Identitätspolitik und Cancel Culture - Der lange Rückweg zur Vernunft

Mit der Identitätspolitik ist das Privateste zum Politikum geworden. Doch woher kommt eigentlich der Glaube, wonach Wahrheit und Identität in irgendeiner Form zusammenhängen könnten? Und in welche Irre wird der Weg am Ende führen? Eine Spurensuche.

Jeder gegen alles: Vielleicht gäbe es hinter dem eigenen Ich noch etwas Größeres zu entdecken? / picture alliance
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Der Tag, an dem das abendländische Denken einen Salto mortale hinlegte, war ein Donnerstag. An den Fensterfronten der Buchhandlungen von Paris drückten sich die Studenten der École normale supérieure ihre hochgetragenen Nasen platt. Es war der 20. Februar 1975, drei Tage nach Ende der Pariser Winterferien. In den Auslagen befand sich ein druckfrisches Taschenbuch aus dem Verlag Gallimard.

In den philosophischen Fakultäten sollte es wie eine Bombe einschlagen: Hinter einem schlichten weißen Cover mit geschwungenem Schriftzug in Rot und Braun verbarg es, so zumindest ein damals immer lauter werdendes Gerücht, eine revolutionäre Theorie über Macht und Identität. Ihr Titel: „Surveiller et punir“, zu Deutsch „Überwachen und Strafen“.

Der Dandy mit dem Wollkragenpulli

Autor der über 350 Seiten umfassenden Analyse war ein gewisser Michel Foucault, Psychologe, Philosoph und als engagierter Intellektueller in der französischen Öffentlichkeit kein Unbekannter mehr. Mit Büchern wie „Wahnsinn und Gesellschaft“ oder „Die Ordnung der Dinge“ waren dem linken Professor, Lehrstuhlinhaber für die „Geschichte der Denksysteme“ am renommierten Collège de France, einige Bestseller gelungen. Sein politischer Protest für die Rechte von Homosexuellen oder für die Insassen in den Gefängnissen von Toul oder Nancy hatten dem Dandy mit dem weißen Rollkragenpulli zudem einiges an medialer Aufmerksamkeit beschert – und das weit über den berüchtigten Mai des Jahres 1968 hinaus.

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Michel Foucault / dpa

„Überwachen und Strafen“ aber sollte noch einmal alles in den Schatten stellen, was man selbst in der Fünften Republik von einem Vertreter der Federhalterzunft so gewohnt war. Denn diese „Geschichte der Gegenwart“, wie der Autor sein eigenes Buch nannte, stellte die Philosophie Platons von den Füßen auf den Kopf. Der antike Starphilosoph hatte einst nämlich behauptet, dass der Körper das Gefängnis unserer Seele sei, und mit dieser These einen scheinbar unverrückbaren Glaubenssatz im sogenannten Leib-Seele-Dualismus geprägt.

Doch mit etwas sophistischem Foulspiel holte Foucault Platon nun von den Füßen und drehte ihn hernach einfach um: „Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers“, lautet einer der zentralsten Sätze in einem Buch, das an vielen Stellen vor irrationaler Poesie nur so strotzt, das sich aber vielleicht gerade deshalb auch jenseits der Grenzen des Quartier Latin so gut verkauft hat.

Das poststrukturalistische Denken und seine Folgen

Allein in Deutschland ist „Überwachen und Strafen“ mittlerweile in der 17. Auflage erhältlich, und im angloamerikanischen Raum avancierte es, obwohl vom Katheder lange als typischer „Frog Fog“ belächelt, zur Matrix der poststrukturalistischen Wende, wie sie später von Jacques Derrida, Judith Butler oder Chantal Mouffe weiterbetrieben worden ist. Mochte man in den Seminarräumen also die großen Klassiker rezipieren, unter der Bettdecke verfielen die Studierenden immer öfter den erotisierenden, zuweilen gar sadomasochistischen Grenzgängen der neuen französischen Kulturtheorie. Bereits 20 Jahre später war Foucault zum meistzitierten Autor der Gegenwart aufgestiegen. 

