- Bücher fürs Fest
Anreize zum Lesen gab es 2020 mehr als genug. Die „Cicero“-Redaktion hat daher einmal geschaut, welche Bücher sie dieses Jahr besonders beeindruckt haben. Sieben Empfehlungen für spätentschlossene Weihnachtseinkäufer.
Grenzenlos Europäisch
Mit Büchern ist es wie mit der Lektüre von Zeitungen und Magazinen: Sie ist nicht nur dazu da, seine eigenen Ansichten gespiegelt zu bekommen. Debatte fängt bei zwei Meinungen an, und Wertheimer hat so manche, die völlig konträr zu jener des Autors stehen. Seine politischen Passagen, die er optisch abgesetzt immer wieder einstreut in sein gewaltiges Werk der Ideen- und Kulturgeschichte, sind getränkt und geleitet von der No-Borders-Fiktion. Mehr noch: Wertheimer versteigt sich in Thesen wie jene, dass es erst Grenzen seien, die Migration möglich machten.
Darüber kann man trefflich und lange streiten. Aber unbestreitbar ist, dass der Komparatist Wertheimer hier ein epochales Oeuvre vorlegt, in dem es ihm gelingt, die vielen kleinen Mosaiksteinchen Europas über die Jahrtausende so zusammenzusetzen, dass bei etwas Abstand des Betrachters ein stimmiges Bild dabei herauskommt. Das ist eine ganz große Leistung und dieses Buch deshalb mein Buch des Jahres 2020.
Christoph Schwennicke
Jürgen Wertheimer: Europa - eine Geschichte seiner Kulturen, 448 Seiten, 26 Euro, Penguin Verlag, München 2020.
Kampf um Rom
Sein Vater war einst Ordensritter, und er selbst hat an vielen der traditionellen Malteser-Wallfahrten nach Lourdes teilgenommen. Deswegen bietet Magnis mit seinem soeben erschienenen Buch „Gefallene Ritter: Malteserorden und Vatikan“ einen seltenen Einblick hinter die Kulissen dieser Ordenswelt mit ihrem teils skurril anmutenden Personal, das vom verschrobenen britischen Landadeligen bis hin zum ebenso charmanten wie gewieften libanesischen Geschäftsmann reicht. Es geht um Intrigen und Religiosität, um Geld genauso wie um aufrichtige Barmherzigkeit – und vor allem um einen knallharten Machtkampf des Ordens mit dem Vatikan.
Nicht zuletzt spielt auch der geheimnisumwitterte „Circolo della Caccia“ eine Rolle – jener römische Aristokraten-Club, von dem aus schon seit jeher die politischen Geschicke Italiens entscheidend mitgeprägt werden. Ich habe „Gefallene Ritter“ an einem einzigen Abend regelrecht verschlungen.
Alexander Marguier
Seuche und Sinnlichkeit
Sie hatten genug: Genug Tote, genug Maßnahmen, genug Gerüchte. Selbst der radikalste Lockdown schien sich nicht zu verfangen: „Gegen dieses Übel half keine Klugheit oder Vorkehrung, obgleich man es daran nicht fehlen und die Stadt durch eigens dazu ernannte Beamte von allem Unrat reinigen ließ, auch jedem Kranken den Eintritt verwehrte und manchen Ratschlag über die Bewahrung der Gesundheit erteilte“, heißt es in der Einleitung von Giovanni Boccaccios Novellen-Sammlung „Il Dekamerone“. Angesiedelt sind die hundert Geschichten im Jahr 1348 im Umland von Florenz. Während in der Stadt selbst die Pest wütet und „kein Arzt noch Arznei förderlich“ ist, den Schwarzen Tod zu bändigen, üben sich die einen in medizinisch gebotener Mäßigung – Abstand, Home Office, das ganze Programm – , die anderen wiederum geben sich einer Art spätmittelalterlicher Pest-Party hin, die sich möglichst dadurch auszeichnet „viel zu trinken, gut zu leben, mit Gesang und Scherz umherzugehen.“
Doch so oder so, es half nichts. Die Schilderungen der Pest, die Boccaccio ein Jahr später niederschrieb, sind derart verstörend, dass sie uns Heutige noch immer ein realistisches Bild von der epidemischen Lage am Ende des Mittelalters geben können. In dieser Gemengelage also versammeln sich im nahegelegenen Fiesole sieben Frauen und drei Männer, die genug haben vom Todestaumel, Bußpredigten und der Allmacht der Angst unten in der Stadt. Zehn Tage lang und zehn Nächste erzählen sie sich nun auf einem Landgut die ausschweifendsten und lüsternsten Geschichten, die ihnen ihre Phantasie darbieten will. Ehe und Ehebruch, Wollust und Fresssucht, Tanz und Eros. Was immer das Leben an Sinnlichkeit bereithält, wird bei Boccaccio gegen das Grauen aufgefahren.
