Leslie Mandoki - „Integration ist eine Bringschuld“

Er ist Schlagzeuger, Produzent, Flüchtling: Leslie Mandoki spricht im Interview mit Cicero über Angela Merkel und Viktor Orbán, Anywheres und Somewheres – und eigene Versäumnisse

Erschienen in Ausgabe
Leslie Mandoki ist der Meinung, dass niemand ohne Leidensdruck seine Heimat verlässt / Fotos: Florian Generotzky
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Leslie Mandoki, Sie sind ein bekannter Musiker und Produzent und ein politischer Mensch mit guten Kontakten in die Politik. Angeblich haben Sie sogar die Handynummer von Viktor Orbán, stimmt das?
Leslie Mandoki: Gerade als Freidenker ist mir der persönliche Austausch sehr wichtig. Ich kommuniziere mit einigen Politikern direkt über Handy, auch mit etlichen Ministerpräsidenten.

Nähe zu Angela Merkel wird Ihnen auch nachgesagt. Wie kann man Viktor Orbán und Angela Merkel gleichermaßen nahestehen?
Das ist sehr einfach. Die beiden stehen einander auch nahe.

Die beiden stehen einander nah?
Ja.

Der öffentliche Eindruck ist ein anderer.
Das weiß ich.

Dann klären Sie uns auf.
Meine Nähe zu Angela Merkel begründet sich aus der langen, gegenseitigen Wertschätzung. Wir kennen uns gut. Ich hatte die ehrenvolle Aufgabe, ihre Wahlkämpfe musikalisch zu begleiten. Daraus ist ein persönliches Bild in mir entstanden von einer außerordentlich gebildeten, sehr klugen, fleißigen Frau mit Haltung und ehrenvoller Einstellung. Ich kann über sie nur mit höchstem Respekt und Anerkennung sprechen.

Okay, aber wieso sagen Sie, die beiden verbindet mehr, als unsereins vielleicht ahnt, wo doch Orbán und Merkel harte Antipoden in der europäischen Migrationspolitik sind?
Das heutige Ungarn war im vergangenen Jahrhundert dauernd von fremden Ländern besetzt – das Osmanische Reich, die Habsburger, die Sowjetunion – mit kurzen Unterbrechungen, die in jeder Hinsicht Blütezeiten bescherten. Die Besatzungszeiten waren bittere, lange und harte Jahrzehnte. Das erklärt diese Sehnsucht nach Freiheit, die 1956 und 1989 Europa entscheidend veränderte. In Ungarn lebt die größte europäisch-jüdische Gemeinde in einem absoluten Schmelztiegel in der christlich-jüdisch geprägten Hauptstadt Budapest. Ungarn geht wirtschaftlich eigenständige Wege, mit einer arbeits- und familienorientierten Politik, mit der niedrigsten Besteuerung von Erwerbseinkommen und dem stärksten Förderprogramm für Familien in Europa. Ich würde die deutsch-ungarischen Beziehungen und auch die Beziehung zwischen der Bundeskanzlerin und Ministerpräsident Viktor Orbán niemals reduzieren auf den Dissens in der Einwanderungskrise. Aber in der Frage scheint durch, dass Redebedarf besteht über diesen Dissens.

Ja, in der Tat.
Bedauerlicherweise wurden immer die Unterschiede in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gestellt. Ich bin als Musiker und als Künstler sehr bemüht, das verbindende Element in den Mittelpunkt zu stellen, und dazu gehört aber auch zu verstehen, wo Unterschiede liegen. Ungarn war 180 Jahre vom Osmanischen Reich besetzt, da hat man zwangsläufig einen anderen Blick auf Einwanderung aus diesem Kulturkreis. Das sollte man in Deutschland besser verstehen. Zumal es eine ganz enge kulturelle und emotionale Bindung der Ungarn an Deutschland gibt. Zum Fall der Mauer haben die Ungarn einen signifikanten Beitrag geleistet, der Eiserne Vorhang ist dort zerrissen worden, wie Helmut Kohl gesagt hat. Der erste Stein ist in Budapest aus der Berliner Mauer geschlagen worden. In Ungarn gab es eine größere Zustimmung zur Wiedervereinigung als in Deutschland selbst. Man darf nicht vergessen, dass es nur eine einzige Paarung von Ländern in Europa gibt, nämlich die Ungarn und Deutschen, die seit 1000 Jahren keinen Krieg gegeneinander geführt haben. Als Budapester Bub kann ich bezeugen, dass die Ungarn sehr deutschfreundlich, ein dem deutschen Kulturkreis sich zugehörig fühlendes Volk sind. Auch meine Abi­turarbeit in Literatur beschäftigte sich mit Goethes und Schillers Korrespondenz.

