Öffentlich-rechtlicher Rundfunk - Schluss mit dem Corona-Kitsch im Fernsehen!

Die Corona-Krise ist derzeit das wichtigste Thema in den Medien. Dabei gibt es einen Unterschied zwischen nüchterner Analyse und emotionaler Inszenierung. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk scheint damit Schwierigkeiten zu haben.

Jessy Wellmer berichtet zur Corona-Lage / Screenshot ARD
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Jede Zeit bringt ihre Symbole hervor. Die Corona-Krise kann mit der Atemmaske aufwarten, dem Absperrband und dem Mikrofonkondom. Wenn Fernsehjournalisten ausströmen, tun sie es nicht länger ungeschützt. Jedes Mikrofon, das ins Bild drängt, trägt eine Plastikfolie, fest drapiert und transparent. Die Tröpfcheninfektion soll keine Chance haben. Täglich sehen wir solche Präzisionsinstrumente bei der Arbeit.

Und außerdem sehen wir, hören wir im Minutentakt Geschichten von weinenden Alleinerziehenden, quengelnden Kindern, strickenden Omas und lustigen Jogger. So berechtigt das alles im Einzelnen sein mag: In der Summe reicht es. Schluss mit dem Corona-Kitsch. Der tägliche „Brennpunkt“ zum Beispiel im Ersten, der sich unter Aufbietung militärischer Rhetorik „ARD-Extra: Die Corona-Lage“ nennt, ist die quietschvergnügte Schnittmenge aus „Morgenmagazin“ und Kinderkanal.

Form siegt über Inhalt

Es menschelt derart, dass man Künstliche Intelligenz plötzlich als Verheißung begreift. Dreißig Minuten nach der „Tagesschau“ wollen gefüllt werden, auch wenn nicht jeder Corona-Tag Berichtenswertes in diesem Umfang hergibt. Also serviert man Schnipsel mit Musikbeilage. Auf der Tonspur regiert die Kaufhausmusik, an dramaturgisch neuralgischen Punkten auch ein Zischen, Wischen, Fiepen, wie man es aus der „Sendung mit der Maus“ kennt.

Wir erleben im Zeichen der Corona-Berichterstattung den endgültigen Sieg des Formats über den Inhalt. Form ist hier alles, und die Form ist kindgemäß. Der unausgesprochene Refrain lautet: So was aber auch! Jessy Wellmer, bekannt aus der „Sportschau“ am Samstag, moderiert „ARD-Extra“ in einer Haltung permanenten Verdutztseins.

Wenn Rede Zeichensetzung ist

Wenn sie die Augen für eine Nanosekunde länger schließt als üblich, den Kopf um wenige Grade mehr in die Schräge legt, als es üblich ist, formt sie den Menschen neu und paradox: als Fragezeichen, das es besser weiß. Zwischen kurzen Beiträgen führt sie mit handelsüblichen Virologen und Ministerpräsidenten kürzere Interviews, die sie „Gespräche“ nennt. Ihre Rede ist Zeichensetzung, in Laute überführt: „Von wegen“, „nee“, „okay“, „möglich“, „tja“.

Das ist nicht „zärtlich formuliert“ (Wellmer), wohl aber strukturiert es jeden Satz nach Art eines Ping-Pong-Spiels: Erst ploppt es hier, dann ploppt es da, kein Wort darf je vom Tisch der Rede fallen. Als flankierende Maßnahme trägt die ARD alte Reste untergegangener Wording-Bibeln auf und knallt in rührender Penetranz den Slogan „#zusammenhalten – wir sind deins – ARD“ rechts unten ins Bild.

Das Coronavirus soll das öffentlich-rechtliche Fernsehen beleben

Das Corona-Fernsehen ist auch ein Versuch, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen wieder den Status eines Lagerfeuers zu verschaffen, das alle anschauen, weil alles angesprochen wird und alle abgebildet werden. Damit freilich verträgt sich kein journalistischer Anspruch. Wenn Publikum, Medien und Politik #zusammenhalten, hat alle Kritik Pause.

Eine Solidargemeinschaft des Trostes soll entstehen. Zu durchaus eigenen, durchaus verschiedenen Zwecken und ohne Mandat. In den Einspielern darf geweint werden, denn „Tränen lügen nicht“ (Michael Holm, 1974). Die Mutti, die nicht weiter weiß, das Kind, das seine Freunde vermisst, die Selbständige, die keine Kunden erreicht: Ja, das sind alles reale Probleme, ja, jeder und jedem und uns allen wünscht man von Herzen, gut und gesund aus dieser schwierigen Situation herauszukommen, unterschiedslos und möglichst schnell.

Alles gleich im Durchhalteformat

Im Stakkato der Gefühlsabbildung aber stürzt jede Anteilnahme in sich zusammen. Es ist wie immer: Ein Übermaß an Sentiment bringt Zynismus hervor. Wer die Menschheit aufs Podest hebt, wird unempfindlich für den einzelnen Menschen. Hört man zum 30. Mal, „wir haben alle Hände voll zu tun“, zum 40. Mal, „daneben stapelt sich die Wäsche“, sieht man zum 50. Mal die Lehrerin ins Notebook starren und den Opa aus dem Fenster, den Kneipenwirt die leere Stube fegen und die Krankenschwester das Stationszimmer – dann verpufft jede Einfühlung und kehrt sich wider die Bauart des Formats.

Alles wird gleich, nichts ist mehr besonders, kein Leid, keine Freude, keine Trauer. So treibt das mediale Trommelfeuer der Entpolitisierung neue Knechte zu. Natürlich geht es anders. Das halb so lange „ZDF spezial“ nach den „heute“-Nachrichten um 19 Uhr konzentriert sich auf ein Schwerpunktthema und wird von Hanna Zimmermann oder Marcus Niehaves im sachlichen Bewusstsein moderiert, dass es sich um Nachrichten-, nicht um Durchhalteformate handelt.

Das Motto von Maß und Mitte

Sie inszenieren weder sich noch ihre Laune, sondern stellen Fragen oder leiten über. Keine Lächelorder erging an sie. Die Knappheit formt und zwingt zum rhetorischen Haushalten. Ja, auch hier gibt es Konfektionsware vom laufenden Gefühlsband, wenn Kinder nölen, Händler jammern oder Peter Altmaier zum Phrasenparcours ansetzt, einschließlich des hundertfach gehörten Beschwichtigungssatzes „Hier müssen wir besser werden.“.

Alles in allem wahrt das ZDF aber deutlich besser als die Befindlichkeitsvirtuosen von der ARD das neuerdings so hochgehaltene Motto von Maß und Mitte. Mit dem Zweiten sieht man hier wirklich besser. Wir stehen am Beginn einer Pandemie, heißt es. Wir müssten geduldig sein und Disziplin zeigen. Auch aus Gründen medialer Hygiene bleibt zu hoffen, dass wir das Schlimmste doch schon hinter uns haben.

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