Kriegsschuld - Der Mythos vom deutschen Sonderweg

Zäh hält sich der Mythos vom geschichtlichen Sonderweg Deutschlands. Es heißt, das Kaiserreich trage die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg. Moralische Urteile aber garantieren keine Erkenntnis. Argument und Abwägung müssen zurückkehren

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Autoreninfo

Ulrich Sieg lehrt Neueste Geschichte an der Philipps-Universität in Marburg. Zuletzt erschien von ihm „Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus“

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Wenn man im nächsten Jahr überall an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnert, wird viel von den verhängnisvollen Konsequenzen eines angeblichen „deutschen Weltmachtstrebens“ die Rede sein. Dabei haben sich die meisten Historiker von simplen moralischen Standpunkten in der Kriegsschuldfrage verabschiedet. Christopher Clark in Cambridge geht sogar so weit, die Politiker aller großen europäischen Nationen als Schlafwandler zu charakterisieren, die zwar die kommende Katastrophe geahnt hätten, aber unfähig waren, sich ihr entgegenzustemmen. Sein meisterhaftes Werk könnte die mediale Vergegenwärtigung des Weltkriegs hierzulande nachhaltig beeinflussen. Bislang vertraute man bei der Erklärung des „Großen Krieges“ auf ein tiefschwarzes Bild der deutschen Geschichte, für das sich immer weniger gute Gründe finden lassen.

Schlüsselrolle deutscher Sonderweg

Eine Schlüsselrolle im Geschichtsdenken der alten Bundesrepublik spielte die Theorie vom „deutschen Sonderweg“. Sie hob Deutschlands Demokratiedefizite im Vergleich mit Großbritannien oder Frankreich hervor und verwies zu ihrer Erklärung auf das Obrigkeitsdenken seit Luther, auf den preußischen Militarismus und die gescheiterte Revolution von 1848. Das Deutsche Kaiserreich wurde als autoritärer Nationalstaat missverstanden, in dem es zu keiner nennenswerten politischen Beteiligung der Bürger gekommen sei. Mittlerweile hat sich dies als zu einseitig herausgestellt.

Es gab im Kaiserreich sehr wohl eine politische Kultur mit hoher Wahlbeteiligung und lebendigen Debatten, die im Ausland positiv wahrgenommen wurde. Im „Westen“ war nicht alles Gold, was glänzte. Man denke nur an die unnachgiebige Härte, mit der die britische Oberschicht ihre Privilegien verteidigte. Oder an den massiven französischen Antisemitismus zur Zeit der Dreyfus-Affäre.

Allerdings besaß die fatale Lehre vom „deutschen Sonderweg“ den Vorteil hoher Eingängigkeit und einen beträchtlichen moralischen Mehrwert. Nach der Niederlage in einem „totalen Krieg“, nach Reeducation und Wirtschaftswunder brauchte es eine neue identitätsstiftende Erzählung. Indem 1945 zur strikten Zäsur deutscher Geschichte, ja zur „Stunde null“ erklärt wurde, erhielt die Bundesrepublik die Chance, sich als demokratisches Gemeinwesen neu zu legitimieren. Schon bald bestimmte die Abgrenzung von der Tradition des Obrigkeitsstaats das Selbstverständnis. Der vermeintliche Ausnahmecharakter der deutschen Geschichte wurde Bestandteil der Schullehrpläne. Er prägt die politische Rhetorik bis zum heutigen Tag.

Geschichtsbilder und ihr Eigenleben

Doch reicht dies vermutlich nicht, um die mediale Dominanz eines Geschichtsbilds zu erklären, das nur wenig zum Verständnis einer sich rasch globalisierenden Welt beiträgt. Hinzu kommt nämlich ein Weiteres: Im Zusammenhang mit der Theorie vom „deutschen Sonderweg“ sind schnittige intellektuelle Formeln entstanden, die längst ein Eigenleben führen. Gerade bei politischen Diskussionen bieten sie strategische Vorteile, auf die man ungern verzichtet.

Wer will etwa offensiv auf die von Fritz Fischer („Griff nach der Weltmacht“) vorangespielte Aussage reagieren, dass Hitler „kein Betriebs­unfall“ gewesen sei? Mögen die zufälligen Momente in Hitlers Werdegang noch so zahlreich sein, empfiehlt sich ihre öffentliche Betonung kaum. Der Hinweis auf das Ausmaß seiner Verbrechen brächte jeden schnell zum Schweigen. Ähnlich steht es um die Wendung von den „Vordenkern der Vernichtung“, mit der Götz Aly und Susanne Heim Anfang der neunziger Jahre Furore machten und die so manche Suche nach den Wurzeln von „Auschwitz“ in der deutschen Wissenschaftsgeschichte inspirierte.

Die Hypotheken dieser Denkfigur sind indes erheblich. Sie verleiht dem Faktor „Ideologie“ einen Stellenwert, der nur schwer mit dem Machbarkeitswahn und mit dem Zynismus der Nationalsozialisten in Einklang zu bringen ist. Gleichzeitig stellt sie den wahrlich verschlungenen Weg vom Wort zur Tat, um dessen Verständnis die Antisemitismusforschung bis heute ringt, allzu holzschnittartig dar. Ganz zu schweigen davon, dass es durchaus umstritten ist, worin der Kern der NS-Welt­anschauung eigentlich bestand.
 

