Mauerfall - Als wir nicht erschossen wurden

30 Jahre ist der Mauerfall her. Der Lyriker Jörg Bernig nahm 1989 an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil. Heute fragt er sich: Ist die Unfreiheit des Denkens und Redens ganz überwunden?

Erschienen in Ausgabe
30 Jahre nach dem Mauerfall ist vieles besser, aber nicht alles, schreibt Jörg Bernig / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Jörg Bernig ist Lyriker, Romancier, Essayist und lebt bei Dresden. Er gehört u. a. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste an.

So erreichen Sie Jörg Bernig:

Anzeige

In der Nacht des Tages, an dem wir nicht erschossen wurden, glaubten meine Frau und ich, dass wir das alles nun hinter uns gelassen hätten: das alltäglich Oppressive, die Belauerungen, die offenen und die versteckten Drohungen, die Einschüchterungen, die Anfeindungen, die Verleumdungen, die Lügen und auch die Denunziationen. Das alles, so glaubten wir, würde mit dem untergehen, dessen Realität und Wesensausdruck es war.

Liebe Geschwister in den westlichen Landesteilen, ich erzähle euch jetzt keine Geschichte von „helden lobebæren, von grôzer arebeit“. („Nibelungenlied“, schlagt’s nach!) Ihr könnt ja nichts dafür, dass ihr ein ereignisloses Leben gelebt habt und das Existenzielle einen großen Bogen um euch gemacht und euch verzärtelt hat. Das Revolutionsgedenken wird euch nerven, denn ihr wart ja nicht an der Revolution von 1989 beteiligt. Und die Feierlichkeiten zum Jahrestag des Mauerfalls werden euch nerven, denn ihr wart ja auch nicht am Niederreißen der Mauer beteiligt. Ich verstehe euch, aber ich habe kein Mitleid mit euch. Ich erzähle lieber eine kleine Geschichte aus diesem unserm Land. Also: Lest weiter! Denn die kleine Geschichte hat auch Protagonisten aus euern Reihen.

Ein Stück deutscher Wiedervereinigung

Wir – eine Gruppe mittelalter Männer – saßen einmal beieinander in einem Weinberg über der Elbe, hier in der Stadt, die im Lauf der neunziger Jahre für uns alle die unsere geworden war. Wir stellten am Lagerfeuer fest, dass keiner von uns aus der Stadt stammte. Ein Stück deutscher Wiedervereinigung saß da beisammen in den Weinbergen Radebeuls, denn wir waren aus den östlichen und den westlichen Landesteilen an die Elbe gezogen. Wir erzählten einander interessante Geschichten, wir erzählten Banales. Bis dann zu späterer Stunde ein aus einem der westlichen Landesteile an die Elbe migrierter Professor erklärte, dass die Ostdeutschen ja gar keine Demokraten sein könnten, denn sie seien nicht in der Demokratie geboren. Keiner schien das Gehörte mit einem Kommentar aufwerten zu wollen, bis der aus Baden hierher gezogene Gastgeber doch laut wurde ob des vernommenen Unfugs.

Der Musterdemokrat indes war sich seiner Sache sicher. Nein, nein, nein! Nicht in der Demokratie geboren, ergo keine Demokraten! Er sitzt hier seit Jahren als Vertreter der Grünen im Rat einer Stadt, in der die meisten nicht in der Demokratie geboren sind. Glaubt er, dass auch seinen sächsischen Parteikameraden demokratisches Gebaren erst von seinesgleichen andressiert werden musste? Lebt er hier, gleichsam als Konquistador und als einer von vielen Vizekönigen, in der zu demokratisierenden neuen Welt? Immer wenn ich an diese Begebenheit denke, fallen mir auch die Gewehrläufe ein, in die meine Frau und ich an dem Tag, an dem wir nicht erschossen wurden, schauten.

„Zorn allenthalben“

Im Sommer/Herbst 2015 schrieb ich einen Essay, der unter dem Titel „Zorn allenthalben“ nach langer Verzögerung am 21. Dezember 2015 in der Sächsischen Zeitung erschien, nachdem ihn zuvor ein Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, an den ich den Text geschickt hatte, mit dem ängstlichen Ausruf „Warum ich als Adressat?“ quittiert und abgelehnt hatte. Ich schrieb über die von der Bundesregierung zu verantwortende Preisgabe staatlicher Souveränität durch die Grenzöffnung vom September 2015 und den damit einhergehenden Import von Konflikten anderer Kulturen. Ich verwies auf den Zusammenstoß mit Kulturen, die der unseren nicht tolerant gegenüberstehen. Von einem fragwürdigen Frauenbild, das mancher der ins Land gelangten Männermigranten mitbrachte, schrieb ich. (Zehn Tage nach Erscheinen des Essays ereignete sich das, was euphemistisch „die Silvesternacht von Köln“ genannt wird.) Und über die vor den Ereignissen hertaumelnde politische Schicht dachte ich nach.

Gleich kam Antwort – und zwar vom damaligen Präsidenten der Sächsischen Akademie der Künste, deren Mitglied ich seit 2010 bin. Er veröffentlichte in der Sächsischen Zeitung vom 30. Dezember 2015 eine „Stellungnahme“ unter der Überschrift „Akademie der Künste distanziert sich von Autor“. Der Präsident klang verängstigt und wie zur Rechenschaft gezogen mit seiner Betonung, „dass Bernigs Sichtweise nicht eine Stellungnahme der Akademie darstellt“. Diese trete für Weltoffenheit ein. Sein Bannwort war für einige dann wohl die Jagderöffnung. Schmäh-E-Mails und in den Briefkasten Geworfenes gab es sowie anmaßende Einladungen zu klärenden Gesprächen. Und es gab Distanzierungen von mir – aber auch von meiner Familie.

Die gute alte Sippenhaft

Die nicht lange zuvor in unsere Gemeinde gekommene junge Pfarrerin wandte sich ab und ließ meine Frau stehen, als sie erkannte, mit wessen Frau sie da sprach. Ah, die gute alte Sippenhaft! Unter all dem war auch das Schreiben eines weiteren aus einem der westlichen Landsteile in die Radebeuler Weinberge migrierten Professors an die Sächsische Akademie der Künste. Er verlangte, dass die Akademie nicht zur Tagesordnung übergehen könne angesichts des „Lehrstücks ‚reinrassiger‘ Demagogie“, das er in meinem Text zu erblicken glaubte. Besagter Herr versuchte, meinen „Zorn“-Essay ins Unglaubwürdige zu zerren, weil die von mir herangezogenen Beispiele überfallener Frauen „lediglich gehört …, vermutet …, verdächtigt“ seien. Wenn der gute Mann nur wüsste!

Aber genau das ist das Problem. Es geht nicht um Wissen. Mit Insinuierungen soll Unliebsames verdrängt und zum Schweigen gebracht werden. Und im Kampf für das, wovon man durchdrungen ist, darf jedes Mittel recht sein. So sah es dann wohl auch eine – na, woher wohl? – nach Radebeul zugereiste Fotografin als ihre Pflicht an, einem Veranstalter, der mich zu einer Lesung eingeladen hatte, vorab zu schreiben, „dass Jörg Bernig scheinbar politisch ziemlich rechts ist“. Aha. Woher sie das wohl wusste? Hatte sie mit mir gesprochen? Nein, hatte sie nicht, obwohl hier in unserer kleinen Stadt vor den Toren Dresdens einer den andern in zehn, fünfzehn Minuten auf dem Radl erreichen kann. Sie tat dies nicht, sondern setzte sich hin und tippte in ihren Computer den empörten Ausruf: „Wenn wir das früher gewusst hätten, hätte er sicher keinen Kunstpreis erhalten“ – 2013 in Radebeul ist das gewesen.

Gibt’s denn keine Hemmungen mehr?

