Menschen im Matsch - Wenn nur noch die Wünschelrute hilft

Kolumne: Morgens um halb sechs. In einer zunehmend unübersichtlichen Welt verliert der Mensch den Halt. Das überlastete Individuum versinkt bodenlos im Sumpf. Einziger Ausweg ist das Irrationale – oder der Matsch selbst

Das Bedürfnis, sich in dieser überreizten Welt einfach in den Matsch zu werfen, ist mehr als verständlich / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Er steht in einer Sumpflandschaft aus Sonnensplittern. Die Augen offen, eine Wünschelrute in der Hand. Vorsichtig lotet er jeden Schritt aus, der Boden ist bedrohlich. Wie Joseph Beuys das Ende des 20. Jahrhunderts visionär beschwor, bringt Thomas Schütte mit seinem „Mann im Matsch“ den Beginn des 21. Jahrhunderts auf den Punkt. Die Welt ist im Matsch. Giganten torkeln in ihrer Bahn und drohen am eigenen Gewicht wie Tanker zu kentern. Machtverhältnisse liegen brach und müssen neu errungen werden. Wo Logik nicht mehr greift, Tyrannen in den Vorgärten wachsen, zählt nichts als Instinkt. Die Welt kehrt zur Wünschelrute zurück. Zauberstäbe ziehen Millionen Anhänger mit sich. Harry Potter feiert Hochsaison, Männer mit stockähnlich ausgestreckten Zeigefingern werden Präsident. Es wird per Dekret regiert, der Zeigefinger wird gelegentlich zur Rakete.

Der „Mann im Matsch“ 2010 / picture alliance

Der Zufall als Hilfe

Thomas Schüttes Wünschelrute ist eine stille Provokation. In einer Welt der digitalen Möglichkeiten verliert der Mensch den Halt. Das überlastete Individuum versinkt bodenlos im Sumpf. Es bleibt kein anderer Ausweg, als sich dem Irrationalen anzuschließen, sich wie ein Kind an einem Stock festzuhalten.

Wünschelrutengänger sind allgemein verpönt. Kirche und Wissenschaft geben sich in der Wünschelrutenfrage klar die Hand. Angewandte Geowissenschaftler und auch die eigens gegründete Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften kamen zu keinem signifikanteren Ergebnis als zu der Aussage, dass der Mensch mit der Wünschelrute nicht besser als der Zufall sei. Wie viel aber ist dem Zufall zuzutrauen und was ist schlecht daran, wenn er in Momenten der Hoffnungslosigkeit mithilft? Reicht nicht manchmal ein Strohhalm, um einen Elefanten aus dem Moor zu ziehen? Braucht es immer viel technisches Gerät?

Zurück zum Selbst

Das Problem des Mann im Matsch ist eine Vertrauenskrise. Der Boden ist brüchig, jeder Schritt kann ihn tiefer in den Sumpf führen. Dünn wie der Boden ist auch sein Werkzeug, auf das er sich vollkommen verlässt. Und damit ist eine Art Urvertrauen wiederhergestellt. Kein Navigationssystem, sondern die eigene Wahrnehmung hilft dem traumwandlerischen Giganten aus der verfahrenen Lage. Geologische Landesämter können diesen wiedergefundenen Spürsinn mit Messgeräten nicht ersetzen.

Wenn einer wieder zu sich selbst zurückfindet, was auch immer dies bedeuten mag, findet er zur eigenen Wasserquelle. Die wirft zwar nicht immer perfekt ausgelotete Ergebnisse ab, sorgt aber für eine gangbare Bahn.

Der Mann im Matsch ist ein Suchender, kein Bestimmer. Ein mitzitternder Seismograph, ein Besonnener. Im Grunde ein Romantiker. Seit dreißig Jahren arbeitet Schütte seherisch am Matsch.

Wahlurnen vor die Festivaleingänge

Inzwischen hat der Matsch nicht nur katastrophenbedingt Hochkonjunktur. Matschfestivals sind innerhalb weniger Minuten ausgebucht. Beim Glastonbury Festival macht der Matsch einen Teil des Spaßes aus. Im vorigen Jahr fiel Glastonbury mit dem Brexit-Referendum zusammen und ein Teil der Nichtwähler rockte, statt zu wählen, im Matsch. Der Witz, dass man Wahlurnen vor die Festivaleingänge hätte stellen sollen, ist nicht unberechtigt. Zwar lässt sich nicht beweisen, dass Glastonbury einen Anteil am Brexitergebnis hatte, ein besseres Timing zwischen Politik und Matsch wäre jedoch wünschenswert gewesen.

Am Elbdeich in Brunsbüttel finden seit zehn Jahren Matscholympiaden für die Krebshilfe statt. Hunderte „Schlick-Engel“ legen sich in den Matsch und wedeln gleichzeitig mit Armen und Beinen. Im Wattfußball, Wattvolleyball und Schlickschlittenrennen traten bislang 3.500 Matschsportler aus 17 Nationen gegeneinander an. 40.000 Besucher verfolgten das umjubelte Geschehen.

Ein Spiel um Liebe und Tod

Der „Muddy Angel Run“ hat ein ähnliches Konzept. Für den Kampf gegen den Brustkrebs finden sich jedes Jahr Frauen in ganz Europa im Schlamm zusammen. Der „Mud Run“ nur für Frauen wirbt mit der befreiten Formel „Gutes tun und dabei dreckig aussehen“. Endlich weg vom Hochglanzformat, raus aus der Konkurrenzgesellschaft, gemeinsam Hindernisse überwinden und fröhlich sein.

Die Liebe zum Matsch ist groß. Das Bedürfnis, sich in dieser überreizten Welt einfach in den Matsch zu werfen, ist mehr als verständlich. Gleichzeitig werden wir von Regenfällen, Erdrutschen und Tornadowarnungen geplagt. Im Matsch stecken Katastrophe und Kindheit, Anfang und Ende zugleich. Das Spiel mit dem Matsch lässt uns wieder wie erste Menschen erscheinen – oder wie Moorleichen. Es ist ein Spiel um Liebe und Tod, das sich besonders gut mit Musik vereint.

Matsch muss dagegen nicht immer laut, wild und massenorganisiert sein. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Schütte: „Ich bin ganz froh, dass der Mann im Matsch so eine stille Pose einnimmt.“

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