Denn am Ende, so die Einsicht, die „Il Decamerone“ als eines der ersten Zeugnisse der Renaissance darbietet, zählt nur dieses Leben. Es zu verteidigen gegen menschliche Machbarkeitswahn auf der einen und unnütze Panikmache auf der anderen Seite, das ist die Botschaft, die tief in den hundert kleinen Novellen schlummert. Wiederlesen lohnt sich also – besonders wenn man dieser Tage das menschliche Maß nicht aus den Augen verlieren will.
Ralf Hanselle
Ungleich unter Gleichen
„Streulicht“ von Deniz Ohde zeigt die eigentlich einzige Möglichkeit, dem „Biodeutschen“ zu schildern, wie es sich anfühlt, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, die einen zwar formal gleichstellt, aber dennoch oft genug als Person zweiter Klasse behandelt, weil man einen vermeintlich exotischen Namen hat und Kind eines Arbeiters ist. Diese Momente der verdeckten Demütigungen legt Ohde mit ihrer präzisen Sprache eindrucksvoll offen, ohne Anklage, ohne Imperativ, ohne Aufschrei. Man wünschte, die Debatten über Rassismus und Klassismus des zu Ende gehenden Jahres wären auf so einem Niveau geführt worden.
Marko Northe
Deniz Ohde: Streulicht. Roman. 284 Seiten. 22 Euro. Suhrkamp Verlag. Berlin 2020.
Die Schwedenversteher
Henrik Berggren, Kulturchef bei Dagens Nyheter und der Historiker Lars Trägårdh erklären unter Bezugnahme auf zentrale Werke der schwedischen Literatur, wichtige politische Wegmarken und historische Besonderheiten, wie über die letzten 200 Jahre der „Staatsindividualismus“ entstanden ist, der die schwedische Gesellschaft heute prägt. Kleines amuse-gueule: Vom „schwedischen Weg“ war schon vor 100 Jahren die Rede.
Moritz Gathman
Die Mörderin ist immer die Nanny
Wie aus dieser Frau eine Mörderin wurde, das erzählt Leila Slimani in einer so nüchternen und klaren Sprache, dass man eine Gänsehaut bekommt. Ein „dunkles Märchen für Erwachsene“ hat die französische Bestsellerautorin ihren zweiten Roman genannt. Es ist ein harmloses Etikett für eine Geschichte, die die Wucht einer antiken Tragödie entfaltet. Slimani spielt virtuos mit dem schlechten Gewissen und der Angst, die viele Eltern plagen, die ihr Kind in fremde Obhut geben, während sie sich beruflich selbstverwirklichen. Ihre Botschaft ist ebenso schlicht wie eindringlich: „Trau nie einer Babysitterin!“
Antje Hildebrandt
Leila Slimani . Dann schlaf auch du. 232 Seiten. 10 Euro. Luchterhand Verlag. München 2017.
Auch vor Corona war schon Chaos
Denn was ich entdeckte war ein Buch, das ohne Angst geschrieben ist. Aus der Sicht eines zwangsweise in den Vorruhestand versetzten Berliner Wirtschaftsjournalisten mit dem Spitznamen „Kassandra“ geschrieben, weist das Buch seinen Lesern den Weg, wie die Entscheidungen unserer aktuellen Regierung unter Angela Merkel zu hinterfragen sind. Dass die Handlung vor Corona spielt, ist dabei nicht nur wohltuend, sondern schärft den Blick für alle die Dinge, die wir schon längst wieder vergessen haben. Ach ja, die „Griechenland-Rettung“. Stimmt, da war ja was. Aber wie war das eigentlich? Ein vernünftige Einwanderungspolitik? Ach ja, die gab es ja auch schon vor 2015 nicht, weil nicht erwünscht. Und China? Ja, es dürfte die Leerstelle der deutschen Außenpolitik in den vergangenen zwei Jahrzehnten überhaupt sein.
Schonungslos beschreibt „Kassandra“, wie insbesondere die Kritik von links an der Regierung Merkel nahezu komplett verstummt zu sein scheint. Wozu das inzwischen geführt hat, hätte sich wohl niemand träumen lassen. Weil der Druck von rechts so groß ist, traut sich links erst recht nichts mehr. Es ist ein Buch, das nach Corona unbedingt eine Fortsetzung bräuchte.
Bastian Brauns