Kultur im Lockdown - „Der Verlust ist entsetzlich“

In der „Cicero“-Reihe über die Kulturwelt im Lockdown erzählt heute Janika Gelinek, Co-Leiterin des Literaturhauses Berlin, wie sie dieses Jahr im Lockdown erlebt hat, was sie jetzt befürchtet – und wie sie nun auch der Bundesnotbremse Kunst abtrotzt.

Das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße / Phil Dera
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Frau Gelinek, wie haben Sie dieses letzte Jahr erlebt und empfunden – das Auf und Ab der Planungen und der Hoffnung, die Verlagerung Ihres Programms ins Streaming?

Es fing an mit einem Schock – wie sicher bei allen in Kunst und Kultur. Wenn man Veranstaltungen, auf die man sich freute, von einem Tag auf den anderen absagen soll – und man vor der Frage steht, ob man jetzt auch alles Kommende absagt. Wir sind damals schnell zu dem Entschluss gekommen, dass wir nichts absagen. Dass wir das durchziehen. Wie – das wussten wir damals auch noch nicht sofort und genau. Das erste große Event, das damals anstand, war der 250. Geburtstag Hölderlins am 20. März, wir hatten Schauspieler, die aus dem „Hyperion“ lesen sollten, hatten mit dem Literaturkritiker Denis Scheck und der Moderatorin Anne-Dore Krohn ein Geburtstagsgespräch vereinbart, hatten Puppenspieler eingeladen, wollten hier so richtig Geburtstag feiern – und haben das dann binnen einer Woche komplett ins Netz verlegt. Deshalb hatten wir schnell so einen Kick: Das kann gehen. Hatten nicht dieses Gefühl: Jetzt ist Wüste, Ende, aus. Sondern haben dann im digitalen Raum das Jahr durchgespielt. Ich bin stolz auf unser Team. Unsere Arbeitsplatzbeschreibungen müssten eigentlich alle umgeschrieben werden. Wir machen alle jetzt ganz andere Dinge als vorher. Allen voran unsere beiden Techniker, die jetzt Abend für Abend im Grunde Aufnahmeleiter sind.

Konnten Sie in diesen digitalen Formaten das Publikum mit einbeziehen, so wie hier im Haus es ja immer auch Diskussionsabende sind, nach den Lesungen und Podien?

Wir haben Zuspruch und Reaktionen gehabt, aber eher über Mails nach den Veranstaltungen, oder über Spenden – live chats funktionieren bis auf einige Ausnahmen bislang nicht so gut. Unser Publikum ist uns jetzt zwar zum Glück ins Netz gefolgt, nutzt aber die digitalen Möglichkeiten zu partizipieren kaum. Für mich ist diese Frage ein permanenter Stachel: Wo ist unser Publikum, wo sind die, die früher öfter gekommen sind – für die wir jetzt eine Mini-Reihe unter dem Namen „Luftbrücke“ gemacht haben, eine Notversorgung im Garten über unseren Zaun hinweg. Etwa ein Konzert, Elisabeth Trissenaar hat letzte Woche Gedichte gelesen, und jetzt kommt im Rahmen von „Garten digital“ noch der literarische Europafeiertag am 5. Mai, an dem wir den Garten mit dem digitalen Programm verbinden: erst Ping-Pong, dann eine Diskussion über Europa zwischen Aleida Assmann, Carolin Emcke und Jaroslav Rudiš. 

Gedichte im Garten gingen letzte Woche noch, kurz vor Inkrafttreten der Bundesnotbremse?

Da waren dann zehn Leute im Garten und am Zaun und schauten. Ein zarter Versuch, weil ich wirklich glaube, dass uns das gerade abhandenkommt, die reale, physische Begegnung mit Literatur und Kunst. Die Leute sind ja schon völlig verunsichert: Geht das? Die Frage steht doch in allen Gesichtern. Oh Gott, machen die wirklich jetzt Kultur in echt? Ein paar Leute standen am Ende mit Geldscheinen am Zaun, wollten uns aus lauter Dankbarkeit einfach etwas zurückgeben. 

