste Sprache Deutsch ist, überhaupt integriert werden? Weshalb soll er Objekt einer Integrationsmaßnahme sein? Mesut Özil aus Gelsenkirchen vermutet, es liege daran, dass er Moslem ist.

Damit macht der Einkommensmillionär, der seit 2010 den Lebensmittelpunkt im europäischen Ausland hat, ein tiefes, tiefes Fass auf. Er koppelt in seiner Selbsterklärung vom 22. Juli, die nach Meinung des Journalisten Eren Güvercin überdies in Sprache und Form der Propaganda der Erdogan-Partei AKP ähnelt, das subjektive Empfinden an eine objektive Tatsache, die Religionszugehörigkeit. Achtmal spricht Özil im Statement von Respekt, den er erweisen will oder bitter vermisst, viermal von seinen Wurzeln, sechsmal von seiner Herkunft. Respekt, Wurzeln und Herkunft kreisen um das „Land meiner Familie“, die Türkei, und um die dort vorherrschende, vom derzeitigen Staatspräsidenten Erdogan massiv geförderte Religion, den Islam. 

Zwei Integrationsmythen zerschellen

Özil, Teilnehmer einer Pilgerfahrt nach Mekka und „mehrfacher“ (Özil) Gesprächspartner Erdogans seit 2010, sucht womöglich auch deshalb dessen Nähe, weil er die Islamisierung der Türkei gutheißt. Warum verweist Özil auf sein Muslim-Sein, um dem Vorwurf, er werde respektlos behandelt, Nachdruck zu verleihen? Er sieht sich in seiner Glaubenshaltung nicht wertgeschätzt. Er fordert Respekt für seine „Herkunft, sein Erbe und seine familiären Traditionen“ und also auch für den Islam.

Am Fall Özil zerschellen gleich zwei Integrationsmythen. Es zeigt sich erstens, dass noch die Kinder der Zugewanderten – die Secundos, wie man in der Schweiz sagt – von ihrem Land reden können und das Land der Eltern meinen. Ihre Heimat ist dann nicht ihr Geburtsland, sondern das Herkunftsland von Vater und Mutter, obwohl sie nicht dessen Staatsbürger sind. Ähnliches erfuhren die Schweizer bei ihren kosovarisch-albanisch geprägten Fußballnationalspielern Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka. Zweitens zeigt der Fall Özil, dass der Islam ein Integrationshindernis sein kann.

Warum beschweren sich Vietnamesen oder Russen nicht? 

Hand aufs Herz: Gibt es Integrationsmaßnahmen, Integrationsprobleme, Integrationsdefizite von vergleichbarem Ausmaß bei Vietnamesen, Japanern, Russen, die in Deutschland leben, vielleicht sogar geboren wurden? Die bizarre Stellungnahme der Berliner SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli, Özils Abgang sei „ein Armutszeugnis für unser Land. Werden wir jemals dazugehören?“, verschärft jenen Loyalitätskonflikt, den sie beklagt. Cheblis „Wir“ hat vor dem Hintergrund von Özils Stellungnahme einen bewusst exklusiven Charakter. Es konstruiert unter Verzicht auf Selbstkritik eine kulturell-religiöse Sondergruppe, derer sich Staat und Gesellschaft besonders intensiv anzunehmen hätten. Kein Vietnamese, kein Japaner, kein Russe käme auf die Idee, sich und seinesgleichen aus ethnischen Gründen zum fordernden Kollektivempfänger staatlicher Zuwendung umzubiegen. 

Mesut Özil schreibt auf Englisch, um sich Deutschland verständlich zu machen. Heillose Zerrissenheit spricht aus dieser sprachlichen Travestie. Er versteckt sich, um beklagen zu können, dass er sich mit seinen „familiären Wurzeln“ habe verstecken müssen. Er weicht aus, um darzulegen, wie sehr Deutschland „neuen Kulturen“ ausgewichen sei. Er klagt „Respekt für meine Herkunft“ ein und praktiziert Respekt für einen Autokraten, dem die Herkunft der modernen Türkei aus dem Geist Atatürks verhasst sein muss. Insofern ist der Fall Özil der Ernstfall für eine Integrationspolitik, die den islamischen Faktor nicht ernst genug nimmt.

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