Jüdisches Leben in Deutschland - Wir Juden gehören dazu

Im Jahr 2021 leben Jüdinnen und Juden nachweislich seit 1700 Jahren in Deutschland. Dennoch werden sie noch immer als Fremde, als Opfer, als Israelis wahrgenommen. Mit anderen Worten: als Exoten.

Juri in Berlin, 2004. „Nicht die Erinnerung, sondern Menschen sind die Basis jeder Gemeinschaft“ / xxpool
Anzeige

Autoreninfo

Rafael Seligmann, Jahrgang 1947, ist Historiker, Journalist und Schriftsteller. Er lehrte an der Ludwig-Maximilian-Universität Strategie und Sicherheitspolitik. In Kürze erscheint sein Buch „Brandstifter und Mitläufer. Hitler, Putin, Trump“ im Verlag Herder.

So erreichen Sie Rafael Seligmann:

Anzeige

Deutschland zelebriert derzeit 1700 Jahre jüdische Geschichte. Altbekannte Vorbild­hebräer werden aufgerufen: Heinrich Heine, Albert Einstein, Max Liebermann, Fritz Haber, Samuel Fischer, Regina Jonas, Nelly Sachs, Hannah Arendt. Kein Zufall, dass sie allesamt tot sind. In Bezug auf ihre Juden gleichen die Deutschen Schmetterlingssammlern. Sie sind fasziniert von dem Objekt ihres Interesses, haben alles Wissen darüber zusammengetragen. Doch sie gehen damit am besten um, sobald die Spezies fixiert, also tot ist. 

Die heutigen Deutschen betrauern die jüdischen Opfer ihrer Großeltern. Ihre harsche Kritik richtet sich indessen gegen die Israelis als Besatzer Palästinas. Die Solidarität der bußwilligen Deutschen gilt den Palästinensern. Sie werden als gegenwärtige Opfer der einstigen jüdischen Opfer angesehen. Quasi als „moderne Juden“. Über diese politisch korrekte Umwertung aller Werte – auch jene des gesunden Menschenverstands – wird vielfach übersehen, dass in Deutschland ein Dreivierteljahrhundert nach Ende des Völkermords jüdisches Leben wieder aufblüht. 

Eine neue Erinnerungskultur

Statt diese erfreuliche Entwicklung wahrzunehmen und zu unterstützen, führt man die überholten Auseinandersetzungen mit den wenigen bekannten Exoten und Krawallmachern fort. Einst hatte ich mich über die Deutschen und ihre „Musterjuden“ mokiert: „Broder, Biller, Brumlik, Seligmann, Wolffsohn und die anderen Idioten mögen schreiben, was sie wollen, die Deutschen sind erpicht darauf, ihren Tineff zu lesen.“ 

Das deutsch-jüdische Miteinander bedarf dringend einer Schubumkehr. Keinen „Schlussstrich und Schwamm drüber“. Der Opfer soll gedacht werden. Trauer indessen ist individuell, sie lässt sich nicht verordnen – auch nicht durch den Staat und wenn die Fahne noch so tief hängt. Die Priorität gehört dem gegenwärtigen Leben. Es kann nicht sein, dass deutsche Schüler, aber auch ein Gutteil der Erwachsenen, Juden mit Auschwitz, Holocaust-Mahnmal oder Israel assoziieren. Dagegen helfen weder Einstein-Poster noch Gedenk­reden über Walther Rathenau. 

Geboren als Bürger 2. Klasse

Apropos Rathenau (1867–1922). Der hatte einst bekannt: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Mal voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“ Fürwahr. Dem einflussreichen Industriellen und Publizisten war es ob seiner jüdischen Herkunft verwehrt, preußischer Offizier zu werden. Ihm erging es wie allen Juden, sie konnten reich und erfolgreich sein wie die Bankiersfamilie Rothschild oder zum Christentum übertreten wie Heinrich Heine. Das erhoffte Entreebillet zur deutschen Gesellschaft erwies sich als ungültig. Im Kaiserreich ebenso wie in der Demokratie.

