Islam - Ist der Koran ein Buch der Gewalt?

Nach den von Muslimen verübten Terroranschlägen halten viele den Islam für eine Religion der Gewalt. Dabei berufen sich Kritiker auf einzelne Suren des Korans. Diese müssen jedoch im Kontext interpretiert werden. Wie sind sie also zu verstehen?

Würden alle Muslime einer gewaltverherrlichenden Ideologie folgen, wäre unsere Welt eine andere / picture alliance
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Houssam Hamade ist freier Journalist und schreibt unter anderem für die taz und den Freitag.

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Islam und Fußball haben eines gemeinsam: die vielen Experten. Den Fußball macht das gerade interessant. Islamkritik, die auf Halbwissen beruht, ist dagegen ein Problem. Die darin enthaltenen Lücken und Ungenauigkeiten werden mit Projektionen gefüllt – düstere Bilder, die mehr mit uns als der Sache selbst zu tun haben. Beispielhaft zeigte das die Integrationspreisträgerin Heidemarie Mund am Rande einer Pegida-Demonstration, wo sie behauptete, der Koran sei „gleichzusetzen mit dem Hitlers ‚Mein Kampf‘”. Wer Koran und Gewalt googelt, findet hunderte Artikel und Blogs, die mit viel Eifer behaupten, der Koran sei ein Buch der Gewalt. Die Vorstellung, der Islam fordere per se Gewalt ein, er sei gar faschistisch, ist weit verbreitet. 57 Prozent der Deutschen sehen ihn als Bedrohung an.

Marginalisierung von Muslimen

Prinzipiell ist kritisches Denken sehr zu begrüßen. Selbstverständlich gilt das auch in Bezug auf den Islam. Natürlich kann Kritik eine befreiende Wirkung haben, denn sie kann dazu beitragen, dass wir unsere Einstellungen hinterfragen, präzisieren und sogar überdenken. Das gilt aber nur unter bestimmten Umständen. Manchmal bewirkt Kritik das Gegenteil: Eine Gruppe oder ein Mensch werden marginalisiert und bedrängt.

„Kritik“ an anderen kann dazu dienen, die eigene Gruppe zu vereinen und Selbstkritik abzuwehren. Als schlecht gelten dann immer die Anderen. Sie sind das Schwarz, das unser Weiß heller scheinen lässt. Und die Idee, der Islam sei eine Religion der Gewalt, ob sie wahr ist oder nicht, erzeugt eine tiefgreifende und messbare Stigmatisierung der Muslime oder derjenigen, die muslimisiert, die also überhaupt erst in die Rolle des Muslimisch-Seins gedrängt werden. Männlichen Muslimen wird so unterstellt, dass sie rückständig und aggressiv seien, Musliminnen hätten angeblich kein Rückgrat und würden die Logik ihrer Unterdrücker verinnerlichen. An dieser Marginalisierung ändert auch die Behauptung nichts, die Kritik des Islam könne getrennt von der Kritik an Muslimen gedacht werden, wie auch der Champion der deutschen Islamkritik Hamad Abdel-Samad argumentiert. Analog ließe sich dann auch sagen, wer gegen Faschismus sei, müsse Faschisten nicht unbedingt ablehnen. Das kann nicht überzeugen.

Wenden Muslime öfter Gewalt an?

Weltweit gibt es 1,5 Milliarden Muslime. Ein Viertel der Menschheit. Würden diese alle einer gewaltverherrlichenden Ideologie folgen, wäre unsere Welt eine andere. Sie stünde vollständig in Flammen. Und das tut sie nicht, auch wenn es manchmal so scheinen mag Das beantwortet allerdings nicht die Frage, ob Muslime öfter in gewalttätige Konflikte involviert sind als Angehörige anderer Religionen.