Dass ein Text über Identitätspolitik ausgerechnet an einem banalen Tag des Jahres 1975 beginnt, mag schon verwundern. Er könnte an vielen Orten und zu ganz unterschiedlichen Zeiten einsetzen: im englischen Bristol etwa, wo Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung im Juni dieses Jahres ein Denkmal des einstigen Sklavenhalters Edward Colston vom Sockel geholt haben, oder an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule: Hier hatte sich der Asta über ein angeblich sexistisches Fassadengedicht des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer echauffiert – und das derart energisch und lautstark, dass das konkrete Poem später kurzerhand übermalt worden ist.

Er könnte auch in Manchester beginnen, wo 2018 ein Nymphenbild des Fin-de-Siècle-Künstlers John William Waterhouse abgehängt wurde, in Frankfurt, wo 2019 eine Gruppe namens „Frankfurter Hauptschule“ gegen eine angebliche Vergewaltigungsszene in einem Goethe-Gedicht protestierte, ja vielleicht sogar vor der Küste Libyens, wo 2017 Mitglieder der rechten Identitären Bewegung ein Boot gechartert hatten, um mit einer menschenverachtenden Aktion unter dem Titel „Defend Europe“ Flüchtlinge an der Überfahrt über das Mittelmeer zu hindern. 

Skurrile Symbolhandlungen

Immer wieder ist in den zurückliegenden Wochen und Monaten der Begriff Identitätspolitik in den Debatten über die Phänomene unserer Gegenwart aufgepoppt. Meistens ging es um skurrile Symbolhandlungen an der Schwelle zwischen Kunst und Politik, die zuweilen tief in die Kunst- oder Meinungsfreiheit, gelegentlich sogar – der Fall „Defend Europe“ beweist es – in die Menschenwürde eingegriffen haben. Cancel Culture heißt mittlerweile das Schlagwort, mit dem sich solcherlei Identitätspolitik verbrüdert hat.

Doch will man diese Kette der kaum noch zählbaren Einzelfälle wirklich verstehen, so muss man hinter die Phänomene schauen. Und am Ende wird man dann vielleicht wirklich hier landen: im Pariser Winter von 1975, an jenem milden Februartag, als Foucaults Bestseller „Überwachen und Strafen“ und somit das gesamte poststrukturalistische Lehrgebäude seinen unaufhaltbaren Siegeszug durch das westliche Denken antrat.

Politisch unterworfen: Foucaults Subjekte der Moderne

Für den Duisburger Soziologen Robert Seyfert hat diese Erfolgsgeschichte viel damit zu tun, dass Foucaults Buch bis heute zahlreiche Anknüpfungspunkte zu Problemen unserer Gegenwart bietet: „Foucault hat eigentlich eine Geschichte der Formen der Subjektivierung geschrieben, er hat sich also mit der Frage beschäftigt, wie man als Mensch zum Subjekt gemacht wird. Das passt sehr gut zu den Problemstellungen des Feminismus oder der Gender Studies, also etwa zu der Frage, wie man in der Gesellschaft zur Frau gemacht wird.“

Die Antworten, die der Denker mit der hohen Stirn dazu geliefert hat, mögen überraschen: Indem er sich zunächst nämlich mit der Geschichte der Gefängnisse sowie mit den Methoden von Disziplinierung und Überwachung auseinandergesetzt hat, kommt er zu dem tief greifenden Schluss, dass der Mensch in sich das Resultat einer Unterwerfung sei, die viel tiefer ginge als er selbst. „Eine Seele wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selbst ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt.“

Die „Technologien der Macht“

Fast fünf Jahre lang hatte sich Foucault zuvor Gedanken über die oft gnadenlosen Zustände in den französischen Gefängnissen gemacht. Er hatte mit Häftlingen gesprochen, Archive durchforstet, historische Abhandlungen gewälzt. Fazit: Der Gefängnisinsasse gehorcht nicht, weil er körperlich unterdrückt würde, er habe sich seine Seele und seine Persönlichkeit vielmehr selbst in einer komplexen Prozedur aus Bestrafung, Überwachung, Züchtigung und Zwang erschaffen.