Walther Rathenau war zunächst Nationalist. Im Ersten Weltkrieg organisierte er die Rohstoffversorgung der deutschen Streitkräfte. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wandelte sich Rathenau zum Liberalen. Zuletzt diente er der Republik von Weimar als Außenminister. Die nationale Rechte verachtete Rathenau als „Erfüllungspolitiker“ und hasste ihn ob seines Judentums, dessen Religion er ablehnte. Die Extremisten höhnten: „Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Es blieb nicht bei Hassparolen. Am 24. Juni 1922 wurde Rathenau in Berlin auf offener Straße ermordet.

Körperliche Unversehrtheit ist nicht das Problem

Einen verlorenen Weltkrieg und die Nazidiktatur später unternahmen die Deutschen den unmöglichen Versuch, „die Vergangenheit zu bewältigen“ und „Wiedergutmachung“ zu leisten. Zumindest erfuhren die Davongekommenen auf diese Weise materielle Unterstützung, und Antisemitismus wurde bekämpft. Heute bewegt sich die Judenfeindschaft Deutschlands im Mittelfeld der europäischen Antisemitismus-Liga. Weit hinter den Spitzenreitern Polen, Litauen, Ukraine samt deren jüdischem Präsidenten und Frankreich.

Die entscheidende Bedrohung der Juden Deutschlands gilt nicht ihrer körperlichen Unversehrtheit. Die vorrangige Herausforderung ist psychologisch. Es ist die Art der Wahrnehmung der Juden durch die Menschen dieses Landes. Sie werden von der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach wie vor als Fremde, als Opfer, als Israelis, kurz als Exoten angesehen. Nicht jedoch als Deutsche. An dieser Einstufung tragen die Juden freilich Mitschuld. Einerseits wollen die hiesigen Hebräer als Deutsche wahrgenommen werden, andererseits heißt ihre politisch-gesellschaftliche Vertretung: Zentralrat der Juden in Deutschland. 

Der Wiederaufbau jüdischen Lebens

Als der Zentralrat im Jahre 1950 gegründet wurde, lag der Völkermord erst fünf Jahre zurück. Die etwa 20 000 Juden in der Bundesrepublik Deutschland – in der DDR lebten knapp tausend Hebräer – wurden weltweit als ehrlose Opportunisten verachtet. Viele Juden waren traumatisiert, körperlich krank oder sie hatten nur dank ihrer nichtjüdischen Partner überlebt wie der Dresdner Romanist Victor Klemperer. Rabbiner Leo Baeck, der Mentor des hiesigen Judentums, hatte nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt die Geschichte des deutschen Judentums als beendet erklärt. Von dieser verschreckten Schicksalsgemeinschaft ein offenes Bekenntnis zum Deutschtum zu verlangen, wäre eine Überforderung gewesen. Unterdessen aber sind sieben Jahrzehnte ins Land gegangen. Die Zahl der hier lebenden Juden hat sich auf Hunderttausend verfünffacht. Die meisten Zuwanderer kamen nach dem Ende der ehemaligen Sowjetunion ins Land. 

Die 1990 frei gewählte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière bewies historisches Bewusstsein: Statt wohlfeile Reden zu halten, erlaubte Ostberlin den Juden aus der Sowjetunion die Einwanderung nach Deutschland. Diese Möglichkeit wurde nach der Wiedervereinigung systematisch wieder beschnitten. Immerhin kamen auf diese Weise mehr als 200 000 Juden in unser Land. Die Hälfte, zumeist die Älteren und die Ärmeren, wurden Mitglieder jüdischer Gemeinden. Unterdessen sind noch einmal rund 40 000 Israelis überwiegend nach Berlin gezogen. Ihre Immigration war existenziell wichtig für das überalterte deutsche Judentum. Denn nicht die Erinnerung, sondern Menschen sind die Basis jeder Gemeinschaft. Da erst bekamen die wiederaufgebauten und neu errichteten Synagogen eine Funktion.

