Jürgen Habermas - Liberal, nicht ideal

Der von Jürgen Habermas vertretene Verfassungspatriotismus hat mehr Stärken, als seine Verächter meinen. Und mehr Schwächen, als seine Adepten ahnen. Eine Würdigung zum 90. Geburtstag des Philosophen und Soziologen

Erschienen in Ausgabe
Der habermassche Patriot ist ein Befürworter des küngschen „Weltethos“, projiziert auf die Bausteine der Verfassung des eigenen Landes / picture alliance
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Autoreninfo

Peter Strasser ist Philosoph und schrieb u. a. „Gehirn ohne Geist – Die Vertreibung des Menschen aus der Wissenschaft“.

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Es war Jürgen Habermas, der den Begriff des Verfassungspatrioten – er stammt von dem Politologen Dolf Sternberger – populär machte. An diesem Begriff nimmt die Neue Rechte besonders Anstoß. Wenn Patriotismus dadurch gekennzeichnet sein soll, dass man sich zu einem Volk, einer Nation, einer Heimat im emphatischen Sinne des Wortes bekennt, dann hat man vor Augen, was Oswald Spengler eine „Kulturseele“ nannte und mehr der Romantik verpflichtete Geister als „Volksseele“ bezeichnen – mögen auch die, die so reden, sich durch kein religiöses Bekenntnis gebunden fühlen. Es gibt eben den Glauben an das „Eigene“, die eigene Geschichte und die eigene kollektive Wesensart als etwas Letztes, Absolutes, um nicht zu sagen: Heiliges.

Der Verfassungspatriot des Jürgen Habermas hingegen ist eine zugleich abgespeckte und anspruchsvolle Version des Patrioten. Wenn bei Habermas von legitimer Verfassung die Rede ist, dann als Ergebnis einer Willenszusammenstimmung des idealen Souveräns, der kein anderer sein kann als das Volk, welches den von Kant geforderten „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ vollzogen hat. Es handelt sich um das Volk als aufgeklärtes Kollektivsubjekt.

Alle Menschen haben demnach die gleiche Würde und sind, ungeachtet ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft, ihrer Religion oder ihres Geschlechts, hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten gleich; für alle Menschen gilt die größtmögliche Freiheit, die mit der gleichen Freiheit aller anderen vereinbar ist. Fügt man diesen Grundsätzen das allgemeine und gleiche Wahlrecht sowie die Trennung der Staatsgewalten – Legislative, Judikative, Exekutive – hinzu, dann formieren sich bereits wesentliche Umrisse dessen, was man „liberale Demokratie“ nennt.

Verfassungspatrioten ungleich konservative Patrioten

Es ist daher kein Zufall, dass der Begriff des Verfassungspatrioten bei jenen, die sich als liberale Demokraten fühlen, Furore machte. In der Nachkriegswelt des Westens schien diese Staatsform vielen Gebildeten, Bürgern, Intellektuellen und Politikern auch als die beste aller möglichen Machtformen, unabhängig von persönlichen Glaubensbekenntnissen. Zu gut konnte man sich noch an die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen vaterländischen, religiösen und linksradikalen Ideologien erinnern, welche die Menschen gegeneinander aufbrachten und bei Schlachtfeldern mit Millionen Toten endeten, von den zivilen Bestialitäten abgesehen. Was mochte da naheliegender sein, als sich nun auf eine Ethik zu besinnen, die ein Rahmenwerk des friedlichen Miteinanders bei weltanschaulichen und metaphysischen Differenzen zu gewährleisten schien?

Die Jahrzehnte vergingen, neue Generationen wuchsen heran, und obwohl der habermassche Verfassungspatriotismus eine ideale Grundlage für die laufende Globalisierung bereitstellte, die zur mächtigsten Realität des 21. Jahrhunderts in wirtschaftlichen und kommunikativen, das heißt zuallererst: elektronischen Belangen wurde, stand bei vielen jungen Feuerköpfen gerade diese Form des Patriotismus in schlechtem Ruf. Wollte man dem Volk etwa das „Patriotische“ verweigern und austreiben? Und in einem bestimmten Sinne ist es ja richtig, dass der Verfassungspatriot mit dem, was die konservative Tradition aller Spielarten „patriotisch“ nannte, nicht einverstanden sein konnte.