Die mit dem „deutschen Sonderweg“ verknüpften methodischen Probleme werden bei Heinrich August Winkler besonders deutlich. Packend schilderte er die deutsche Geschichte als langen Weg nach Westen, der 1989 sein Ziel erreicht habe. Seine Sicht gab der Wiedervereinigung eine historische Legitimation und half, Sorgen in den Nachbarländern zu zerstreuen.

Die Schwarz-Weiß-Malerei Heinrich August Winklers

Kein Wunder, dass Winkler zum renommiertesten Historiker der Berliner Republik wurde, dem manch einer sogar das Amt des Bundespräsidenten zutraute. Die Ergebnisse vergleichender Geschichtswissenschaft behandelte er aber ausgesprochen lässig. Die Einzigartigkeit der deutschen Geschichte begründete er damit, dass die Sonderwege einiger Nationen „noch besonderer sind als die anderen“ – eine abgründige Formulierung, denkt man an Orwells Parabel „Animal Farm“.

Doch auch wenn gute Argumente für Winklers Schwarz-Weiß-Malerei fehlen, dürfte es ein frommer Wunsch sein, dass sich der Mythos vom „deutschen Sonderweg“ einfach in Luft auflöst. Neben umsichtig formulierter Skepsis braucht es heute energischen Einsatz, um die Schwächen dieses Geschichtsbilds einer breiten Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Auch das moralische Kapital der Sonderwegsgeschichte ist nicht zum Nulltarif zu haben. Im Kern zementiert diese Erzählung leider nationalistische Vorstellungen, die noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammen.

Die Belege sind zahlreich: Als im August 1914 das zivilisierte Europa fast über Nacht zu einer „Welt von gestern“ (Stefan Zweig) wurde, mussten dies alle kriegführenden Nationen ihren Bürgern erklären. Seitens der Entente bevorzugte man schroffe Feindbilder und unterstrich die Brutalität der deutschen Militärmaschinerie. Besonders einflussreich war der französische Philosoph Henri Bergson, der die Deutschen zu „Barbaren“ erklärte.

In Großbritannien verwies man auf die unheilvolle Tradition des preußischen Militarismus und präsentierte als dessen Vertreter neben Fichte den Historiker Heinrich von Treitschke sowie den Kavalleriegeneral Friedrich von Bernhardi. Die deutschen Antworten waren von eigentümlicher intellektueller Passivität. Exemplarisch sei auf den bedeutenden jüdischen Gelehrten Hermann Cohen hingewiesen, der vor 1914 unmissverständlich politische Reformen angemahnt hatte. Nun verwies er lediglich darauf, dass die deutsche Kultur seit Kants Tagen ohne den Schutz des Militärs niemals aufgeblüht wäre.

Linksliberale Eigentümlichkeit

Allenthalben setzten Akademiker den „Ideen von 1789“ ihre „Ideen von 1914“ entgegen und meinten damit kaum mehr als die Organisationskraft des eigenen Gemeinwesens in den ersten Augusttagen. Gleichzeitig verwiesen sie stolz auf die Leistungsstärke der deutschen Wirtschaft, den Sozialstaat oder die Güte des Bildungswesens, die den Neid der anderen Nationen entzündet hätten. Noch heute klingt ihre Rhetorik eigentümlich vertraut.

Das Ausmaß von gutem Gewissen im damaligen Bürgertum ist erstaunlich. Ohne sich mit Details zu plagen, stellte es die Friedensliebe des Kaisers und die Ritterlichkeit der deutschen Kriegführung heraus. Zweifelhafte Berühmtheit erlangte im Oktober 1914 der „Aufruf an die Kulturwelt!“, mit dem 93 Personen des öffentlichen Lebens die alliierten Vorwürfe zurückwiesen. Lange Jahre galt das Manifest als Höhepunkt reaktionärer Gesinnung, obwohl es vor allem Ausdruck eines weltfremden Idealismus war. Über die Wirksamkeit von Kriegspropaganda hatten sich seine mehrheitlich linksliberalen Unterzeichner keine Gedanken gemacht. Die stolze Anfangszeile „Es ist nicht wahr“ sollte Vorurteilsfreiheit und Unabhängigkeit bekunden. Tatsächlich wurde sie in den Entente-Staaten als Ausdruck deutscher Borniertheit aufgefasst.

Zu den leidenschaftlichen Patrioten unter den Unterzeichnern des Aufrufs zählte Rudolf Eucken, der 1908 als erster und bislang einziger deutscher Philosoph den Literaturnobelpreis erhalten hatte. In einer Unmenge von Schriften schloss der Jenaer Professor aus dem Wert der eigenen Kultur auf einen glücklichen Kriegsausgang. Bis heute gilt der Herausgeber von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ als fanatischer Kriegshetzer. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch eher die Zivilität seines Tones ins Auge.