Alte Denkmuster

Dem personellen und materiellen Wiederaufbau ging ein geistiger Prozess voraus. Der Schock der Naziherrschaft und der Schoah ließ das deutsche Judentum verstummen. Deutsch-jüdische Literatur wurde nach 1945 im Exil verfasst von Autoren wie Lion Feuchtwanger, Nelly Sachs, Paul Celan, Jehuda Amichai. Die hiesigen Juden dagegen wagten keine Gegenwartsliteratur zu schreiben. Denn Literatur lebt von der Schilderung der Gefühle der Autoren und ihrer Rezeption durch die Leser. 

Jüdische Intellektuelle, die nach Deutschland zurückkehrten, taten es im Namen der Versöhnung. Sie trauten sich nicht, ihre Verletzung, ja ihre Aggression, gegen das Volk der Täter zu entdecken. Dies wollte der Germanistik und Kritik nicht auffallen, obgleich ein Jude als Kritikerpapst fungierte. Marcel Reich-Ranicki kannte den Grund des Verstummens der hiesigen jüdischen Schreiber sehr wohl. Doch er schloss sich der Allianz des Verschweigens an, um seine Popularität nicht zu beeinträchtigen. 
Noch immer verharrt Deutschlands politische Klasse in den hergebrachten Denkmustern und Leerformeln. Man verdammt den Antisemitismus mit voller Lautstärke, hat jedoch noch nicht zur Kenntnis genommen, dass das Gros der hiesigen Juden keine Israelis oder überlebende Opfer sind. So teilte mir der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier freundlich mit, er werde demnächst „meinen“ Außenminister in Israel sprechen. Ich erwiderte, bislang hätte ich ihn, Steinmeier, als meinen Minister angesehen. Jeder Jude in Deutschland erlebt solche Begegnungen der ausgrenzenden Art. Sie geschehen nicht aus schlechtem Willen, sondern aus Scheu. Auf diese Weise aber kommen wir nie zusammen. 

Schritte aufeinander zu

Als ich Ende der 1980er Jahre die ersten deutsch-jüdischen Gegenwartsromane veröffentlichte, widerfuhr mir eine zwiespältige Reaktion. In der jüdischen Gemeinschaft herrschte Entsetzen. Exemplarisch für viele wurde ich in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung als „Nestbeschmutzer“ angegriffen. Die nichtjüdische Leserschaft dagegen zeigte Neugierde für die Gefühlslage der Juden. Dies ist ein Zeichen von Anteilnahme – und damit eine Ermutigung zur Wiederaufnahme des deutsch-jüdischen Dialogs. Man mag dabei streiten wie in der Judenschul. Etwas anderes wäre bei dieser Vorgeschichte unglaubwürdig.

Das Miteinander ist möglich, wie München zeigt. Seit Kriegsende beteten die Juden der bayerischen Metropole in ihrer Hauptsynagoge in einem Hinterhof in der Reichenbachstraße zwischen Mülltonnen und Sicherheitszaun. Dieser unwürdige Zustand währte länger als sechs Jahrzehnte. Erst eine unverbrüchliche deutsch-jüdische Allianz zwischen der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch, und dem damaligen Oberbürgermeister Christian Ude ermöglichte eine würdevolle Wende. Die Stadt stellte ein optimales Areal zur Verfügung. So entstand 2007 mit den Mitteln des Freistaats endlich ein jüdisches Gemeindezentrum mit Synagoge, Schulen, Museum, Jugendbegegnungsstätte im Herzen Münchens. 

Die Juden und ihre Kultur sind wieder Teil des Lebens der Stadt geworden. Die Münchner, einerlei ob Juden, Christen oder andere, sind stolz darauf. Das ist allerorten möglich, wenn die Bürger begreifen, dass die Juden dazugehören – wegen und trotz der langen gemeinsamen Geschichte.

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige