Marlene Knobloch im Gespräch - „Wir müssen ein Gemeinschaftsverständnis erlernen“

Die Journalistin Marlene Knobloch beschreibt in ihrem heute erscheinenden Buch „Serious Shit“ den Realitätsschock der 30-Jährigen. Es ist ein Essay über eine Gesellschaft, die immer individualistischer wird - und warum sich das in Zukunft ändern muss.

Orte der Begegnung werden in unserer Gesellschaft immer seltener / picture alliance
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Autoreninfo

Lena Middendorf studierte Politik- und Kommunikations- wissenschaften an der Uni Greifswald. Nach Hospitanzen bei der Hamburger Morgenpost und der Süddeutschen Zeitung absolviert sie derzeit ein Praktikum bei Cicero.

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Marlene Knobloch ist Autorin und Journalistin. Sie schreibt für die Seite Drei und das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung sowie als freie Autorin für die Zeit und das SZ-Magazin.

Frau Knobloch, Ihr Essay handelt über das Lebensgefühl und den Realitätsschock unserer Generation, die in den 90er-Jahren geboren wurde. Wie hat diese Altersgruppe das Leben vor diesem Wendepunkt wahrgenommen?

Erstmal ist es ein sehr persönliches Gefühl, das ich aber bei vielen meiner Generation beobachte. Vor der Pandemie bin ich davon ausgegangen, dass die Welt schon wieder in Ordnung kommen würde. Merkel hat das sehr stark mit ihrem Credo „Wir schaffen das“ und mit ihrer moderaten Politik unterstrichen. Diese „Anti-Schockpolitik“ wurde zwangsläufig dann mit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar letztes Jahr gebrochen.

War also der Krieg für Sie der Kernauslöser?

Ja, an dem Tag begriff ich, wie wenig ich begriffen hatte. Vielleicht auch, weil es ein sehr punktuelles Ereignis und damit schneller zu fassen war als andere, diffusere Probleme. Aber auch die Pandemie beschwerte mich, das war der Zeitpunkt, an dem ich – wie viele meiner Altersgenossen – ins Erwachsenenleben starten wollte. 

Nun gibt es Menschen, die mit dem Krieg bereits früh konfrontiert worden sind. Sie schreiben auch über sich selbst, dass Sie den Preis der Freiheit nicht kennen. Inwiefern ist Ihr Essay von der Perspektive einer privilegierten weißen Frau bestimmt?

Global betrachtet ist meine privilegierte Perspektive nicht repräsentativ. Ich musste mir viele Fragen zuvor nicht stellen. Das demokratische System ist für mich selbstverständlich. Vielmehr habe ich von Demokratie und Freiheit mit einer gewissen Gefühlsleere gesprochen. Mir ist an dem Wendepunkt ziemlich schmerzlich bewusst geworden, dass diese Demokratie nicht selbstverständlich ist.

Marlene Knobloch / Fotos: Theresa Haugg

Ist dann nicht gerade die Dankbarkeit wichtig, um die richtigen Antworten für unsere Generation zu finden?

Ja, natürlich. Ich bin auch sehr dankbar, diese Freiheit und Rechte zu haben. Die Ukrainerinnen und Ukrainer, mit denen ich gesprochen habe, hatten diese Freiheiten auch und haben sie mit einem Schlag verloren. 

Sie schreiben im Kapitel „Ghosting Geschichte“ über eine Vielzahl von Strategien, um gesellschaftliche Konfrontationen zu vermeiden. Was steckt dahinter und was gibt es für weitere Strategien?

Es ist kein Geheimnis, dass wir in einer individualistischen Gesellschaft leben. Wir sind immer das Zentrum unseres eigenen Kosmos. Wir waren es lange nicht gewohnt, dass das Weltgeschehen unsere Lebenswelt beschneidet. Viele Träume handelten davon, wie man seine eigene Biografie letztlich gestaltet. Wir müssen verstehen, dass wir in Zukunft nicht die eigenen Regisseure unserer Biografie sind, sondern durch Geschehnisse wie Pandemie und Krieg unsere Biografie von außen verändert werden kann. Wir können das auch im positiven Sinne erleben: Wir müssen uns mehr auf das Außen einlassen und uns nicht ins Private, Individualisierte zurückziehen.

