Literatur - „Identität ist sowas wie ein Sandwich“

Die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic erläutert, warum der Nationalismus auf dem Vormarsch ist, warum es so schwer ist, über Schmerz zu schreiben und warum Picasso ein Menschenfresser war

„Es hängt von vielen Faktoren ab, ob wir uns für das Gute oder das Böse entscheiden“ / Mia Carlsson
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Frau Drakulic, Sie gelten als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Kroatiens. Ihre Romane und Essaybände sind in zahlreiche Sprachen übersetzt, und Sie leben in drei Ländern, in Kroatien, Schweden und Österreich. Sind Sie eine europäische oder eine kroatische Autorin? Und ist diese Unterscheidung sinnvoll? 
Nein, nur sprachlich. Und nicht mal das, weil ich ja auch auf Englisch schreibe. Es gibt kein Entweder-Oder. Geografisch bin ich zwar Kroatin, aber ich lebe auch in Schweden und Österreich. Aber in Ihrer Frage versteckt sich ein Hinweis auf ein Dilemma: Wohin gehöre ich? Ich glaube nicht an die Dominanz der nationalen Identität. Identität ist eher sowas wie ein Sandwich. Ich habe eine kroatische Schicht, eine lokale istrische Schicht, eine regionale, eine europäische. Hinzu kommen persönliche und berufliche Elemente. In Europa haben wir heute das große Problem, dass wir kein differenziertes Konzept von Identität entwickeln. Darum fallen alle in ihre nationalen Muster zurück.

Vor allem in den ehemaligen kommunistischen Ländern beobachten wir ein Erstarken des Nationalismus, während sich in den westlichen Ländern eher ein medial geradezu verordneter Anti-Nationalismus durchsetzt. Wie erklären Sie sich das?
Das sehe ich anders als Sie. Schauen Sie doch nach Frankreich zu Le Pen oder nach Deutschland, wo die AfD jetzt Erfolge feiert. Überall in Westeuropa, sei es in Finnland, Schweden, Norwegen, Holland oder Dänemark, ist der Nationalismus wieder auf dem Vormarsch. Das hat natürlich mit dem Zustrom der Flüchtlinge zu tun. In Osteuropa hat der Nationalismus andere Ursachen. Hier wurde die nationale Identität lange Zeit unterdrückt, und diese Länder haben andere Entwicklungen durchgemacht als der Westen. Wir haben andere Werte, andere Denkweisen und Verhaltensmuster, die lassen sich dem europäischen Prozess nicht so schnell angleichen. Und wenn sich die Leute verunsichert fühlen, sei es real oder irreal, dann fallen sie in alte Muster zurück, dann suchen sie sich etwas, das sie kennen.

In Ihrem Buch „Wie wir den Kommunismus überstanden – und dennoch lachten“ beschreiben Sie das Leid, das der Kommunismus verursacht hat. In Deutschland wird der Kommunismus anders gehandhabt. Wer hierzulande einmal Kommunist oder zumindest linksradikal war, belächelt sich in milder Selbstironie, und in manchen Filmen und Romanen wird die DDR als absurder, aber irgendwie niedlicher Staat dargestellt. Verklären wir so den Kommunismus?
Ja, es gibt diese Nostalgie, aber ich interpretiere sie nicht politisch. Niemand sehnt sich nach einem diktatorischen Regime. Es geht vielmehr um ein psychisches Bedürfnis, das Bedürfnis nach Sicherheit. In den neuen Übergangsgesellschaften auf dem Weg in Demokratie und Kapitalismus fühlen sich viele Menschen verunsichert. Werden sie ihren Job behalten, ihre Krankenversicherung? Während des Kommunismus hatten viele das Gefühl, auf niedrigem Niveau sicher und versorgt zu sein. Die jungen Menschen heute hören diese Geschichten und entwickeln die Utopie einer gerechteren Welt, und hier beginnt die Nostalgie. Die ist ganz menschlich. Und traurig, weil sie zeigt, wie enttäuscht die Menschen von den neuen Gesellschaften sind. Aber eine politische Gefahr sehe ich darin nicht.