Trotzdem kam es zum Clash in der Flüchtlingsfrage.
Weil die beiden Länder unterschiedlich betroffen waren. Ungarn hat eine EU-Außengrenze, und Deutschland hat keine. Es gibt verbindliche EU-Verträge, die nur korrekt registrierte, kontrollierte Einwanderungen an diesen Außengrenzen zulassen. Wenn nun ein EU-Land, wie zum Beispiel Deutschland, für eine unkontrollierte und unbegrenzte Einwanderung ist, was sein gutes Recht ist, dann kann man das nicht einfach anderen EU-Ländern ohne einen politischen Diskurs verordnen.

Aber genau das ist in Deutschland passiert 2015/2016.
Ja. Ohne Konsultation der Partner wie Ungarn und ohne Debatte im Bundestag. In dem es ohnehin eine mehr als absolute Mehrheit für eine unkontrollierte, unbegrenzte Einwanderung gab.

Wie war das in Ungarn?
Im ungarischen Parlament wurde debattiert, und es gab eine absolute, bei 90 Prozent liegende Mehrheit für eine mit den EU-Regeln konforme, kontrollierte und aus ungarischer Sicht begrenzte Einwanderung. Das ist funktionierende, parlamentarische Demokratie. Und ich glaube, in der EU ist man besser beraten, den offenen Diskurs unter Europäern zu pflegen, wie er früher in Brüssel selbstverständlich war, statt immer den Dissens zu suchen, was dann auch zum Brexit führte. Jean-Claude Juncker hatte diesen Dauerdissens zuerst provoziert und dann überzogen, als er zu oft jeden als Antieuropäer darstellte, der schlicht auf Einhaltung des EU-Rechts pochte oder zumindest diskutieren wollte, was verändert werden sollte. Wir werden Großbritannien vermissen, und dieser Dauerzoff mit den Visegrád-Staaten ist kontraproduktiv. Sie sind wirtschaftlich 65 Prozent größer als Frankreich.

Hätte das deutsche Parlament Ihrer Meinung nach befragt werden sollen?
Selbstverständlich. Ich fürchtete im Sommer 2015, dass ein aus den Fugen geratenes Flüchtlingskrisen-Management ein Konjunkturprogramm für Rechtsaußen werden und auch die Akzeptanz der Zuwanderung abnehmen würde, was wir jetzt bei den Landtagswahlen zu spüren bekommen haben. Ein Diskurs hätte diese bittere Fehlentwicklung verhindert.

Haben Sie darüber mit Merkel gesprochen?
Nein, die Gelegenheit ergab sich nicht.

Was hätten Sie ihr denn gesagt?
Als ehemaliger Flüchtling sage ich: Am Anfang steht ein unglaublicher Leidensdruck, ohne den verlässt niemand seine Heimat, seine vertraute Umgebung, seine Familie, seine Freunde. Das müssen wir uns immer bewusst machen. Dann stellt sich die Frage, wodurch haben sie diesen Leidensdruck, und das hat unterschiedliche Ursachen. Einige leiden direkt unter politischer Verfolgung, auch Journalisten unseres Nato-Partners Türkei, die müssen bei uns uneingeschränkt Zuflucht finden. Dann gibt es eine Gruppe, die deshalb hierherkommt, weil in ihren Heimatländern Krieg herrscht, „Displaced Persons“, wie die Uno-Definition sie nennt. Denen müssen wir Zuflucht geben, bis der Krieg dort vorbei ist, aber – wie es das Völkerrecht vorsieht – begrenzt auf diesen Zeitraum, denn irgendjemand muss deren Land danach wieder aufbauen. Die dritte Gruppe kommt aus dem Leidensdruck, den auch wir mit unseren Rüstungsgütern erzeugt haben. Und Ländern, vor allem in Afrika, die wir brutalst ausgebeutet haben. Diese Ausbeutung muss aufhören, und wir müssen dort helfen, wo wir die Fluchtursachen mitverursacht haben. Leider muss man auch sagen, dass die kriminelle Energie der Schlepper, die sich mit der Not der Menschen große Reichtümer anhäufen, zu wenig thematisiert wird. Dieses schreckliche „Human Trafficking“ ist die schlimmste Art der Kriminalität, die mit allen Mitteln bekämpft werden muss, um zu humanen Lösungen zu kommen.

