Kulturelle Aneignung - Schwarz-Weiß-Malerei

In Amerika hat sich eine weiße Professorin jahrelang als schwarze Frau ausgegeben – und als Opfer rassistischer Polizeigewalt. Der Fall ist auch deswegen so interessant, weil er identitätspolitische Gewissheiten ins Wanken bringt.

Jessica Krug bei ihrem Vortrag im Jahr 2017 / Youtube
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Der Fall ist bizarr und traurig zugleich. Vergangene Woche sorgte die Meldung für Aufmerksamkeit, dass eine 39-jährige Professorin an der George Washington University sich mindestens ein Jahrzehnt lang als schwarze Frau ausgegeben hatte. Ihr Name ist Jessica A. Krug, aufgewachsen als weiße Jüdin in einem Vorort von Kansas City. Krug hatte sich bis zu ihrer „Enttarnung“ mehrere Identitäten zugelegt; zuerst war es eine vermeintlich nordafrikanische Abstammung, dann die einer Afroamerikanerin. Schließlich hatte sie behauptet, karibische Wurzeln zu haben und aus einem Schwarzenviertel im New Yorker Stadtteil Bronx zu stammen („Caribbean rooted Bronx Blackness“).

Erfundene Leidenserfahrung

Da stellt sich natürlich zunächst die simple Frage, warum sie diese Legenden entgegen ihrem Erscheinungsbild so lange aufrecht erhalten konnte. Bilder von ihr zeigen eine Frau mit pechschwarzem Haar und Creolen-Ohrringen, deren Teint allenfalls als hellbraun bezeichnet werden könnte. Ob sich niemand traute, das Offensichtliche anzusprechen, weil dies gewissermaßen eine rassistische Übergriffigkeit bedeutet hätte, sei einmal dahingestellt. Die eigentliche Brisanz der Causa Jessica Krug besteht jedenfalls darin, dass sie sich nicht nur eine falsche Ethnie angeeignet hat, sondern insbesondere auch die dazu passende Leidenserfahrung. Tatsächlich war Jessica Krug nämlich nicht nur Dozentin für afrikanische und afroamerikanische Geschichte. Sie trat darüber hinaus auch als „schwarze“ Aktivistin in Erscheinung.

Anerkannte Wissenschaftlerin

Im akademischen Betrieb hatte sich Krug durchaus Meriten erworben; insbesondere ihr im renommierten Verlag „Duke University Press“ erschienenes Buch „Fugitive Modernities“ über Kolonialismus und Sklavenhandel in Westafrika fand Anerkennung, sogar über den eigenen Fachbereich hinaus. Die Autorin scheint jedoch auch Anerkennung auf ganz anderem Gebiet gesucht zu haben.

Unter dem Pseudonym „Jessica La Bombalera“ trat sie nicht nur für die Rechte der farbigen Bevölkerung ein; sie stilisierte sich auch selbst zum Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt. Ein Video aus dem Jahr 2017 zeigt Krug bei einem Vortrag im „Studio Museum“ in Harlem, New York – es geht um die Aktion „Copwatching“, in deren Rahmen Polizeigewalt gegen ethnische Minderheiten dokumentiert werden soll.

Fiktive Person

Und dort, vor Publikum und laufender Kamera, erzählt Krug davon, wie sie als angebliches Kind der Bronx von frühauf mit permanenter Brutalität durch die Ordnungskräfte aufgewachsen wäre; wie sie als Fünfjährige ihren zwölfjährigen Bruder aus dem Park kommend begleitet hätte und dieser von Cops zu Boden geworfen worden sei.

Krug berichtet, in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft sei im Jahr 1999 der guineische Einwanderer Amadou Diallo von vier Zivilbeamten der New Yorker Polizei mit 41 Schüssen niedergestreckt worden. Bewegende Aussagen einer Betroffenen, so der Eindruck, denn die Vortragende spricht teilweise mit fast tränenerstickter Stimme. Doch nichts davon stimmte, wie man heute weiß. Krug hatte sich in eine fiktive Person hineinphantasiert.

Der Schaden ist immens

Die Reaktionen auf ihre Enttarnung als Tochter einer weißen Mittelschichtsfamilie aus dem Mittleren Westen der Vereinigten Staaten waren erwartungsgemäß voller Empörung. Dass sie „Blackfishing“ betrieben, also eine andere Hautfarbe um des eigenen Vorteils willen benutzt habe, ist noch der geringste Vorwurf. Besonders in der Aktivistenszene ist von Verrat und Gaunerei die Rede; von der Universität wurde sie zunächst freigestellt.