Das würde bedeuten, um neu träumen zu können, muss man wieder in die Gemeinschaft rein?

Ja.

Diese Abschottung betrifft auch die deutsche Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Wenn wir mehr Verantwortung für „unsere“ Vergangenheit übernehmen würden, wäre die Welt, dann eine bessere und würden wir weniger Weltschmerz empfinden?

Zwar sind wir sehr gut in unserer Erinnerungskultur, aber wenn man nach den eigenen Großeltern fragt, nach ihrer Haltung in dieser Zeit, dann wissen das die wenigsten. Für mich ist das ein Zeichen, dass man glaubt, Familiengeschichte hätte nichts mit dem eigenen Leben zu tun. Aber meine Geschichte beginnt eben nicht mit dem ersten Umzug, Praktikum oder Freund, sondern ist von meiner Familie schon geprägt: vielleicht von einer Oma, die ihren Verlobten im Krieg verloren hat, von einem Opa, der Verbrechen begangen hat? Das sind schmerzliche Geschichten, die wichtig für die eigene Biografie sind.

Was würde sich denn Ihrer Meinung nach konkret ändern, wenn sich unsere Generation mehr mit ihrer eigenen Biografie auseinandersetzen würde?

Ich glaube, dass die eigene Geschichte immer etwas mit dem Menschen macht. Traumata können transgenerational weitergegeben werden. Aber auch so ist unsere Geschichte geprägt von unserem eigenen Außen, von unserer eigenen Familie. Ich finde es falsch, das zu ignorieren.

Inwiefern ist diese Auseinandersetzung mit der eigenen familiären Geschichte auch identitätsstiftend?

Es geht dabei nicht gleich um Identität. Es geht darum, die Wahrheit zu verstehen: Geschichte ist auch ein Teil von mir selbst und meiner Entwicklung, meiner Welt. Es geht mir eigentlich um das Verstehen und Reflektieren.

Die sozialen Medien spielen eine große Rolle für das Gefühl zunehmender Vereinzelung. Sie schreiben im Kapitel „A Scroll in Life“, dass jeder als Protagonist auftritt. Dabei steht die Performance über den vermittelten Inhalten. Sind die sozialen Medien kontraproduktiv für eine funktionierende Öffentlichkeit und Debattenkultur?

Ich denke nicht, dass die Sozialen Medien im Ganzen kontraproduktiv für die Debattenkultur sind. Aber sie verstärken die mediale Fragmentierung der Öffentlichkeit. Es ist gefährlich, in den Sozialen Medien immer mit allem als eigener Protagonist aufzutreten. Der Grat, wo es um mich selbst und wo es um die Sache an sich geht, ist schmal. Ich stehe als Protagonistin immer in Verbindung mit diesem oder jenem Post. Ich muss mich demnach mit allem identifizieren, was ich twittere. Das führt zu Unterkomplexität, Emotionalisierung und zu sehr wenig Varianz in Gedanken und Meinungen. Wir brauchen stattdessen alternative Orte.

Trotzdem nutzen Sie selbst weiterhin soziale Medien. Welche alternativen Orte und welchen Umgang braucht es mit den Medien?

Wir müssten alle mehr Zeitung lesen. Die Menschen konsumieren zwar Medien, allerdings sehr fragmentiert und unregelmäßig – oder gar nicht. Eine bundesweite Studie fand heraus, dass die Hälfte der befragten jungen Erwachsenen es nicht für wichtig hält, sich über das Weltgeschehen zu informieren. Das finde ich grundfalsch. Zeitung lesen ist wichtig. Gerade Lesen ist nachhaltiger als passives Scrollen. Man muss sich selbst die Zusammenhänge und Bilder im Kopf erschließen. Das ist ein deutlich aktiverer Vorgang, als Videos zu schauen. Damit bilden wir ein tieferes Verständnis für das Weltgeschehen und die Gesellschaft, mit beidem sind wir unweigerlich verknüpft. Außerdem darf das analoge Diskutieren nicht wegfallen, wir Jungen sollten dafür Orte finden.

Sehen sie da positiv in die Zukunft?