Mit leichter Hand stiftete Eucken geistesgeschichtliche Kontinuitäten, die von der Reformation bis zur Gegenwart reichten und verunsicherten Menschen Halt geben sollten. Seine Deutschtumsmetaphysik erreichte erstaunliche Ausmaße, doch direkt verletzend war sie nur selten. Eucken vertrat die kantische Überzeugung, dass jeder Krieg nur mit Blick auf eine zukünftige Friedensordnung gerechtfertigt werden könne. Zu einer nüchternen Lagebeschreibung trug seine salbungsvolle Verherrlichung deutscher Kultur freilich nichts bei.
 

Im Herbst 1916 war die Zeit milder Kriegsverklärung à la Eucken abgelaufen. Nach den Materialschlachten an der Westfront brauchte es schärfere ideologische Mixturen, um die umfassende Mobilisierung der dritten Obersten Heeresleitung voranzutreiben. So intensiv Hindenburg und Ludendorff die Einheit der Nation beschworen, primär ging es um einen möglichst effektiven Einsatz der vorhandenen Ressourcen.

Nun wurde heftig gestritten, wer überhaupt zur „Volksgemeinschaft“ gehöre. Angesehene Professoren sprachen jüdischen Gelehrten jedes tiefere Verständnis Kants oder Fichtes ab. In Weimar stilisierte Elisabeth Förster-Nietzsche ihren verstorbenen Bruder zum Inbegriff des deutschen Willens zur Macht. Zentrale Bedeutung für den Sonderweg der eigenen Geschichte erkannte man der bedrohten Lage im Zentrum Europas und den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges zu.

Die symbolische Bedeutung des „Großen Krieges“

Die Niederlage von 1918 kam für die Bevölkerung, die bis in die letzten Kriegsmonate der Propaganda vertraut hatte, überraschend. Noch entsetzter war man über die Friedensbedingungen. Unisono lehnten die Vertreter aller Parteien die Unterzeichnung des Versailler Vertrags ab und hofften auf ein Einlenken der Alliierten. Doch statt ernsthafte Argumente gegen die Alleinschuld Deutschlands zu suchen, tappte man erneut in die Falle, die Vorwürfe der Entente-Staaten lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen zu versehen. Die Folgen für die Weimarer Republik waren beträchtlich.

Mit einem trotzigen „Dennoch!“ sperrten sich viele gegen das neue Gemeinwesen und hielten an ihrer überhöhten Sicht der deutschen Vergangenheit fest. Die Nationalsozialisten erkannten früh die symbolische Bedeutung des „Großen Krieges“. Eines ihrer wirksamsten Plakate zeigte Frontsoldaten und warb mit dem Slogan: „Wählt NSDAP! Oder alles war umsonst.“

Auch nach 1933 blieb der Erste Weltkrieg ein zentrales Thema. Unablässig propagierten die Nationalsozialisten den Kampf gegen Versailles und scheinen damit bei der Bevölkerung auf beträchtliche Resonanz gestoßen zu sein. Erinnert sei an das 1941 begonnene Propaganda­unternehmen namens „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“, mit dem die Disziplinen ihre Kriegstüchtigkeit unter Beweis stellen sollten. Insgesamt entstanden 67 Bücher voller nationalistischer Stereotypen. Die circa 500 beteiligten Gelehrten hatten ihre Lehren aus dem Propagandadebakel nach 1914 gezogen und kombinierten ihre Verherrlichung deutscher Eigenart mit drastischen Feindbildern.

Wie wenig ihnen tatsächlich eingefallen war, illustriert die amerikanische Reaktion. Dort legte man lediglich John Deweys Buch „German Philosophy and Politics“ erneut auf, das bereits im Ersten Weltkrieg gute Dienste geleistet hatte. Seine Aburteilung Kants und Fichtes zielte auf die Selbstüberschätzung und inhumane Gesinnung zeitgenössischer deutscher Wissenschaftler. Sie festigte allerdings auch stereotype Vorstellungen, die mit einem schattierungsreichen Verständnis von Ideengeschichte nicht in Einklang zu bringen sind.

Vor diesem Hintergrund stellt sich erst recht die Frage, wie lange wir noch die Vorstellung von einem „deutschen Sonderweg“ pflegen wollen, die so eng mit den Konflikten des vergangenen Jahrhunderts verknüpft ist. In der Geschichtswissenschaft geht es nicht primär um moralische Werturteile, sondern um Erkenntnis. Zur Zukunfts­orientierung kann sie nur dann beitragen, wenn komplexe Forschungsergebnisse nicht von einem allzu bequemen Narrativ eingeebnet werden.

Die Entstehung des Ersten Weltkriegs zeigt auftrumpfende, aber auch ängstliche und misstrauische Politiker, die der Krise des europäischen Staatensystems nicht gewachsen waren. Unzureichend informiert, forcierten sie gerade jene Probleme, die sie zu kalmieren hofften. Erst wenn der angebliche Unikatcharakter der deutschen Geschichte in den Hintergrund gerückt ist, kann die Überforderung der Akteure deutlich werden. Das Weltkriegsjubiläum bietet die Chance zu grundlegenden historischen Debatten. Wir sollten sie nutzen.

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