Warum? Weil die Verfassungsprinzipien streng allgemeine Regeln sind, die nicht bloß kulturelle Konventionen repräsentieren – zum Beispiel Esssitten, Kleidergewohnheiten et cetera –, sondern einen ethischen Status haben, der überdies sanktionsbewehrt, also für die Gemeinschaft besonders relevant und schwerwiegend ist.

„Universalitätsanspruch moralischer Regeln“

Es bildet ein Definitionsmerkmal ethischer Regeln, dass sie Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Sie gelten allgemein und ausnahmslos für alle – denken wir an den klassischen Katalog der Menschenrechte. Man spricht in der Ethik darum vom „Universalitätsanspruch moralischer Regeln“. Wer also entsprechend dem Konzept der liberalen Demokratie Verfassungspatriot ist, bekennt sich im Kern zu Prinzipien, die keinen spezifischen Nationalcharakter widerspiegeln. Solche Prinzipien erheben im Gegenteil den Anspruch, einer Staatsform anzugehören, die als die bestmögliche zu gelten hat, das heißt, dass sie auch in jeder Verfassung, die sich eine Nation gibt, Geltung haben sollten.

An dieser Stelle nun tut sich ein ganzes Problemnest auf. Das ist Jürgen Habermas wohl bewusst, aber hat er auch die Möglichkeit, es zu bereinigen? Erstens hat er die Kulturrelativsten von links und von rechts gegen sich. Indem sie mit der Vielfalt der Traditionen und Kulturen argumentieren, geben sie der Überzeugung Ausdruck, dass der Anspruch einer Ethik auf Universalität, und sei es jene unserer liberalen Demokratie, einen geistigen Imperialismus darstelle.

Dagegen ließe sich immerhin einwenden, dass die Grundbedürfnisse der Menschen im Durchschnitt gleich sind, weshalb bestimmte Regeln dazu beitragen, das Wohlbefinden des Einzelnen zu befördern, während andere das Gegenteil bewirken. Oder möchte jemand unter uns die brutale Unterdrückung der Frauen oder die martialischen Körperstrafen für bürgerliche Unbotmäßigkeiten, die in vielen muslimischen Ländern noch immer gang und gäbe sind, damit rechtfertigen, dass es sich dabei eben um die geheiligte Tradition des Korans und der Scharia handelt? Doch die heutigen Auseinandersetzungen um das Patriotische werden häufig so geführt, dass derjenige bereits als indiskutabel gilt, der im ergebnisoffenen Gespräch herausfinden möchte, was gut und was falsch ist. Im Lager der eingefleischten Patrioten – ob es sich um Deutschlands Neue Rechte oder sonst eine Fraktion der „Identitären“ handelt – findet ein Kampf zwischen denen, die an die Heiligkeit der Nation, des Blutes, des Volkes appellieren, und jenen anderen statt, die als Kulturzerstörer gelten: denen nämlich, die im Sinne der liberalen Tradition seit John Stuart Mill auf einen Diskussionsprozess setzen, der bei Habermas auf den Diskurshorizont einer „idealen Sprechsituation“ gerichtet ist.

Der Abendländer möchte die Welt und den Himmel erobern

Diese ideale Situation wird so gedacht, dass sie real nicht einlösbar ist, denn in ihr gelten keinerlei Zwänge, keine Wissens- und Zeitbeschränkungen, keine Autoritätsverhältnisse, keine psychischen Disharmonien. Und natürlich sind alle kompetenten Menschen virtuell Mitdiskutanten. Für Habermas steht, wie er gerne sagt, „kontrafaktisch“ fest: Würde in einer solchen idealen Sprechsituation über ein ethisches Prinzip Einigkeit herstellbar sein, beispielsweise über die Gleichheit aller Menschen, dann müsste es sich dabei um ein wahres Prinzip handeln.