Identität, das ist für den engagierten Professor aus der 85, rue de Vaugirard am Ende nur noch das Introjekt der Amtsstuben und der Behörden. Wir haben uns die „Technologien der Macht“ verinnerlicht; aus dem engen Bereich der Gefängnisse sind sie innerhalb der letzten Jahrhunderte in die Kasernen, die Schulen, die Fabriken eingedrungen und haben dort den Bewohner der Moderne hervorgebracht; jenen eigenartigen Typus Mensch, der keine fest umrissene Identität mehr mitbringt, sondern dessen Persönlichkeit in den Ordnungen und Strukturen der herrschenden Diskurse erst zugerichtet wird.

Neurotische Einsamkeit

Es sind Sätze, wie sie seiner eigenen Autobiografie hätten entnommen sein können. Denn Michel Foucault blieb sich zeitlebens wohl selbst ein Fremder. Hinter seiner mönchischen Erscheinung verbarg sich nicht selten neurotische Einsamkeit. Getrieben von einem herrschsüchtigen Vater, unternahm er mit 22 Jahren einen ersten Selbstmordversuch, durchlief Therapien und Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten. Doch die Identitätsfrage blieb die Sollbruchstelle seines Lebens: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.“

Auf dem zu kurzen Weg bis zu seinem frühen Aids-Tod hat er seine Identitätszuschreibungen daher gewechselt wie andere ihre Kostüme zu jeder neuen Karnevalssitzung. Mal bezeichnete er sich als „nietzscheanischen Kommunisten“, dann wieder als „linken Anarchisten“, mal war er Maoist, mal „Sprengmeister der abendländischen Kultur“. Kurz: Michel Foucault war alles und nichts; vielleicht am ehesten ein Kunstwerk, wie er es in einem späten Interview einmal gesagt hat.

Purzelbaum der Identitäten

Doch gerade dieser ständige Purzelbaum der Identitäten, die Leugnung eines tieferen Wesens zugunsten eines Spieles mit den Machtdiskursen, die uns als Mensch angeblich erst hervorgebracht hätten, hat den französischen Philosophen zu dem Vordenker moderner Identitätspolitik werden lassen – und das zunehmend bei Linken wie Rechten, in der Hoch- wie in der Subkultur. Sein Einfluss auf die Politik und Geistesgeschichte der letzten Jahrzehnte kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Der Duisburger Soziologe Robert Seyfert wollte es genauer wissen. Er stieß bei seiner Recherche auf einen langen Kampf um Etablierung. Waren es anfangs allenfalls versprengte akademische Hochburgen wie Göttingen oder Freiburg, wo man sich für Foucault interessierte, so ist er heute zu einem übergreifenden Gegenwartserklärer geworden: Immer öfter erschienen ab den achtziger Jahren Übersetzungen, Sammelbände, Monografien, Dissertationen und Kritiken zu seinem Denken. Die anfängliche Skepsis, die besonders von Jürgen Habermas kam, wich mehr und mehr der Begeisterung. Der endgültige Sieg sei nach Meinung Seyferts errungen gewesen, als man 2001 dem Foucault-Adepten Jacques Derrida in der Frankfurter Paulskirche den Adorno-Preis übergeben hatte. Und das war nur die Grand Tour durch Europa; in den angelsächsischen Ländern bildete Foucaults Identitätsbegriff schnell ganz andere Blüten aus.

Identitäten auf der Suche nach politischer Repräsentation

Boston, 5500 Kilometer weiter westlich. Um dieselbe Zeit, als in Paris Foucaults „Überwachen und Strafen“ erschien, fand sich in der Bucht von Massachusetts eine Gruppe schwarzer lesbischer Frauen zusammen, die sich nach einem historischen Zwischenfall am Combahee River den Namen Combahee River Collective gegeben hatte. Es waren junge, linke Frauenrechtlerinnen, die gemerkt hatten, dass man selbst im Land der Freien und Gleichen an Grenzen stieß, war man young, gifted and black. Noch komplizierter wurde es, wenn man auch noch andere Merkmale auf sich vereinte, man etwa lesbisch oder bigender war.

