Margit Stumpp liest … - Das politische Buch

Margit Stumpp hat für uns das neue Buch von Thomas Chatterton Williams gelesen und dabei eine bereichernde Reflexion der aktuellen Debatten um Rasse gefunden.

Wer sich fragt, ob eine weiße Autorin das Gedicht einer Schwarzen übersetzen darf, wird bei Williams fündig / dpa
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Autoreninfo

Margit Stumpp ist medien- und bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag.

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Thomas Chatterton Williams, Sohn einer „weißen“ Mutter und eines „schwarzen“ Vaters, schildert in diesem Buch den spannenden Prozess der Auseinandersetzung mit dem Begriff „Rasse“ beziehungsweise „race“ anhand der Geschichte seiner vielfältigen Familie und seiner eigenen Biografie. Auslöser ist die Geburt seines ersten Kindes. Seine Tochter (die Mutter ist eine „weiße“ Französin) zeigt nicht einmal ansatzweise eines seiner äußerlichen Merkmale, weder Haut- noch Augenfarbe noch Nasenform, die bis dahin offenbar einen wesentlichen Teil seiner Identität ausgemacht haben. 

Dieser Umstand erschüttert sein bis dahin fest gefügtes Welt- und Selbstbild fundamental. Eine akribische Analyse der Wurzeln seiner bisherigen Identität beginnt. Mit bemerkenswerter Offenheit hinterfragt er aus nun veränderter Perspektive seine vielfältigen Erfahrungen und Prägungen. „Unlearning Race“ – in diesem Untertitel ist sein Resümee für ein besseres (Zusammen-)Leben formuliert: verlernen, in Kategorien der „Rasse“ zu denken – und zwar auf allen Seiten. 

An keiner Stelle belehrend

Williams wurde nicht nur durch die unterschiedliche Hautfarbe und Herkunft seiner Eltern geprägt, sondern auch durch die Unterschiede zwischen der US-amerikanischen Gesellschaft, in der er als Kind von Mittelschichteltern aufgewachsen ist, und der französischen, in der er seit vielen Jahren lebt. Trotz fundamental unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen finden sich Parallelen. So unterscheiden sich Schilderungen aus seiner Jugend auch kaum von den Verhaltensweisen und familiären Umständen migrantischer junger Männer, die ich während meiner jahrelangen Tätigkeit als Lehrerin an einer Technischen Berufsschule begleiten durfte. Und zwar unabhängig vom Herkunftsland ihrer Familien. Das spricht trotz des persönlich-individuellen Zugangs für eine gewisse Universalität dieses Buches.

Es liest sich ungeachtet der Tiefgründigkeit des Themas leicht und flüssig, denn Williams wirkt nie belehrend oder gar missionierend. Im Gegenteil, er beschreibt seine Befindlichkeiten und seine vielschichtigen Erkenntnisanstrengungen mit einer nüchternen Ehrlichkeit, die auch offenlegt, dass er selbst, trotz anhaltend intensiver Selbstreflexion, immer noch nicht vollkommen frei von Ressentiments und „blinden Flecken“ ist. Im Gegensatz zu anderen Gruppen kommen etwa amerikanische Ureinwohner an keiner Stelle vor. Da amüsiert es schon beinahe, wenn er seine ambivalenten Gefühle angesichts der Vorstellung schildert, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft eine Bemerkung seiner hellhäutigen, blonden und blauäugigen Tochter über „schwarze“ Vorfahren genauso beiläufig zur Kenntnis genommen werde wie heutzutage eine Bemerkung zu indianischen Vorfahren.

Reflexion aktueller Debatten

All jenen, die nach Orientierung suchen in den Diskussionen, ob der Begriff „Rasse“ aus Art. 3 unseres Grundgesetzes gestrichen werden soll oder ob eine „weiße“ Autorin das Gedicht einer „schwarzen“ Poetin übersetzen darf, kann ich dieses Buch auf der Suche nach einer eigenen Haltung ebenso empfehlen wie jenen, die einfach an den Einsichten eines „schwarzen“ Menschen, oder präziser: Mannes, zum Begriff der „Rasse“ und zur eigenen Identität interessiert sind. 

Man setzt sich mit der Lektüre allerdings, unabhängig von der Hautfarbe, dem Risiko und der Nebenwirkung aus, die eigene Haltung zu diesen Fragen für sich selbst zu reflektieren. Diese Reflexion mag jedoch zu jener „existenziellen Unbeschwertheit“ beitragen, die sich Thomas Chatterton Williams nach meinem Eindruck hart erarbeitet hat und die ich jedem Menschen wünsche.

Thomas Chatterton Williams: Selbstporträt in Schwarz und Weiß. Edition Tiamat, Berlin 2021. 184 Seiten, 24 €

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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