Das hört sich mehr nach Merkel als nach Orbán an.
Moment. Wenn diese Menschen an unsere Türe klopfen, also an unsere EU-Außengrenze kommen, dann ist es doch unangemessen, diesen EU-Grenzländern wie etwa Ungarn per Dekret aus Berlin zu sagen: Ihr habt jetzt das geltende EU-Recht, den Schutz der Außengrenze, nicht einzuhalten. So funktioniert das nicht. Und so hätten das auch weder Helmut Kohl noch Gerhard Schröder gemacht. Die hätten mit allen Ministerpräsidenten der Grenzländer gesprochen und eine gemeinsame Lösung gesucht, aber doch nicht von Berlin aus verordnet. Man muss sich das einmal bewusst machen: Da standen 2015 mit einem Schlag 500 000 Menschen an der Grenze des Zehn-Millionen-Landes Ungarn.

Und was lief dann schief?
Die aus der Historie herrührenden Unterschiede in der Sichtweise wurden missachtet, und in der Folge ist etwas zu Bruch gegangen. Meine Position als Rockmusiker ist: Dort, wo sich Gräben aufgetan haben, müssen Brücken gebaut werden. Mein Vorbild ist Willy Brandt, der nach Warschau gegangen ist, nach Moskau, nach Paris, und der dort, wo Risse entstanden sind, Brücken gebaut hat. Der gemeinsame, innige Auftritt von Angela Merkel und Viktor Orbán zum 30. Jahrestag des Paneuropäischen Picknicks in Sopron war so ein Brückenbau und sehr wichtig.

Sie sind selbst vor vielen Jahren als Flüchtling aus Ungarn nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie damals Deutschland als Aufnahmeland erlebt?
Sehr offen, sehr tolerant, sehr herzlich. Eine wunderbare kultivierte Gesellschaft, sehr werteverbunden. Ein traumhaftes Land.

Hatten Sie mit Ressentiments zu tun?
Nein. Wenn, dann war ich eher jetzt manchmal besorgt. Aber als Künstler versuche ich, die verbindenden Elemente in den Vordergrund zu stellen. Wir müssen die Spaltung überwinden, auch wenn Bashing im Trend ist.

Wie erklären Sie sich, dass heute Vorbehalte bestehen gegen Migranten und seinerzeit in Ihrem Fall nicht?
Ich würde das mit drei Halbsätzen erklären, die unangenehm sind und jetzt anecken werden bei unseren Leserinnen und Lesern, aber …

Die sind Debatte gewohnt.
Mit drei Prinzipien hätte man diese Krise vermieden, und die AfD wäre bei 0,5 Prozent.

Erstens?
Keine Toleranz für Intoleranz. Egal, woher sie kommt. Intoleranz dürfen wir nicht tolerieren. Die deutsche Leitkultur ist Toleranz. Es lebe die „Bunte Republik Deutschland“ meines Freundes Udo Lindenberg, und es muss jedem klar sein, dass wir Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie oder Frauenfeindlichkeit niemals tolerieren werden.

Okay. Punkt eins. Punkt zwei?
Punkt zwei betrifft die Integration. Sie werden das nicht sagen, weil Sie gebürtiger Deutscher sind, aber ich als ehemaliger Asylant, der dieses Land liebt, erlaube mir zu sagen: Integration ist eine Bringschuld der Migranten. Und keine Holschuld der Deutschen.

Viele sagen: Wir tun zu wenig, um Integration gelingen zu lassen.
Lassen Sie sich von einem ehemaligen Flüchtling sagen, dass ich das auch aus Erfahrung anders sehe.

Warum?
Integrationsangebote sind zu oft kontraproduktiv.

Haben Sie Sprachkurse gemacht?
Nein, nie im Leben. Diese offene, tolerante und freie Gesellschaft, in der man sich selbst verwirklichen kann, das war mein Deutschkurs! Das ist die eigentliche Anziehungskraft dieses Landes. Und nichts integriert mehr als Arbeit und Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, als anerkannter Neubürger, der respektvoll mit den Gepflogenheiten und vor allem den Werten dieses Landes umgeht und selbst Respekt genießt.