In „Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht“ porträtieren Sie Kriegsverbrecher in Den Haag. Und ähnlich wie Hannah Arendt können Sie das dämonische Böse nicht identifizieren. Viel eher beobachten Sie, dass die Kriegsverbrecher verblüffend normale Menschen sind. Konnten Sie damit dem Phänomen von Gut und Böse auf den Grund gehen?
Ich glaube, wir haben das Potenzial für beides in uns, für das Gute und das Böse. Es hängt von vielen Faktoren ab, für welche Seite wir uns entscheiden. Sie als Sophie und ich als Slavenka sind in der Lage, Dinge zu begehen, von denen wir nicht mal träumen. Das kommt auch auf die jeweilige Situation an. Ich hatte mal einen heftigen Streit mit einem Freund, der mir während des Krieges erzählt hat, er würde, wenn jemand seinem Kind etwas antäte, nicht mit Gewalt reagieren. Ich habe ihm nicht geglaubt, denn nach der Lektüre zum Beispiel von Christopher Browning…
 

… Browning untersucht in seinem Buch „Ganz normale Männer“ die Taten des Reserve-Polizeibataillon 101 während des Holocausts
… und anderen klassischen Schriften über den Krieg und die menschliche Natur wurde mir immer klarer, dass wir uns selbst nicht kennen. Browning hat bei diesen Männern keinen gemeinsamen Nenner finden können. Und obwohl sie nicht gezwungen wurden, Juden zu ermorden, entschied sich kaum jemand dagegen. Umgekehrt konnten auch Leute, die während des Krieges Juden versteckten, obwohl sie sich dadurch selbst in Lebensgefahr brachten, hinterher nicht erklären, warum sie das getan hatten. Sie mussten einfach so handeln. Dass wir beide Möglichkeiten in uns haben, wollte ich in meinem Buch beschreiben.

Sie haben auch mit Opfern von Kriegsverbrechern gesprochen. Die Erlebnisse der bosnischen Frauen in den Vergewaltigungslagern waren bestialisch. In Ihrem Roman „Als gäbe es mich nicht“ haben Sie das beschrieben. Hat diese Arbeit Sie verändert?
Das kann ich nicht genau sagen, weil das sehr tiefe Prozesse sind. Sowas vergisst man nie wieder. Vielleicht kann man meine Arbeit mit der eines Schauspielers vergleichen, der eine dramatische Rolle spielt. Natürlich steht er unter dem Einfluss der Rolle, aber er muss sich irgendwann daraus befreien, um wieder in andere Rollen eintauchen zu können. Und genauso ist es beim Schreiben über solche Themen. Die Geschichte färbt auf dich ab, als Mensch und Autor, aber trotzdem ist es nicht deine Geschichte. Du identifizierst dich für eine Weile damit, sie hinterlässt Narben in dir, aber irgendwann musst du da wieder raus. Sonst würdest du den Verstand verlieren.

Sie haben selbst einiges an Leid erfahren. Sie hatten als junge Frau eine schwere Nierenerkrankung und haben zwei Transplantationen bekommen, über die auch zwei Bücher erschienen sind. Ihr Debütroman „Das Prinzip Sehnsucht“ und den Erfahrungsbericht „Leben spenden“. Inwiefern hat die Erkrankung Ihr Werden als Schriftstellerin beeinflusst?
In dem Sinne, dass ich diese Erfahrung artikulieren wollte. Es ist sehr schwer, über Schmerz zu schreiben, vielleicht am schwersten. Das war nur literarisch möglich. Anders hätten sich die Leser nicht damit identifizieren können. Und das hat auch meine späteren Arbeiten beeinflusst, mein Roman über Frida Kahlo zum Beispiel handelt ja auch vom Schmerz und wie sie ihn in ihren Bildern zum Ausdruck bringen konnte. Allerdings glaube ich als Schriftstellerin nicht an die Macht der Erlebnisse. Viel wichtiger sind Fantasie und Talent. Wenn ich zwischen Erlebnis und Fantasie wählen müsste, würde ich immer die Fantasie nehmen. Die eigene Erfahrung ist nicht unbedingt der Schlüssel zum Schreiben, jedenfalls nicht zu meinem Schreiben, auch wenn es den Anschein erwecken mag.