Nein, absolut nicht. Weil diese aktiven Orte wegfallen. Ich bin im Dorf aufgewachsen, und für mich war es normal, regelmäßig am Stammtisch zu diskutieren. Gerade in deutschen Großstädten habe ich wenige bis keine dieser Orte gefunden. Natürlich reden und treffen wir uns, doch meistens bestätigen wir uns in den gleichen Kreisen nur selbst. Es fehlt die Durchmischung sozialer Milieus.

Dabei haben wir doch gerade durch Corona gemerkt, wie wichtig soziale Interaktionen für uns sind.

Absolut, aber ich beobachte auch, wie sich die Menschen seit der Pandemie schwertun, wieder rauszugehen. Wir bestellen unser Essen online, streamen, überlegen drei Mal, ob sich das jetzt echt noch „lohnt“. Man sieht auch an der Einsamkeits- und Depressionsrate, dass das ein Problem ist. 

 

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Unserer Generation wird regelmäßig mangelnde Leistungsbereitschaft und eine hedonistische Orientierung an der Work-Life-Balance vorgeworfen. Das sogenannte Quiet Quitting. Ist das so? Und kann man ihr das vorwerfen?

Ich finde es zumal auf privatwirtschaftlicher Ebene legitim, das man sagt, für mich lohnt sich mehr Arbeit nicht. Wieso soll ich mehr arbeiten, wenn mein Lebensstil sich für etwas mehr Geld im Monat kaum verändern wird? Ich kann mir weder ein Haus noch einen Neuwagen davon kaufen.

Also sagen Sie „Arbeit muss sich (mehr) lohnen“?

Arbeit sollte sich sowieso lohnen. Zum Beispiel hat mir eine Freundin erzählt, dass sich ihre Eltern in ihrem Alter ein Haus gebaut haben. Das können sich die wenigsten in meinem Alter gerade leisten, aber vielleicht braucht es diesen Anspruch gerade auch nicht. Was mich stört, ist, dass „Quiet Quitting“ wieder sehr individualistisch gedacht ist. Und es wirkt ziemlich unauthentisch, wenn man „Quiet Quitting“ betreibt, aber gleichzeitig in Aktien oder Fonds investiert und letztlich auf das Wachsen des Kapitalismus setzt. Dabei schaffen wir es eben nicht, aus dem „Quiet Quitting“ eine politische Dimension zu formulieren. Was interessiert uns denn auf gesellschaftlicher Ebene daran? Worüber müssten wir eigentlich not quiet sprechen?

Sie beschreiben zum Schluss, wie Sie in Ihr kleines Heimatdorf zurückkehren, Sie setzen sich in eine Kneipe mit den unterschiedlichsten Gästen. Sie reden zwar nicht miteinander, aber Sie sehen sich. Inwiefern könnte das gegenseitige „Sehen“ zum Kollektiv beitragen?

Wir unterschätzen die physiologische Wahrnehmung des Menschen. Durch mediale Orte fällt zum Beispiel die soziale Scham in der Gesellschaft fast gänzlich weg. Die Hemmung, jemandem in der realen Öffentlichkeit zu drohen oder ihn zu beschimpfen, ist deutlich höher. Die Gefahr der gesellschaftlichen Ächtung ist eigentlich ein gutes Mittel gegen dieses Verhalten, während sich in den Sozialen Medien Hassmobs bilden und Leute wüste Beleidigungen und Drohungen von sich geben. Wenn ich an meinem Stammtisch im Heimatdort sitze, dann sehe ich unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Alters und politischer Ausrichtung. Wenn wir von den „anderen“ reden, dann haben wir meistens nichts als Schablonen. Dabei hatten wir noch nie Kontakt mit ihnen. 
 
Wie blicken Sie in die Zukunft unserer jungen Generation, driften wir immer weiter als individualistische Gesellschaft auseinander, oder wie können wir wieder als Gemeinschaft zusammenwachsen?

Ich würde meine Sicht nicht in pessimistisch oder optimistisch aufteilen. Wir müssen verstehen, dass wir einen Anteil am Weltgeschehen haben und Verantwortung dafür tragen müssen. Wir müssen ein Gemeinschaftsverständnis erlernen, bevor uns die Realität einholt. Und wir sehen bereits bei der jüngeren Generation eine positive Veränderung.

Das Gespräch führte Lena Middendorf.

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