Meinungsfreiheit - Landschaft voller Tabugebiete

Eine Umfrage des Instituts Allensbach zeigt auf: Viele Deutsche haben Angst, sich über manche Themen in der Öffentlichkeit frei zu äußern. Ein erschreckender Befund für eine Gesellschaft, die sich andauernd für ihre Toleranz feiert

Wer bestimmt denn, welche Ansichten akzeptabel sind und welche nicht? / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Wer in Deutschland einen Mangel am Meinungsfreiheit beklagt, steht schnell unter Generalverdacht. Die offizielle und auch in den Medien munter kolportierte Lesart ist: Wir leben in einem freien Land und jeder kann sich hierzulande frei äußern. Wer das Gegenteil behauptet, der lügt in polemischer Absicht und destabilisiert unsere Demokratie. Im Übrigen gebe es kein Recht auf Hetze. Wer in Deutschland die Meinungsfreiheit gefährdet sehe, der wolle nur Unsagbares sagbar machen und den Konsens der Demokraten aufkündigen.

Doch Meinungsfreiheit ist keine physikalische Größe, die man messen kann wie die Temperatur. Auch verordnen kann man sie nicht. Meinungsfreiheit ist in Demokratien das Ergebnis eines gesellschaftlichen Klimas. Und um das ist es derzeit in Deutschland nicht optimal bestellt.

Meinungsfreiheit „stark themenabhängig“

Zu dem Schluss muss man kommen, wenn man die Ergebnisse der jüngsten Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach zugrunde legt. Demnach hatte eine große Mehrheit der Befragten den Eindruck, das Recht auf Meinungsfreiheit sei „stark themenabhängig“. Zwei Drittel der Bürger sind sogar davon überzeugt, man müsse heute „sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“.

Entsprechend verwundert es nicht, dass 63 Prozent der Befragten sich sicher waren, dass es viele ungeschriebene Gesetze gibt, welche Ansichten akzeptabel sind und welche nicht. Nur 23 Prozent konnten solche Gesetze des Sagbaren nicht erkennen.

Als das heikle Thema schlechthin, bei dem man „mit Äußerungen vorsichtig sein sollte“, gelte, so Allensbach, der Bereich Flüchtlinge und Migration, gefolgt vom Islam und den Themen Nazizeit und Juden. Auch Rechtsextremismus und die AfD sind für immerhin knapp die Hälfte der Befragten Themen, zu denen man sich besser zurückhaltend äußert.

Tabugebiete Vaterlandsliebe und Patriotismus

Ohne Frage spiegelt die Allensbacher Umfrage ziemlich genau den seitens Politik, Medien und vielen Organisationen mehr oder minder deutlich vermittelten Wertekanon wieder. Wenn – um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen – das Präsidium des Deutschen Handballbundes fast in den Krisenmodus verfällt, weil eines seiner Mitglieder für die AfD kandidiert, dann ist es naheliegend, dass die Menschen in diesem Land sich „zurückhaltend“ äußern, wenn es um das Thema AfD geht.

In diesem Zusammenhang überrascht es wenig, dass nach dem Empfinden der Bürger auch die Themen Vaterlandsliebe und Patriotismus „zunehmend zum Tabugebiet“ werden. Es regiert die Ideologie der Offenheit, für die Patriotismus und Weltoffenheit unvereinbar sind.

Besorgniserregend ist dabei, dass nur noch 18 Prozent der Befragten angaben, man könne sich im öffentlichen Raum frei äußern, 58 Prozent hingegen, man müsse bei vielen Themen vorsichtig sein. Wohl gemerkt: Das sind keine Umfrageergebnisse aus der DDR der 80er Jahre, sondern einer Gesellschaft, die bei jeder Gelegenheit ihre eigene Toleranz feiert. Zu den eben genannten Zahlen passt, dass viele Bürger den Eindruck haben, dass sich die soziale Kontrolle bei Meinungsäußerungen verstärkt hat und individuelle Äußerungen zunehmend unter Beobachtung stehen.

Europa steht auf dem Spiel?

Ganz wesentlich zu diesem beklemmenden Klima hat, so das Allensbach-Institut, die Rigorosität beigetragen, mit der Sprachregelungen auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens durchgesetzt werden – von Straßennamen über Behördenschreiben bis zu Kinderbüchern. Auch die offiziell durchgedrückte Genderneutralität – das Berliner Olympiastadion etwa ist anlässlich des DFB-Finales erstmals „genderneutral“ – geht der Mehrheit zu weit und trifft auf Unverständnis, „quer durch alle Generationen und Bildungsschichten“.

Anlässlich der Wahl zum EU-Parlament ist viel von den europäischen Werten die Rede und von Europa, das auf dem Spiel stünde. Welch Anmaßung! Europa und die Ideen für die es steht, sind nicht abhängig von der Existenz einer Verwaltungsbehörde. Das Herz Europas, sein Schlüsselwert ist vielmehr die freie Rede. Um sie wurde Jahrtausende blutig gerungen, von den attischen Demokratien bis zu den bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit. Wer sie durch Sprachregelungen und mehr oder weniger subtile Indoktrination gefährdet, bedroht Europa mehr als alle EU-Skeptiker zusammen.

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