Für September 2016 lud man mich dann ein, die dritte Kamenzer Rede zu halten. „Dadurch geriet ich auf die unglückliche Idee, mich mit Ideen zu beschäftigen, und ich dachte nach über die innere Bedeutung der Erscheinungen.“ Das schrieb Heinrich Heine 1837 in der kleinen Schrift „Über den Denuncianten“, die in der Person des Literaturkritikers Wolfgang Menzel auf den Verrat der deutschen Intelligentsia am freien Denken abzielte. Heute sind an die Stelle des damaligen Teutomanen Wolfgang Menzel zahlreiche andere Wolfgang Menzels getreten, nur sind sie halt Buntomanen. Ich schrieb und sagte in Kamenz, dass sich das politische und das journalistische Milieu in einer Kernschmelze zu einem politisch-medialen Komplex verbunden hätten, der vor allem bei Kritik an seinem Migrationstraum mit „Abweichungshass und Denunziationsbereitschaft“ (Sloterdijk) reagiere. Ich sah, dass das ideologiegetriebene Handeln des politisch-medialen Komplexes die große Errungenschaft der Aufklärung, die gemessene Ratio, über Bord warf. Ich erkannte in den moralisch verbrämten Erscheinungen die Wiederkehr einer Idee des 20. Jahrhunderts, nämlich die der ethnischen Manipulation von Gesellschaften. Nur hieß die Losung diesmal nicht „Reinheit“, sondern „Buntheit“. Vom Brunnen des Bösen schrieb ich auch und über die hochnäsige Haltung gegenüber den europäischen Nachbarn, die sich den Berliner Forderungen nicht unterwarfen.

Der in Kamenz präsentierte Essay „Habe Mut …“ lockte einige hinter dem Busch hervor in die – machtgeschützte – Öffentlichkeit. Ein Universitätsdoktor insinuierte, dass ich mit meinen „Äußerungen dazu beitrage …, den Hass und die Spaltung der Gesellschaft zu befeuern“. Eine Schriftstellerin verfertigte mit einem Kollegen im Dresdner Bürgerradio-Sender einen terminologischen Cocktail aus Begriffen wie „weit, weit rechts stehende Kollegen“, „Straßennazis“, „Schreibtischnazis“, „Pegida“, „NPD“ und „neonazistische Kräfte“. Da hinein gab besagte Schriftstellerin: „Jörg Bernig. Um mal einen Namen zu nennen.“ Als ich die Sendung hörte, glaubte ich lange, es handele sich um ein Comedy-Programm, bis ich dann gewissermaßen am Ohr aus der Schulbank und nach vorn vor die Klasse gezogen wurde. Aber hallo, dachte ich, macht man denn so was? Ich meine, gibt’s denn keine Hemmungen mehr? Nein, gibt’s nicht.

Stigmatisiert, ausgestoßen, verbannt, denunziert

Eine nach der Wiedervereinigung aus den (ja, ja, ich weiß, ist aber so) westlichen Landesteilen nach Dresden gelangte Autorin hatte das doch schon mit einem Leserbrief an die Dresdner Neuesten Nachrichten gezeigt. Hemmungen? I wo! Besagte Dame glaubte, erkannt zu haben, dass ich in „Habe Mut …“ (der Kamenzer Essay lag zum Zeitpunkt ihrer Invektive aber noch gar nicht gedruckt vor und als ich ihn vortrug, war sie auch nicht zugegen) eine Theorie entwickelt hätte, „die mit ihren kruden Schlussfolgerungen aus rechter Paranoia den perfekten theoretischen Überbau für AfD und Pegida bildet“. Sie glaubte des Weiteren, konstatieren zu müssen: „Faschisten laufen nicht immer in Springerstiefeln herum, und wie bereits 1933 sind es solche Intellektuellen, die fast noch gefährlicher sind.“ Fast noch gefährlicher als die Faschisten von 1933 – ein Verdikt. Es wird stigmatisiert, ausgestoßen, verbannt, denunziert. Die eben erwähnten Akteure finden sich denn auch in einem sich um das Dresdner Literaturhaus scharenden Dresdner Verbund wieder, der sich Wortwechsel nennt und vorgibt, die „politischen Sprachkulturen der Gegenwart kritisch zu analysieren“. So die Dresdner Neuesten Nachrichten vom 18. Januar 2019.

Ah ja, und eine Aktion des Mitteldeutschen Rundfunks Kultur gab es auch. Der hatte in den Jahren zuvor die in Kamenz gehaltenen Reden Friedrich Schorlemmers und Feridun Zaimoglus ohne Verzögerung ausgestrahlt, aber im Herbst 2016 verschleppte der Sender die Ausstrahlung meiner aufgezeichneten Kamenzer „Habe Mut …“-Rede und versuchte, mir schmackhaft zu machen, dass die Rede nicht gesendet, sondern stattdessen eine Diskussion geführt würde. Ich lehnte das ab, und der Sender verbreitete dann wochenlang in dem Online-Text „Wer ist die neue Rechte?“ die Falsch­meldung, dass meine Bücher im Antaios-Verlag erschienen. Dass ein aus den – das sei jetzt doch aber auch ganz deutlich gesagt – westlichen Landesteilen stammender Literaturprofessor in mehreren Schreiben den MDR auf die Falschmeldung, vulgo Lüge, hinwies, focht den Sender nicht an und er relotiusierte weiter. Erst Artikel Nicolaus Fests und Vera Lengsfelds, die gar auf die von der Stasi angewandte Zersetzungsstrategie verweisen musste, führten dazu, dass der Mitteldeutsche Rundfunk von einem Versehen sprach.