Eine Nachbarin Jessica Krugs berichtete, von dieser als „weißer Müll“ bezeichnet worden zu sein. Natürlich ist der ganze Vorfall auch gefundenes Fressen für alle, die das Anliegen von Anti-Rassismus-Aktivisten aus Prinzip delegitimieren wollen. Der Schaden ist immens.

Boden der Lügen

Krug selbst hat in einem Blog-Eintrag ihren Betrug eingestanden, und zwar mit einem Pathos, das sie einst beim Kampf für ihre vermeintlichen Leidensgenossen an den Tag gelegt hatte: Von einer Existenz auf napalmvergiftetem Boden der Lügen („rooted in the napalm toxic soil of lies“) schreibt sie über sich selbst; dass sie aus Feigheit an ihrer falschen Identität festgehalten habe und man sie unbedingt auslöschen beziehungsweise ignorieren oder vergessen solle: „Ich bin ein kultureller Blutegel.“ Auch von psychischen Problemen und Kindheitstraumata ist die Rede. Man will das eigentlich alles gar nicht lesen, so peinlich berührt es einen.

Identitätsanmaßung

Der Fall ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil es immer mal wieder prominente Fälle von Identitätsanmaßung gegeben hat (im vergangenen Jahr etwa musste eine deutsche Bloggerin eingestehen, dass sie ihre jüdische Familiengeschichte samt angeblicher Holocaust-Opfer frei erfunden hatte). Es geht auch um den in der Identitätspolitik angesagten Kampfbegriff der „kulturellen Aneignung“ – um den Vorwurf also, insbesondere Hellhäutige würden Merkmale oder Angewohnheiten anderer „Rassen“ zum eigenen Vorteil oder einfach nur aus Spaß übernehmen: vom Indianerkopfschmuck im Karneval bis hin zu Bluesmusik (bei letzterem Tatbestand müssten auch Eric Clapton oder die Rolling Stones als übergriffige Kulturrassisten gelten).

Dünnes Eis

An diese Stelle wird das Eis also erkennbar dünn. Dass Jessica Krug mit ihrer Lebenslüge eindeutig ethnokulturellen Raubbau betrieben hat, liegt auf der Hand, zumal sie aufgrund ihrer behaupteten Schwarzheit sogar Stiftungsfördermittel eintreiben konnte.

Sie hat also im Namen der „guten Sache“ gegen den Kodex ihrer eigenen Community verstoßen, wonach – ja, was eigentlich? Wonach Weiße nicht im Gospel-Chor singen dürfen und Schwarze nicht in einer Wagner-Oper? An welcher Stelle eigentlich beginnt „kulturelle Aneignung“ toxisch zu sein und überschreitet die Grenze zur ansonsten doch stets eingeforderten Multikulturalität?

Schwarze Riverdancerin

Auf Youtube findet sich ein interessanter Beitrag über Morgan Bullock aus Richmond, Virginia. Für weltweite Aufmerksamkeit hat die 21-Jährige nicht etwa wegen ihrer herausragenden Fähigkeiten im Riverdance gesorgt, sondern weil sie dunkle Haut hat und lange Rasta-Zöpfe trägt: Als ob das normalerweise ein ultimatives Ausschlusskriterium wäre, um irischen Stepptanz zu betreiben.

Der BBC-Reporter gibt sich denn auch alle Mühe, Morgan Bullock möglichst feinfühlig danach zu fragen, wie sie denn zu solch einem für Schwarze offenbar exotischen Hobby gekommen sei – und reitet so fast über den gesamten Film hinweg auf ihrer Ethnie herum. Sicherlich ist das alles nett gemeint, wirkt aber sogar auf weniger sensible Gemüter wie mich unangenehm paternalistisch.

Aneigung oder Bewunderung?

Natürlich kommt der Interviewer nicht an der Frage vorbei, ob die dunkelhäutige Riverdancerin denn schon mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert worden sei. Morgan Bullock bleibt völlig cool und antwortet, dies sei tatsächlich schon mal vorgekommen – weil sie eben nicht so aussehe, wie man sich eine irische Stepptänzerin üblicherweise vorstellt.

Um im nächsten Atemzug ihre eigene Definition von „cultural appropriation“ zu geben: Es mache eben schon einen Unterschied, so die 21-Jährige, ob man einfach nur etwas aus einer anderen Kultur übernehme und so tue, als ob man es selbst hervorgebracht hätte. Oder ob man eine fremde Kunstform betreibt, weil man ihr damit Anerkennung zollen will. 

„There is a difference inbetween appropriation and appreciation“, sagt Morgan Bullock in die Kamera. Besser kann man es wohl kaum auf den Punkt bringen.
 

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