Und jetzt hatten Sie für das Frühjahr fertige Pläne, ein Programm für draußen, und wollten gerade beginnen?

Wir waren jetzt an dem Punkt: Wir haben tolle Veranstaltungen gemacht im Netz, aber wir sind kein Fernsehen, und wollen das auch nicht sein. Es braucht die Veranstaltungsatmosphäre. Und jetzt dachten wir, wir gehen raus in den Garten des Literaturhauses, mit dem längst fertigen und im letzten Jahr schon erfolgreich angewandten Hygienekonzept, in ein Frühjahrsprogramm unter dem Motto „Fasten your Gartenstuhl“, im April noch im Netz, aber im Mai jetzt wirklich mit Publikum. Wir hatten alles bereit, die Bühne im Garten, Decken, Regenschirme, Headsets, damit die Leute auf Abstand sitzen können und trotzdem niemand hätte schreien müssen. Und als das jetzt so pauschal verboten wurde, da war für uns Ende der Fahnenstange. Uns war klar, wir können jetzt nicht einfach nur wieder zurück ins Haus und ins Netz, das wäre eine Niederlage.

Hatten Sie im Vorfeld der Bundestags-Entscheidung versucht, mit Einfluss zu nehmen? Damit Draußen-Konzepte für die Kultur doch möglich blieben? Der Deutsche Kulturrat etwa hatte ja entsprechende Änderungsanträge an den Gesundheitsausschuss gesandt.

Ich habe spät begriffen, was dieses Gesetz jetzt für uns ganz konkret bedeutet. Dass nicht einmal „Draußen“ möglich sein soll. Dann habe ich sofort den Text für die Welt geschrieben, der noch in die Debatte der Tage davor hineinkam und der auch eine Welle gemacht hat. Viele haben sehr dankbar darauf reagiert, aus den Verlagen, die Autoren – man sah aus diesen Reaktionen, wie groß die Not ist, die nicht gesehen und nicht gehört wird.

Wie geht es den Autoren, mit denen Sie zu tun haben?

Janika Gelinek / Phil Dera

Am Anfang haben Autoren gesagt: Ich sitze ja eh allein zu Hause am Schreibtisch, jetzt sitzen halt alle anderen auch allein zu Hause am Schreibtisch. Aber inzwischen, und das gilt ja für die ganze Gesellschaft, ist es doch so: Wenn man ständig Kinder zu Hause hat, wenn man total erschöpft ist, wenn man Leute nicht besuchen kann, wenn man nichts Schönes mehr machen kann, keine Anregungen von außen mehr bekommt, all dieser Austausch fehlt – dann ist es kein Trost mehr, dass alle am Schreibtisch sitzen. Ich habe gestern mit einer befreundeten Autorin gesprochen, die meinte, ihr fehle einfach die Leichtigkeit, die man zum Schreiben eben auch braucht. Sie muss ihr Manuskript abgeben und fühlt sich so gerädert – was soll denn dabei Gutes herauskommen, fürchtet sie. Und ein Lyriker erzählte mir, dass erneut sein Aufenthaltsstipendium abgesagt wurde, das schon aus dem letzten Jahr verschoben wurde – es sind also mentale und ökonomische Probleme, die auch für die Autoren ständig wachsen.

Also die Literatur wird vielleicht auch einen Qualitätsverlust durch Lebensverlust der Produzenten erleiden, sozusagen?

Bei Kunst und Kultur kann man die Dinge eben schlecht beziffern, das ist unser großes Problem in der momentanen Debatte, aber der Verlust ist entsetzlich. Den werden wir vielleicht erst irgendwann spüren – oder werden vielleicht einfach geistig und emotional verkümmern, ohne es zu merken.

Der Dirigent Christian Thielemann sorgte sich in Cicero gerade um die Stimmen seiner Sänger. Er meinte, das könne man in der ganzen Fülle einer Opernbühne nicht zu Hause simulieren, was die Stimmen da eigentlich an Training bräuchten. Überall lauern vielleicht solche Qualitätsverluste, die wir erst noch realisieren werden.