Der US-Forscher Jonathan Fox untersuchte diese Frage anhand von Daten aus dem Zeitraum von 1965 bis 2001. Fox stellt fest, dass Muslime gerade seit den neunziger Jahren durchschnittlich öfter an Konflikten als Beteiligte anderer Religionen beteiligt sind. Allerdings sind diese Zahlen deutlich weniger eindeutig, wie gemeinhin angenommen wird. In absoluten Zahlen sind außerdem christliche Gruppen öfter in bewaffnete Konflikte verwickelt als Muslime. Das Problem ist, dass sehr viele Faktoren eine Rolle spielen: Geopolitik, Wirtschaft, Geschichte, Soziales. Fox stellt fest, dass Religion alleine diese Unterschiede nicht annähernd erklären kann.

Der Dschihadismus ist eine Interpretation des Islam

In Deutschland leben mehr als vier Millionen Muslime. Dennoch ist die Anzahl der Gewaltakte, die durch Rechtsextreme verübt wurden, um ein Vielfaches höher als die durch Islamisten verübte. Das soll nichts relativieren. Die Verbrechen durch totalitäre islamistische Gruppen sind besonders blutrünstig. Diese müssen bekämpft werden. Infrage steht auch nicht, dass manche Auslegungen des Islam so wirkmächtig wie autoritär und teils menschenfeindlich sind. Fakt ist aber auch, dass sich derzeit eben nicht ein Großteil der Muslime auf einer Mission befindet, nach Faschistenart die Welt mit Gewalt und Gleichschaltung zu überziehen. So stark kann die brutalisierende Kraft des Islam also nicht sein

Der Dschihadismus ist eine Interpretation der islamischen Schriften, die im 20. Jahrhundert unter anderem von dem ägyptischen Theoretiker Sayyid Qutb entwickelt wurden und einen massiven Bruch mit den bisherigen islamischen Traditionen bedeuten. Totalitäre Gruppen wie der IS oder Boko Haram finden hier ihre theoretischen Ursprünge.

Was sagt der Koran dazu?

Das Gegenmittel für Halbwissen ist Präzision. Wenn der Koran ein Manifest der Gewalt ist, müssten sich doch darin eindeutige, nicht verhandelbare Worte finden lassen.

Beispielsweise heißt es in Sure 9, Vers 5: „Und bekämpft die Polytheisten, wo ihr sie findet!“ Sure 2, Vers 216 besagt: „Es ist euch vorgeschrieben, zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist.” Auch Sure 2, Vers 191 fordert: “Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verfolgung ist schlimmer als Töten!“ Diese Sätze scheinen eindeutig.

Der islamische Mainstream argumentiert kontextualisierend: Diese Suren stammten allesamt aus der medinischen Zeit, in der die islamische Gemeinde gegen „die Polytheisten“ kämpfte und in der es eine „akute Bedrohung der damals noch kleinen und schwachen muslimischen Gemeinde“ gegeben habe. Gewalt werde vielmehr begrenzt und beregelt. Wer die letztgenannte Sure weiterliest, findet beispielsweise den Satz: „Wenn sie aufhören, so ist Gott voller Vergebung und barmherzig.” Der österreichische Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide betont auch, dass „Barmherzigkeit” die im Koran meistgenannte Eigenschaft Gottes sei. In „dem Hitlers ‚Mein Kampf‘” lässt sich die Barmherzigkeit kaum finden.

Der Streit um Kontext und die richtige Übersetzung

In Sure 16, Vers 125 steht: „Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen in bester Weise.“ Dass Gewalt ein Mittel der Abschreckung sein solle, fordert Sure 8, Vers 60: „Und rüstet gegen sie auf, soviel ihr an Streitmacht und Schlachtrossen aufbieten könnt, damit ihr Allahs Feind und euren Feind - und andere außer ihnen, die ihr nicht kennt – abschreckt.“ Sure 22, Vers 39 besagt: „Die Erlaubnis (sich zu verteidigen) ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah.“ Sure 5, Vers 8 ermahnt: „Lasst nicht durch den Hass anderer euch zu Ungerechtigkeit verführen. Seid gerecht, das ist näher der Gottesfurcht." Immer wieder wird auch Sure 8, Vers 61 zitiert: „Und wenn sie jedoch zum Frieden geneigt sind, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Allah.“ Sure 2, Vers 256 lehnt Zwang als Mittel der Bekehrung ab.

