Kultur in der Corona-Krise - „Die Kulturnation Deutschland könnte beschädigt werden“

Julian Nida-Rümelin macht sich Sorgen um die kulturelle Substanz Deutschlands in der Corona-Krise. Zusammen mit anderen Intellektuellen und Künstlern wird der Philosoph am Samstag auf der Demonstration „Aufstehen für Kultur“ sprechen. Im Interview erklärt er, wo die größten Probleme liegen.

Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie an der LMU München und Staatsminister a.D / dpd
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Universität München. Er war Kulturreferent der Landeshauptstadt München und von Januar 2001 bis Oktober 2002 Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder.

Herr Nida-Rümelin, man bekommt dieser Tage das Gefühl, dass Kultur und Krise nicht gut zusammenpassen. Täuscht dieser Eindruck?

In Krisensituationen müssen sich Gesellschaften darüber klar werden, was für sie verzichtbar und was zentral ist. Denken Sie an die schwere Krise in der Nachkriegszeit: Damals hat man sich zunächst auf das Wichtigste besonnen, nicht aber auf den Verlust an kultureller Substanz, den das Land durch die NS-Zeit und durch die Verfolgung von Intellektuellen erlitten hat. Deutschland hat sich lange Zeit als Bildungs- und Kulturnation par excellence definiert. Das war dann mit einem Mal vorbei. Plötzlich ging es um die harte D-Mark, um die fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um die Weltmeisterschaft 1954 und dergleichen mehr. Jetzt will ich die damalige Krise nicht mit der heutigen vergleichen …

Bundeskanzlerin Merkel hat gleich zu Beginn der Pandemie darauf hingewiesen, dass wir derzeit die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg erleben. 

Was sicherlich stimmt, ist, dass sich derzeit viel auf der Welt verändert, und so, wie sich die Krise derzeit entwickelt, wird uns das vermutlich auch noch eine Zeit lang so begleiten. Meine Sorge ist daher, dass wir derzeit erneut eine Verschiebung erfahren. Es geht um das Wesentliche. Das Wesentliche sind Gesundheit, der Erhalt der großen Industrien, der Erhalt der Arbeitsplätze. Ich glaube, wir sind bei der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Begleitung der Krise sehr gut aufgestellt. Doch jetzt kommt das Aber: Denn vieles andere gerät aus dem Blick. Dazu gehört auch die Kultur. Es besteht die Gefahr, dass wir unbemerkt eine Ausdünnung der kulturellen Substanz erleben und dass sich das Land nach Ende der Krise nicht mehr vollständig davon erholen wird. 

Wo sehen Sie konkrete Gefahren?

Ich komme selber aus einer Künstlerfamilie. Das ist ein Bereich, in dem ich mich auskenne. Die allermeisten bildenden Künstler sind nicht an staatlichen Einrichtungen beschäftigt, sondern leben allein von ihrer Arbeit und vom Verkauf ihrer Werke. Das ist an sich schon sehr unsicher. Man hangelt sich von Auftrag zu Auftrag. Es gibt Untersuchungen des Bundesverbandes Bildender Künstler, wonach sehr viele Künstler in anderen Berufstätigkeiten dazuverdienen müssen. In einer ohnehin prekären Situation also überlegen sich viele derzeit, ob sie in der Zukunft noch an diesem Beruf festhalten können. Und wenn auch nur ein Teil von denen, die Kunst zum Beruf gemacht haben, in der Krise aussteigen muss, dann haben wir ein Problem. 

Um auf derlei Probleme zu reagieren, wird am Samstag auf dem Münchener Königsplatz eine Demonstration unter dem Motto „Aufstehen für Kultur“ stattfinden. Redner sind unter anderem Sie, aber auch der Tenor Julian Prégardien und der Kabarettist Gerhard Polt. Kann so eine Demo in der aktuellen Situation mehr als ein symbolischer Akt sein?

Ich beteilige mich daran als Redner, weil ich mir von dieser wie auch von anderen Veranstaltungen erwarte, dass sie die Öffentlichkeit auf eine Gefahr aufmerksam macht: Wir geraten in eine Dynamik hinein, in der die Kulturnation Deutschland beschädigt werden könnte. Wir wollen darauf hinweisen, dass die Bereiche Kultur und Bildung vom selben Gewicht sind wie all die anderen Bereiche auch, die wir derzeit versuchen stark zu halten. 

Das heißt, es geht um mehr finanzielle Förderung und um eine Unterstützung, die über die eine Milliarde Euro aus dem Paket „Neustart Kultur“ hinausgeht? 