Kommen wir zu Ihrem neuen Roman, „Dora und der Minotaurus“. Das Buch handelt von Picassos berühmtester Muse Dora Maar, die eine begabte surrealistische Fotografin war und an der Beziehung zu Picasso zerbrach. Haben Sie es als riskantes Unterfangen erlebt, aus der Perspektive einer historischen Person zu schreiben?
Ich habe versucht, eine Dimension zu streifen, die in den Biografien nicht vorkommt. Das war schon bei Frida so, und auch bei Dora habe ich ein verborgenes Element wahrgenommen, als ich begann, mich mit ihr zu beschäftigen. Warum hat sie solche Fotos gemacht? Und warum hat sie sich aufgegeben, als sie Picasso kennenlernte? Manchmal lässt sich die Antwort in den Biografien finden, manchmal nicht. Also habe ich versucht, das schreibend herauszufinden. Aber man muss den literarischen Charakter vom historischen unterscheiden. Ich arbeite zwar mit biografischen Elementen, trotzdem ist das meine Dora Maar. Der Roman basiert auf den Fakten, und die beschriebenen Situationen hat es auch wirklich gegeben, aber die Gefühle und Dialoge habe ich erfunden.

 „Dora und der Minotaurus“ ist aber auch ein Roman über Picasso, den sie als Minotaurus charakterisieren, als Menschenfresser.
Ja, aber er hat nicht nur Dora, er hat auch sich selbst verschlungen. Er hat sich alles und jeden einverleibt. Und wie viele andere war er auch selbst ein Opfer seiner Berufung, seiner Malerei, weil für ihn nichts, nicht mal er selbst, wichtig war außer seiner Arbeit. Nicht mal das Ergebnis, das Arbeiten an sich. Picasso hätte sich nie wie wir jetzt hingesetzt und nur gesprochen, er hätte gleichzeitig etwas auf Ihre Notizzettel gemalt oder etwas aus dem Flaschendeckel gebastelt. Es ist diese Kreativität, die keine Grenzen hat. Das bedeutet: auch keine moralischen. Aber mit moralischen Standards kann man solche Leute nicht erfassen. In meinem Buch bin ich auch gar nicht gegen ihn. Man kann in so einem Roman auch nicht für eine Figur Partei ergreifen, man kann sie nur zeigen.

Als ich den Roman gelesen habe, der aus Doras Ich-Perspektive geschrieben ist, war ich neidisch auf Picasso – weil er ein Minotaurus sein kann und Dora nicht. Ich habe mich gefragt, ob Künstler, auch Schriftsteller, Minotauri sein müssen, die vom Leben der anderen zehren. Ob nicht jeder Künstler sich irgendwann entscheiden muss, ob er Dora oder der Minotaurus sein will. Zu welcher Seite tendieren Sie?
(lacht) Das müssen Sie die Menschen aus meinem Umfeld fragen… Man muss als Autor durchaus unbarmherzig sein, was die Arbeit angeht. Allen muss klar sein: Ich lebe für meine Arbeit. Also, offenbar bin ich mehr Picasso als Dora, in dem Sinne, dass ich mich niemals aufgebe. Schreiben, das bin ich. Dora Maar hatte aber auch ein anderes Schicksal. Sie hat viele Rückschläge erlitten, psychische und physische, sie wurde Opfer einer Elektroschockbehandlung zu einer Zeit, als noch keiner wusste, was das im Gehirn anrichtet. Das muss man natürlich berücksichtigen, ebenso die Tatsache, dass Frauen damals selten selbst Künstlerinnen waren, sondern lediglich als Musen auftraten. Einigen von Picassos Geliebten hat es genügt, sein Model zu sein, und auch Dora war anfangs glücklich damit. Aber als er sie im Stich ließ, hat sie das zerstört.

Haben Sie einen Rat für junge Autoren, damit sie nicht enden wie Dora Maar, sondern sein können wie Picasso?
Werden Sie kein Schriftsteller, wenn Sie nicht unbedingt müssen! Werden Sie etwas anderes!

 

Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.

Der neue Roman von Slavenka Drakulic, „Dora und der Minotauros“ , ist im Aufbau-Verlag erschienen.

Ein Porträt der Schriftstellerin Slavenka Drakulic lesen Sie in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die ab sofort in unserem Online-Shop erhältlich ist.

 

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