Die Gründung der anfangs recht überschaubaren Gruppe markierte einen Wendepunkt im linken Politikverständnis – weg vom angestaubten Klassenkampfgetue der Vorväter, hin zur modernen Identitätspolitik. In Publikationen des Kollektivs hatte dieser Begriff erstmals die Bühne der Weltgeschichte betreten, zu einer Zeit, als derartige Gedanken noch unverbraucht klangen und als die Post-Flower-Power-Generation nach eigenen Ausdrucksweisen suchte.

Die Zeiten der alten Bilder waren vorbei

Eines war dabei sicher: Der Typus des nach Befreiung strebenden Proletariers musste beileibe nicht mehr ein männlicher oder gar weißer Industriearbeiter sein. Die Zeiten der alten Bilder waren vorbei. Demita Frazier, Barbara Smith und Beverly Smith, Gründerinnen des Bostoner Kollektivs, suchten nicht mehr die alte Eintracht. Im Gegenteil: Mein Sozialismus ist nicht dein Sozialismus, hieß die verborgene Kernbotschaft ihrer Politik. Und auch meine Freiheit kann ganz anders aussehen als deine, mein Feminismus anders verortet werden als deiner. Kurz: Ich bin anders als du, und zusammen haben wir eigentlich nur wenig gemeinsam.

Bemerkt hatten die drei Frauen diese Differenz angeblich bei den lokalen Zusammenkünften der Black-Panther-Bewegung. Hier waren sie zuweilen nicht nur auf einen verstörenden Sexismus gestoßen, Frauen wurden oftmals nur auf der Ebene von Statussymbolen betrachtet. Unter derlei Bedingungen konnten die Erfahrungen einer jungen Farbigen aus Harlem natürlich nicht identisch sein mit den Erfahrungen einer weißen Mittelstandsfrau aus Brooklyn. Vielmehr, so die Botschaft des Combahee River Collective, seien afroamerikanische Frauen einem Zusammenspiel verschiedener Unterdrückungserfahrungen ausgesetzt. Innerhalb der weißen Frauenbewegung würden sie als schwarz marginalisiert, innerhalb der schwarzen und männlichen Bürgerrechtsbewegung als weiblich. Rechnete man dann noch ihre homosexuelle Neigung mit hinzu, erhielte man schnell ein Cluster aus Identitäten, der sich nur noch unzureichend in einem Parteitagsprogramm abbilden ließe.

Kulturlinke ohne Aufmerksamkeit für ökonomische Realitäten?

Hatte Michel Foucault also recht? Gab es kein übergeordnetes Wesen der Menschen oder der Dinge – nicht einmal eines der Frauenbewegung oder eines der Arbeiterklasse? Waren unsere Identitäten von Kopf bis Fuß und von Geschlecht bis Hautfarbe am Ende vielleicht wirklich nur das Produkt verschiedenster Machtdispositive in einer zufälligen Diskurssituation, welcher wir ausgeliefert waren, wie dem Stand der Sterne bei der Geburt? Und vor allem: Ging es in der Politik vielleicht weniger um die Veränderung der Wirklichkeit als um die eigene Selbstwahrnehmung?

Es war, als wenn man mit einem Mal in einen zerbrochenen Spiegel hineingeschaut hätte. Denn innerhalb der sogenannten Neuen Linken und der aufstrebenden Alternativbewegungen mit ihren immer zahlreicher werdenden Subkulturen schossen derlei Gedanken wie Wildkraut aus dem Pflasterstrand. Die Wiener Philosophin Lea Susemichel, als leitende Redakteurin eines österreichischen Feminismus-Magazins selbst Teil jener Szene, über die sie schreibt, hat sich intensiv mit der Geschichte der frühen Identitätspolitik auseinandergesetzt.