Ich finde das eine hervorragende Metapher: Dass die Stimmen nicht mehr geübt sind, dass sie verkümmern. Genau wie die Qualität von Auseinandersetzung, die Kunst und Kultur sonst ermöglichen! Mit Publikum! Was wir hier im Literaturhaus an Energie herstellen an einem guten Abend, das hat jetzt  365 Tage gefehlt, wo sollen wir denn das wieder herkriegen? Diese Ebene der gesellschaftlichen und ästhetischen Auseinandersetzung im öffentlichen Raum fehlt im Augenblick komplett. Das lässt sich auch nicht nachproduzieren.

Nach diesem Schock der Bundesnotbremse, wie stellen Sie sich jetzt neu auf, was passiert jetzt mit dem Mai-Programm?

Wir drehen gerade einen kleinen Trailer im Garten mit dem Titel: „Wir bleiben draußen!“ Wir haben die Bühne aufgebaut, wir garantieren maximale Sicherheit für unsere Autoren, die da sein werden, und der Plan ist jetzt, dass wir aus dem Garten streamen, wir planen immer für 10 Tage, wer weiß, wie sich der Inzidenzwert entwickelt. Programmplanung an den Inzidenzwert knüpfen, das ist der Wahnsinn – aber so ist es ja gerade.

Haben Sie kurz gehofft, es gebe vielleicht doch noch andere Wege?

Wir haben uns beraten lassen, ob es Möglichkeiten gibt, das Draußen-Programm doch wie geplant zu machen. Man könnte zum Beispiel aus den Veranstaltungen Verkaufsveranstaltungen machen – verkaufen geht ja immer, ein großer Buchverkauf im Mittelpunkt, nebenbei wird halt gelesen. Wochenmärkte finden ja statt, wir müssten also so eine Art Marktveranstaltung machen. Das wäre zumindest eine juristische Möglichkeit, doch das schien uns das falsche Signal zu sein. Aber es ist schon schwer zu verstehen, warum einige gesellschaftliche Bereiche unantastbar zu sein scheinen und andere nicht.

Eine völlig befriedigende Logik könne sie leider nicht anbieten, hat die Kanzlerin im Gespräch mit Künstlern gerade gesagt.

Das wäre doch mal eine interessante harte Diskussion, wenn sie es so sagen würde: Kultur hat keine Bedeutung, die ist so unwichtig, die muss noch nicht mal mehr erwähnt werden. Was bedeutet uns Kultur? Kleine Kulturinstitutionen werden verschwinden, kleine Kinos, ganz leise, in der totalen Erschöpfung, in der Pleite, und ohne dass je diese Debatte geführt worden wäre. Ich persönlich finde das unerträglich. Man könnte ja auch im Gedankenspiel einmal sagen: Alles andere zu, und Kultur- und Bildungsinstitutionen auf! Wenn die Gesellschaft sagen würde: Kultur darf auf keinen Fall unterbunden werden, weil uns damit der Raum verloren geht, in dem wir uns über uns selbst verständigen und über das, was uns gerade zustößt. Wenn man sich also andersherum einmal vorstellt, dass man nie mehr im Dunkel des Zuschauerraumes sitzen könnte, um sich in eine fremde Welt entführen zu lassen, zur notwendigen Erholung oder als dringend benötigte Denkanregung. Wenn es das gemeinsame Erlebnis nicht mehr geben würde, auch nicht die Diskussionen nach einem Theaterstück, einem Film, einer Lesung. Wo wird denn jenseits der Medien das verhandelt, was uns gerade widerfährt? Dieser ganze reflexive Raum ist ja gerade weg. Da scheint mir sich ein Michael Ende’sches „Nichts“ auszubreiten, das ganz viel fressen wird. Herrje, das ist zu dunkel, jetzt müsste ich eigentlich noch etwas Positives sagen! Also: Ich hoffe sehr, dass wir uns alle bald nicht nur auf dem Bildschirm sehen, sondern auch im Garten und, ja, auch bald wieder im Saal!

Sie haben sehr viel Positives und Leidenschaftliches gesagt. Wir danken Ihnen für das Gespräch.
 

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