Das Surenpingpong und der Streit um Kontext und die richtige Übersetzung der jeweiligen Suren sind damit aber sicher nicht beigelegt. Was aber klar ist: Der Islam ist keine pazifistische Religion. Aber muss er das sein? Ein Recht auf Selbstverteidigung kann Menschen zugestanden werden. Der „Rest“ ist nicht eindeutig.

Die islamischen Regeln waren fortschrittlich

Die Berliner Islamwissenschaftlerin Berlin Gudrun Krämer spricht in ihrem Buch „Demokratie im Islam“ von einer „Fiktion der Evidenz“. Sowohl viele Islamkritiker als auch radikale Islamisten teilten die irrige Vorstellung, dass die islamischen Texte keiner Interpretation bedürften, dass sie eindeutig seien. Das ist aber, wie gezeigt wurde, nicht wahr.

Das Prinzip der Interpretation ist tief in der islamischen Tradition verwurzelt. Neben der kontextualisierenden Argumentationslinie, gibt es auch den „abstrahierenden Ansatz“. Dieser bemüht sich, den „Geist” der Offenbarung zu erfassen. Beispielsweise ist die Einführung der islamischen Regeln zu seiner Zeit höchstwahrscheinlich ein massiver Fortschritt für die Rechte der Frauen gewesen. Laut Koran sollen Frauen nicht nur wie Gegenstände behandelt werden. Zu Recht lässt sich zwar sagen, dass diese Fortschrittlichkeit heute keine mehr ist, wer aber „dem Geist” des Islam folgt, könnte wohlbegründete Prinzipien wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Pluralismus aus den islamischen Schriften ableiten.

Kritik ist angebracht

Kritisierenswert wäre dennoch vieles. Beispielsweise, dass es überhaupt möglich ist, die Schrift gewaltverherrlichend und totalitär zu interpretieren. Aber das gilt wohl für die meisten Religionen und Denksysteme. Eindeutig problematisch ist die Vorstellung von absoluten, von einer höheren Macht vermittelten, Wahrheiten. Auch das ist aber nicht ein spezielles Problem des Islam.

Eine eingehende Diskussion solcher Fragen muss gründlich und sachlich diskutiert werden, also nicht so, wie es in der westlichen Öffentlichkeit derzeit meist getan wird. Es sollten bestimmte Probleme angesprochen werden: Politischer Islam ist immer abzulehnen. Saudi-Arabien gibt jährlich Milliarden aus, um den Wahhabismus, eine reaktionäre und autoritäre Interpretation des Islam in der Welt zu verbreiten. Auch die sich in den Vordergrund drängende türkisch-islamische Union „Ditib“ ist beileibe keine progressive Kraft, auch keine extremistische.

Keine Feinde der Demokratie

Es ist ein großes Problem, dass Islamkritiker oft nur die halbe Wahrheit kennen oder erzählen. Eine gesamte Gruppe zu marginalisieren und oft auch zu dämonisieren hilft nur den Extremisten und Dummköpfen aller Lager.

In Deutschland halten 90 Prozent der hochreligiösen Muslime die Demokratie für eine gute Regierungsform. In den meisten Fällen sind Muslime und ihr Islam nicht die Feinde einer rechtsstaatlichen Vorstellung von Freiheit und Demokratie. Die Konfliktlinie nur zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen zu ziehen, führt zu einer hochgefährlichen Gut-Böse-Dichotomie, die zu vermeiden ist. Denn sie führt in die Barbarei, anstatt sie abzuwehren.

 

Hier können Sie eine längere Version des Artikels von Herrn Hamade lesen.

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