Dabei ist sie auf ein interessantes Phänomen gestoßen: „Zwar sind mit den neuen sozialen Bewegungen tatsächlich auch neue Protestformen entstanden, und die Aktivisten haben sich immer weniger über ihre Klassenzugehörigkeit definiert, sondern sie sind über Identitätsfragen zum politischen Engagement gekommen.“ Auffallend indes, so Susemichel: „Kaum jemand hat das in der damaligen Zeit auch so benannt. Identitätspolitik ist ein Begriff, der erst in den letzten Jahren diese unglaubliche Konjunktur erlebt hat. Vielleicht löst er als Verächtlichmachung mittlerweile sogar den Begriff der Political Correctness ab.“

Wie eine Laubenpieperkolonie parzelliert

Doch welches Wort man auch benutzt, immer offensichtlicher wird, dass sich mit dem Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen die Internationale der Arbeiterklasse binnen weniger Jahre wie eine Laubenpieperkolonie parzelliert hat. Den Rest erledigten später die neuen sozialen Medien mit ihren digitalen Filterblasen, wo sich die Menschen nicht mehr physisch, sondern ebenfalls mittels Definition gemeinsamer Identitätsmerkmale von jeglicher Außenwelt abgeschnitten hatten. Für die bereits vorperforierte Linke mit ihren vielen Sollbruchstellen aus Milieus, Ethnien, Stilen und Klassen eine verheerende Entwicklung. Indem ihr nämlich mehr und mehr das große Ganze aus dem Blickfeld geriet, hat sie auch zunehmend die Kraft zu großen Siegen in der Mitte der Gesellschaft eingebüßt.

Das zumindest ist die Meinung des renommierten US-Politologen Francis Fukuyama. Vor zwei Jahren hat er sie in einem Essay in der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlicht. Eine Einlassung, für die er damals viel Lob, aber auch starke Kritik einstecken musste. „Die Tendenz der Identitätspolitik, sich auf kulturelle Fragen zu konzentrieren, hat die Energie und Aufmerksamkeit von ernsthaften Überlegungen seitens der Progressiven darüber abgelenkt, wie der dreißig Jahre währende Trend in den meisten liberalen Demokratien zu größerer sozioökonomischer Ungleichheit umgekehrt werden kann“, lautete die Kernthese des besorgten US-Intellektuellen in Anbetracht des kulturellen Scherbenhaufens nach der Wahl Donald Trumps im Jahr 2016.

Fukuyamas Meinung nach sei dieser gerade deshalb entstanden, weil es für die Linke nach wie vor leichter sei, über kulturelle Fragen zu streiten, als die Einkommen zu erhöhen oder die Möglichkeiten von Frauen und Minderheiten außerhalb des Elfenbeinturms zu erweitern. Solange es hier keine Umkehr gäbe, würden sich weite Teile der abgehängten weißen Arbeiterschaft von der Politik der Linken nicht mehr vertreten fühlen.

Flucht aus der Hölle des Realen

Fukuyamas Text mit dem Titel „Against Identity Politics. The New Tribalism and the Crisis of Democracy“ brachte weit über die USA hinaus einen Stein ins Rollen. Immer mehr Wissenschaftler und Autoren haben sich seither dieser Sichtweise angeschlossen, darunter der konservative Ideengeschichtler Mark Lilla, aber auch dezidiert linke Denker wie Richard Rorty oder selbst Slavoj Žižek.

Auch die Wiener Aktivistin Lea Susemichel kann viele dieser Einwände verstehen: „Ich bemerke durchaus, dass der Bogen überspannt wird. Oft geht es innerhalb der Linken zu sehr um Repräsentationsfragen und nicht mehr um Politik, und zuweilen unterscheidet sich linke Identitätspolitik nicht mehr von dem, was die Neue Rechte ,Ethno-­Pluralismus‘ nennt.“

Der Reiz des Spielerischen

Und doch: Geändert hat sich einige Monate vor den nächsten US-Wahlen wenig. Vielleicht ist der Reiz des Spielerischen zu groß, wenn man heute selbst bei einem konventionellen Onlinedienst wie Facebook 60 Möglichkeiten hat, um seine geschlechtliche Identität zu definieren – von Inter*Mensch bis nichtbinär –, vielleicht ist es auch einfacher, über die korrekte Setzung von Gendersternchen zu streiten als über das reale Einkommensgefälle zwischen Männern und Frauen.