Wer waren Ihre Integrationshelfer?
Einmal ein Ehepaar in der Nähe von Stuttgart, in Gerlingen, die mich mit zwei Freunden einfach aus Nächstenliebe für ein paar Wochen aufgenommen haben. „Mutti und Vati“, wie wir sie bis zu ihrem Tod genannt haben. Beruflich war das Klaus Doldinger, ein ganz großartiger Mensch, nicht nur ein grandioser, epochaler Musiker. Er war derjenige, der mich hier in München eingeführt und die Verbindungen geschaffen hat. Großartig. Mein Soulmate Udo Lindenberg hat mir auch sehr geholfen, in Deutschland musikalisch Fuß zu fassen.

Der dritte Halbsatz? Sie haben gesagt, es sind drei.
Ja. Gleiches Recht für alle.

Heißt konkret?
Wir müssen Migranten so behandeln, wie wir uns selbst behandeln. Wir dürfen Fremdenfeindlichkeit ebenso wenig tolerieren wie Regelverletzungen von Geflüchteten, was dann wiederum zu Fremdenfeindlichkeit führt. Wir dürfen sehr wohl erwarten, dass Geflüchtete lückenlos korrekte Angaben bei unseren Behörden machen, wie es auch von uns erwartet wird.

Ist der deutsche Rechtsstaat da zu lasch?
Ja. Unsere Gesetze müssen für alle gleichermaßen gelten, wir sollten aber unseren Fokus auf soziale Hygiene und emotionale Ausgewogenheit legen. Ein Beispiel ist Heimaturlaub für politisch Verfolgte in Ländern, in denen sie politisch verfolgt sind, auf Kosten der Steuerzahler kurz nach Anerkennung des Asylantrags. Mit solchen Fehlentwicklungen senken wir die Bereitschaft, Geflüchteten zu helfen, deshalb sehe ich das kritisch. Es wäre für mich unvorstellbar gewesen, dass ich mir ein Jahr später mit Steuergeldern meines Gastlands einen Heimaturlaub finanziert hätte. Ich konnte lange nicht nach Ungarn, weil ich dort wirklich politisch verfolgt war. Nicht mal als Deutscher habe ich ein Visum bekommen für Ungarn. Wer aber mal eben in den Urlaub nach Syrien fliegt, verspielt seine Glaubwürdigkeit und den Rückhalt der Gesellschaft, mit Folgen für alle Geflüchteten.

Warum hängen Sie sich politisch so weit aus dem Fenster?
Weil ich diesem wunderbaren Land so viel verdanke und es liebe. Wenn wir diese wunderbare Bundesrepublik Deutschland ohne die Farbe Braun erhalten wollen, müssen wir die Menschen, die der AfD nachlaufen, wieder zu uns in die Mitte holen. Wenn wir das hinkriegen wollen, müssen wir zwei Dinge tun: wir „Anywheres“ müssen raus aus der narrativen Wagenburg. In seltsamen Zeiten, in denen wir alle spüren, dass etwas gewaltig verrutscht ist, werden Erklärungen und Halt gesucht. Deswegen versucht unser neues monothematisches Doppel-Konzeptalbum „Living In The Gap / Hungarian Pictures“ die Verantwortung des Künstlers wahrzunehmen, dessen wahrhaftige Daseinsberechtigung darin liegt, ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft zu sein. Wir Künstler und idealistischen Freidenker müssen uns so laut wie möglich gegen die Spaltung in unserer Gesellschaft in Europa äußern, wie es auch Béla Bartók mit seinen „Hungarian Pictures“ getan hat. Wir müssen den Diskurs wieder in der Mitte verankern.

Wie?
Indem wir die Ängste der Menschen in einer sich rasant verändernden Welt ernst nehmen. Wir hätten diskutieren und streiten müssen.

Viele sagen: Das bringt nichts.
Doch, und es eilt. Auch ich mache mir da Vorwürfe, dass ich das vor fünf Jahren nicht gemacht habe. Wir müssen uns den Menschen stellen, die nicht unsere Ansichten von einer freien Gesellschaft teilen, wir müssen streiten. Wer sagt, wir müssen sie ausgrenzen und nicht streiten, der liegt falsch. Jeder, der unsere Freiheit und unser demokratisches Verständnis ablehnt, den möchte ich von der Schönheit einer freien Gesellschaft überzeugen. Für mich als ehemaliger illegaler Einwanderer ist es sehr bedeutsam, dass wir die Akzeptanz von Geflüchteten erhalten.