Es geht nicht primär darum, die staatlichen Mittel, die für die Kultur zur Verfügung gestellt worden sind, zu verdoppeln oder zu verdreifachen, es geht erstmal um die Frage, ob wir die Kultur mit anderen Bereichen gleichbehandeln. Ich komme zum Beispiel gerade aus Stuttgart mit dem ICE. Nun weiß ich nicht, wie gut die Klimaanlage in einem solchen ICE ist, aber vermutlich wird sie nicht besser oder schlechter sein, als in einem gut ausgestatteten städtischen oder staatlichen Theater. Nun kann man aber in einem ICE auch in der momentanen Situation dicht an dicht sitzen, während die Theater aktuell Regelungen haben, die einen Betrieb fast unmöglich machen. Das sind Dinge, die schwer zu verstehen sind. Menschen, die ins Theater gehen, sind in der Regel erwachsen, die drängeln sich nicht wie Schulkinder am Eingang eines Busses. Es ist also nicht zu erkennen, dass da Hotspots in der Verbreitung der Infektion entstehen könnten. Wir hätten bereits einen Fortschritt erreicht, wenn die Orte, an denen Kultur stattfindet, nach denselben Standards behandelt würden, wie etwa Restaurants oder Züge.

Es ist aber wohl eher davon auszugehen, dass mit wieder steigenden Infektionszahlen viele Menschen freiwillig solche kulturellen Orte meiden werden. Können, wie es am Anfang der Krise zuweilen hieß, gestreamte Konzerte und Lesungen sowie andere digitale Formate bereits eine lebendige Kultur abbilden oder gar ersetzen?

Es gibt sehr viele faszinierende, manchmal gar rührende Versuche, und gestreamte Solokonzerte aus dem heimischen Wohnzimmer eines Musikers sind wunderbar und natürlich besser als nichts. Ich selbst habe nahezu die gesamte Lehre im letzten Semester online abgewickelt. Allen, die daran teilhatten, ist dadurch zweierlei klargeworden: Zum einen haben wir bis dato diese Möglichkeiten nur unzureichend genutzt, zum anderen aber können Online-Angebote nicht den unmittelbaren Austausch ersetzen. 

Dieser unmittelbare Austausch aber ist gerade in der Kultur verunmöglicht, wenn man Künstlern zumindest partiell das Recht auf freie Berufsausübung einschränkt. Und die freie Berufsausübung ist ja nur ein Bereich, wo in der Corona-Krise Grundrechte ausgesetzt worden sind oder in Teilen noch ausgesetzt werden. Sie haben sich als Philosoph intensiv mit den Gefährdungen der Demokratie und der demokratischen Kultur beschäftigt. Wie lange sind Ausnahmezustände, wie wir sie derzeit erleben, überhaupt aufrechtzuerhalten?

Ich habe mich schon in der ersten Shutdown-Woche öffentlich sehr skeptisch geäußert; nicht gegenüber den Maßnahmen selbst – über deren Sinnhaftigkeit kann man im Nachhinein diskutieren – sondern gegenüber der Kommunikation. Ich habe damals darauf hingewiesen, dass die Botschaft nicht darin bestehen kann, dass wir nun das ökonomische, soziale und kulturelle Leben runterfahren und abwarten bis ein Impfstoff da ist. Man braucht ein Licht am Ende des Tunnels. Das aber setzte voraus, dass man klare Kriterien hat und dass man eine Gesamtstrategie präsentiert, nach der sich dann die einzelnen Maßnahmen differenzieren. Derlei aber hat es von Anfang an nicht gegeben, und das gibt es auch heute noch nicht. Die Kriterien sind nicht klar.

Was bedeutet das nun aber für die Grundrechtseinschränkungen?

Wenn Sie mich persönlich fragen, dann bin ich der Auffassung, dass man individuelle Freiheitsrechte einschränken kann, auch massiv. Aber man muss den Zeitraum eng begrenzen und die Kriterien definieren, nach denen diese Freiheitsrechte eingeschränkt sind. Das ist in ganz Europa nicht der Fall bisher. Ich kritisiere also nicht speziell die deutsche Situation. Das kann gut gehen, wenn sich sowas auf ein paar Wochen beschränkt, aber das geht auf keinen Fall gut, wenn sich das über Monate oder gar Jahre bis zur allgemeinen Verfügbarkeit einer Impfung zum Beispiel hinzieht. 

Was ist die Konsequenz daraus?

Wir müssen vermutlich lernen, mit einem gewissen Niveau der Gesundheitsbedrohung zu leben. Das setzt aber voraus, dass wir eine rationale Risikoabwägung vornehmen und die gesundheitlichen Folgen von Covid-19 minimieren. Wir wissen zum Beispiel, dass es bei der Gruppe der unter 60-Jährigen ohne gravierende Vorerkrankungen ein minimales Todesrisiko gibt, während sich das Risiko mit dem Alter um den Faktor 1000 und darüber erhöht. Wenn man das im Hinterkopf hat, kann das nur heißen, dass man ein Gutteil der ökonomischen, sozialen und kulturellen Aktivitäten aufrechterhalten kann, da diejenigen, die das höchste Risiko tragen, auch diejenigen sind, die in der Regel nicht mehr berufstätig sind. Mir scheint, wir sind da nicht konsequent genug. Und so erzeugen wir Nebenfolgen, die bereits jetzt gigantisch sind – auch auf dem Gebiet der Kultur.

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