Wir endlichen Wesen können uns indessen nur bemühen, eine Annäherung an dieses Ideal herzustellen, was bedeutet, dass wir jederzeit der Möglichkeit des Irrtums unterworfen bleiben. Nichtsdestoweniger ist es das Ziel des Verfassungspatrioten, einzig solche Regeln als ethische Normen anzuerkennen, die, bei Kenntnis aller Gründe, welche für sie sprechen, von allen anderen verständigen Menschen ebenfalls als gültig einsehbar sein müssten – egal, aus welchem kulturellen oder religiösen Umfeld sie kommen. Der habermassche Patriot ist, grob gesprochen, zugleich ein Befürworter des küngschen „Weltethos“, projiziert auf die Bausteine der Verfassung des eigenen Landes.

Das bringt, außer den Kulturrelativisten, die ursprünglich mehrheitlich „links“ waren, die religiösen Fundamentalisten auf den Plan. Sie machen nicht völlig zu Unrecht geltend, dass ein utilitaristischer Hinweis auf die Wohllebensbeförderung, die durch liberale Lebensregeln ermöglicht wird, noch lange nicht als Begründung ausreicht. Der Mensch ist ein metaphysisches Wesen, das sich an Tugenden orientiert, die überzeitlich, aber keineswegs immer glücksoptimierend sind. Man denke an den religiösen „Instinkt“, der eine fraglose Hingabe an die je eigenen Gottheiten oder an Gott und an das durch den Mund von heiligen Männern übermittelte Programm des guten, weil gottgefälligen Lebens fordert.

Neben den religiösen Fundamentalisten gibt es heute vor allem die Erben der konservativen Revolution, die auf Tiefenkollektivgefühle setzen, aus denen heraus ein Volk seine Identität bezieht. Oswald Spengler ordnete dem Abendland, das bei ihm mit der Gotik einsetzt (nicht etwa schon in der griechisch-römischen Antike), den Drang ins Unendliche zu. Realpolitisch bedeutete dies, dass der Abendländer die Welt und den Himmel erobern möchte. Und weil er aber an die Stelle dieser Eroberungslust das technische Titanentum gesetzt hat, ist er nun dazu verurteilt, seine seelenlose Zivilisation weiterzuschleppen, bis zum Weltbrand, entfacht durch moderne Cäsaren.

Und was nun? Was stattdessen?

Obwohl man also Habermas Rechtfertigungsdefizite vorwerfen kann, sofern man bereits eine „patriotische“ Haltung bezogen hat, deren Ursprünge meist in der Zwischenkriegszeit liegen und die ihrem Wesen gemäß antidemokratisch, anti­egalitär, antiliberal sind, bleibt dann doch die Frage: Und was nun? Was stattdessen? Nach Spengler hat unsere Zivilisation keine Zukunft, und die Zukunft, die eine neue Kulturseele hervortreiben müsste, verharrt vorerst im Dunkeln. Und so finden wir aufseiten der Neonationalisten auch meist das Motto: „Vorwärts – nach hinten!“ – aber wohin: etwa auf das Mittelalter zu?

Um gegen Habermas reputierlich zu argumentieren, müsste man sich an konservativen Tugenden orientieren, am aristotelischen Ideal einer natürlichen Ordnung und des Mittelmaßes, an Liebe und Hoffnung, an christlicher Hilfsbereitschaft und der Förderung all dessen, was in der Welt schön und bewunderungswürdig ist. Dass es den neorechten Patriotismen an solchen Tugenden weitgehend zu fehlen scheint, stattdessen Hass und Mobbinglust den Ton angeben, ist die größte Gefahr – eine Gefahr allerdings weniger für den Liberalen, sofern er sich zu verteidigen weiß; Stichwort: Intoleranz gegenüber den Intoleranten.

Gefährdet ist vielmehr der ehrbar-konservative Mensch, dessen verfeinertes Gefühl für – wie es hieß – „Sitte und Anstand“, konfrontiert mit dem Universum aus skrupelloser Profitökonomie, enthemmter Eigensucht und liberalistischer Obszönität, ein profundkulturelles Erfordernis wäre.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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