Frage: Ist es dafür nicht schon zu spät?
Nein. Ich liebe dieses Land zu sehr und habe zu viel Respekt vor der deutschen Kultur, den Menschen und ihrer Mentalität, um einfach zu sagen: Wir haben ein Viertel oder ein Fünftel verloren. Dazu bin ich nicht bereit. Ich möchte mein geliebtes Deutschland nicht in einer Spaltung sehen. Ich möchte auch mein geliebtes Europa nicht in einer Spaltung sehen. Ich möchte mein Geburtsland, das ich wirklich tief im Herzen trage und dem ich vieles zu verdanken habe, und meine Heimat Deutschland nicht in einer Spaltung und im Streit sehen.

Sie sehen bei sich eine Mitschuld?
Natürlich. Wir „Anywheres“ haben uns verschanzt.  Auch ich hier in meinem Haus am See. Wir haben die „Somewheres“ nicht hören wollen. Wir müssen raus aus dieser komfortablen Wagenburg, der gefühlten moralischen Überheblichkeit, den Framings. Ich zeige ungerne mit dem Zeigefinger auf jemand anderen, sondern suche eher den Fehler bei mir. Und deshalb sage ich: Ich habe Fehler gemacht, meine ganze Generation hat Fehler gemacht.

Inwiefern?
Meine Generation hat nach diesem Glücksmoment des Mauerfalls ziemlich heftig versagt. Wir haben es trotz der längsten Friedensperiode der europäischen Geschichte und trotz großen Wohlstands vermasselt. Wir haben ein Primat von Egoismus, Habgier und Casinokapitalismus zugelassen, der sogar aus der Vernichtung von gesellschaftlichem Mehrwert noch Profit generiert. Vielleicht fragen wir uns endlich, wie es zu verantworten ist, dass Geld schneller Geld macht als menschliche Arbeit. Dadurch ist ein extremes soziales Ungleichgewicht entstanden, und wir leben heute in einer gespaltenen Gesellschaft. Quasi alles ist zum Spekulationsobjekt geworden. Ich sehe einige signifikante Fehler, die wir begangen haben, zum Beispiel auch die Klimapolitik.

Die Bundeskanzlerin hat doch die Energiewende nach Fukushima eingeleitet.
Aber die dient doch gar nicht dem Klima. Der abrupte Atomausstieg war problematisch. Er wurde ja auch nicht aus weltanschaulicher Überzeugung eingeleitet, sondern schlicht und einfach, weil da Landtagswahlen anstanden in Baden-Württemberg. Und dann werden halt die sichersten Atomkraftwerke der Welt abgeschaltet und die unsicheren in Belgien, Frankreich, Tschechien und Polen wieder hochgefahren. Und obendrein Braunkohle als Brückentechnologie, das war kein visionärer Schritt, sondern eine von Demoskopie getriebene Handlung.

Dafür, dass Sie mit Frau Merkel befreundet sind und sie für eine äußerst kluge Frau halten, widersprechen Sie ihrer Politik in diesem Gespräch reichlich oft.
Sie dürfen das nicht so personalisieren. Als Künstler habe ich es leichter, mein Arbeitsplatz sind das Studio und die Bühne. Ich habe Verständnis dafür, dass Politiker Wahlen gewinnen wollen, um Gestaltungsfreiraum zu erhalten. Man muss auch sagen, dass Angela Merkels Vorgänger mit der Aufgabe, Europa zusammenwachsen zu lassen, eine viel klarere Gemengelage vorfanden. Ich hätte ihr von Herzen gewünscht, dass Europa während ihrer Amtszeit nicht so ins Wanken gerät. Aber Frau Merkel ist uns noch ein Zukunftsbild für die deutsche Gesellschaft schuldig, eine klare Vision für die Jugend. Und Fakt ist: Die zunehmenden Alleingänge tun Europa nicht gut.

Angela Merkel hört bald auf. Wer kann Europa wieder einen?
Ich setze all meine Hoffnungen in die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Jean-Claude Juncker suchte immer den Konflikt mit den beiden Ländern, die ihn nicht gewählt haben: England und Ungarn. Ergebnis der Politik von Juncker und Schulz ist der Brexit und der Dauerkonflikt mit den Visegrád-Staaten. Für vieles, das in der Vergangenheit als alternativlos eingestuft wurde, hätte es eine Alternative gegeben. Aber für die Wiederherstellung des politischen Diskurses in der Mitte der Gesellschaft gibt es wirklich keine Alternative. 

Dieser Text ist in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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