Befindlichkeiten im Osten

Köstlich! Ein Versehen! An dem man auch nach Korrekturhinweisen wochenlang festhielt. Die Ausstrahlung der Rede wurde schließlich auf einen sehr späten Sendeplatz geschoben und von einem Warnhinweis begleitet, der vor und nach der Ausstrahlung verlesen wurde: Das Gehörte sei „ausschließlich die sehr persönliche Sichtweise und Meinung von Jörg Bernig zu aktuellen Fragen des gesellschaftlichen Diskurses“ (nachzuhören ist das hier). Na, so was! Ein Schriftsteller mit einer sehr persönlichen Sichtweise und Meinung. Wo gibt’s denn das? Woll’n wir doch mal sehen, was sich da machen lässt, damit der Bursche sich das merkt, dass es so nicht geht. Oder hat man es nur gut gemeint? „Ich könnte fast auf den Gedanken kommen, man wolle mir einen Dienst leisten und mich zwingen, meine Talente nicht für undankbare Themata zu vergeuden …“ (Heinrich Heine, „Über den Denuncianten“).

Liebe Geschwister aus den westlichen Landesteilen. Was, so fragt ihr vielleicht, gehen euch solche Ostgeschichten an, mit denen man euch rund ums Revolutionsgedenken wieder traktiert? Nun ja, wie soll ich sagen, der Leiter der Hauptredaktion beim MDR Kultur ist eben auch kein Ostkind. Vor seiner Angestelltenkarriere beim MDR hat er – im Westen – musiziert und war nicht zimperlich, was die Parteizugehörigkeit seiner Mitmusiker anging. Muss man hier aber nicht so an die große Glocke hängen. Befindlichkeiten im Osten, ihr versteht.

„Listen. Time passes“, heißt es in Dylan Thomas’ „Under Milk Wood“. Ja, die Zeit vergeht, und wenn man heute meine Texte, die ich während der letzten Jahre zu dem uns von außen und innen ereilenden Kulturzusammenstoß publiziert habe, hernähme, dann, ja dann könnte man sie als eine Checklist benutzen. Leider. Eingetreten? – Häkchen. Geschehen? – Häkchen. Vorgefallen? – Häkchen. Getan/unterlassen? – Häkchen.

Vielleicht war das Schlimmste überstanden

Der Tag, an dem wir nicht erschossen wurden, ist für meine Frau und mich noch immer ein denkwürdiger Tag. In der nun 30 Jahre zurückliegenden Nacht jenes Tages lagen wir lange wach. Ein paar Stunden zuvor waren wir mit 70.000 anderen in der Innenstadt von Leipzig eingekesselt gewesen und hatten in die Mündungen von Turmgeschützen gepanzerter Fahrzeuge geschaut. Da auch ich einmal ein Soldat war, wusste ich, dass uns da ein Kaliber von 14,5 Millimeter ansah und dass das nichts Gutes für uns verhieß. Die Bereitschaftspolizei und die Kämpfer der Kampfgruppe waren mit Kalaschnikows bewaffnet. Das war auch keine Beruhigung, aber ich dachte daran, dass ich beim Militär gelernt hatte, mit der Kalaschnikow umzugehen – „und ich bin so jung, und die Welt ist so alt!“, schrieb Georg Büchner.

In den Stunden danach dämmerte uns, dass wir das Schlimmste vielleicht überstanden hatten. Überstanden die offenen und die versteckten Drohungen, die Einschüchterungen, die Anfeindungen, die Verleumdungen, die Lügen und auch die Denunziationen. Wir glaubten, wir hätten das hinter uns gelassen mit jenem großen Leipziger Schritt ins Freie am 9. Oktober 1989 – dem Tag, an dem wir nicht erschossen wurden.

Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

Anzeige