Die letzten 24 Stunden von Al Di Meola - Ich spiele verminderte Akkorde in Moll mit einem Hauch Dur

Der Jazz-Musiker Al Di Meola würde in seinen letzten 24 Stunden zu seiner Lieblingsgitarre greifen und die Traurigkeit überspielen. Er glaubt nicht ans Jenseits. Wenn er geht, dann für immer.

Die letzten 24 Stunden von Al Di Meola wären von Traurigkeit geprägt / Alexander Mertsch
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Autoreninfo

Björn Eenboom ist Filmkritiker, Journalist und Autor und lebt im Rhein-Main-Gebiet.

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Der 1954 in Jersey City (USA) geborene Jazz- und Jazzrock-Gitarrist und Komponist Al Di Meola gehört zu den weltweit profiliertesten Musikern seines Faches. Sein neuestes Album heißt „Across the Universe“.

Ich öffne die Tür und höre das Rauschen des Ozeans. Meine letzten 24 Stunden beginnen. Wie aus heiterem Himmel bricht die Realität über mir zusammen. Ich denke sofort an meine Kinder und an die Menschen, die mir am nächsten stehen. Die ersten Stunden verbringe ich wie paralysiert. Ich schaue auf das Meer und versuche zu begreifen, dass ich nun diese wunderschöne Erde für immer verlassen werde.

Musik hat mir immer geholfen in schwierigen Zeiten, ob bei einer Scheidung oder nun in der Corona-Pandemie. Ich greife einfach zu meiner Gitarre und fange an, etwas zu komponieren. Das ist für mich der beste Weg, um zu meditieren und mich von den Problemen, die mich umgeben, loszulösen. Doch die Gewissheit zu haben, nur noch wenige Stunden zu leben, wäre eine ganz andere Herausforderung. Ich denke, niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wie er in dieser fundamentalen Lage reagiert, selbst wenn Pläne geschmiedet werden. Es ist wesentlich leichter, nicht zu wissen, wann der Tod an das Leben anklopft. 

Der Griff zur Lieblingsgitarre

Trotzdem greife ich zu einer meiner Lieblingsgitarren, einer gebrauchten Conde Hermanos aus den achtziger Jahren – ihr Sound ist einzigartig. Gitarre zu spielen, gibt meinem Leben einen Sinn und erinnert mich daran, dass ich lebendig bin. Denn ohne Musik kämpfen wir mit den Dämonen der Gesellschaft und der Depression. Ich kann in einer finsteren Stimmung sein, das Instrument spielen und es bringt mich an einen anderen Ort, der meine dunklen Gefühle aufhellt. Das funktioniert besonders gut vor Live-Publikum. Die Anerkennung setzt einen Endorphinrausch frei, der eine ganze Weile anhalten kann. Mein Lieblingsakkord ist der Dominantseptakkord mit kleiner None, doch heute spiele ich Variationen verminderter Akkorde in Moll mit einem Hauch Dur, die meine Gefühlslage besser spiegeln. Traurigkeit besitzt eine unbeschreibliche Schönheit. Die Musik, die mir am meisten bedeutet, bringt mich zum Weinen.

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Als Siebenjähriger fiel ich eines Tages hoch oben aus einem Baum und schlug mit dem Kopf auf den Pflastersteinen der elterlichen Einfahrt auf. Ich zog mir eine Schädelfraktur zu und schwebte zwischen Leben und Tod. Schreckliche Operationen musste ich über mich ergehen lassen. Zwei Monate verbrachte ich im Krankenhaus. Es hieß, es sei ein Wunder, dass ich keine bleibenden Schäden davontrug. Während der Genesung entbrannte in mir der Drang, Musik zu machen. So bekam ich meine erste Gitarre geschenkt von meinen Eltern.

Dann gehe ich für immer

Dieses Erlebnis ist für mich der Beweis, dass es einen Gott geben muss – in welcher unbegreiflichen Form auch immer das sein mag. Mir gefällt der Gedanke, dass meine Musik und dieses unglaublich erfüllte Leben wie ein Dankeschön an ihn sind. Ich hoffe, dass Gott stolz ist auf mich als liebender Vater meiner Töchter und auf die Musik, die ich in die Welt hinausgetragen habe.

Der Tag neigt sich dem Ende entgegen. Eine unendliche Traurigkeit überkommt mich. Doch das ist der Lauf der Dinge. Ich glaube nicht an ein Jenseits. Wenn ich gehe, dann gehe ich für immer. Ich umarme meine Familie ganz fest und sage ihnen ein letztes Mal, wie sehr ich sie liebe.

Wenn ich mir vorstelle, meine Asche würde über einem persischen Gebirge verstreut – das ist doch alles Quatsch.

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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