Und selbst, wenn man hier bis dato keine Benachteiligung erfahren haben sollte: Eine narzisstische Fixierung auf die eigene Beschädigtheit führt stets zu mehr Identitätserlebnis als ein Verharren in der Leere. Solange man jedenfalls mit Foucault auf der symbolischen oder diskursiven Seite der Politik bleiben kann, muss man nicht hinabsinken in die Hölle des Realen oder auch nur in die Niederung des nächsten Kreisverbands – dorthin, wo es zuweilen schmerzt und stinkt.

Judith Butler / dpa

Das wird sich vielleicht auch die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Judith Butler gedacht haben, als sie mit ihrem mittlerweile 30 Jahre alten Buch „Gender Trouble“ die poststrukturalistische Sicht auf die Welt noch einmal kräftig nachjustiert hat. In Butlers Denken nämlich gibt es jenseits des foucaultschen Diskurses rein gar nichts mehr – keine Körper, keine sexuelle oder ethnische Identität, ja nicht einmal eine Welt an sich. Am Anfang ist der Diskurs. Und am Ende ist in diesem alles veränderbar. Es ist die Schöpfungsgeschichte der sogenannten Queer-Theorie und des Third Wave Feminism, eines radikalen Nominalismus, der mit hippen Begriffen wie Gender-Mainstreaming zunächst weit mehr Glamour ausstrahlt als der kalte Linoleumboden eines durchschnittlichen Frauenberatungszentrums, der am Ende aber in einer Katastrophe mündet.

Der Fall „John/Joan“

Es ist der 4. Mai 2004, als auf der anderen Seite des Atlantiks eine Tragödie ihrem traurigen Höhepunkt entgegenläuft. Als Fall „John/Joan“ wird diese später in die Forschung eingehen: Im kanadischen Winnipeg, einer idyllischen Großstadt, die man bis dahin allenfalls aufgrund des Winnipeg Folk Festivals kannte, nimmt sich am Abend dieses Frühlingstags ein Mann das Leben, der zuvor zum Opfer von Ideologie und Tragik geworden ist: David Reimer; ein unauffälliger Gelegenheitsarbeiter, der hinter das dunkle Geheimnis seiner eigenen Identität geblickt hat. 38 Jahre zuvor ist dieser David Reimer unter dem Namen Bruce zur Welt gekommen.

Wegen einer harmlosen Vorhautverengung hat man ihn mit acht Monaten ins St. Boniface Hospital seiner Heimatstadt einliefern müssen, um ihn hier einem eigentlich harmlosen Eingriff zu unterziehen. Doch im Hospital schlägt das Leben erbarmungslos zu: Aufgrund eines defekten Elektrogeräts verbrennt bei der Beschneidung der Penis des kleinen Bruce. Eine Tragödie für ihn und seine ganze Familie.

Ein klaffender Abgrund

Doch die Eltern finden Trost bei dem damals renommierten Sexualwissenschaftler John Money, in den sechziger und siebziger Jahren Pionier der von ihm mitgeprägten Gender-Theorie. Laut dieser wird man als Kind zu seinem Geschlecht erzogen; biologische Determinanten gibt es nicht. Und so empfiehlt Money den besorgten Eltern, was er empfehlen muss: Sie sollen ihren Jungen als Mädchen erziehen, ihm aber nichts davon erzählen. Aus Bruce wird also Brenda und aus einer kleinen Wunde ein klaffender Abgrund.

Mit 14 nämlich erfährt Brenda Reimer zufällig von dem menschenverachtenden Experiment an ihrem eigenen Leib und der kindlichen Seele. „Alles“, so wird sie später in einem Buch über ihren Fall schreiben, „machte plötzlich Sinn für mich.“ Brenda beschließt, wieder ein Junge zu werden, schluckt Hormone, nennt sich David, sucht sich später sogar eine Frau. Doch all das kommt längst zu spät: „Ich habe überlebt“, hat sich David Reimer früher immer wieder vorsagen können. Und dennoch: Am 4. Mai 2004 muss der Leidensdruck derart groß geworden sein, dass David Reimer beschließt, seinem Leben ein brutales Ende zu setzen.

„Die Prämisse, Sprache formt Realität, ist Blödsinn“

Für den Wiener Psychiater und Neurowissenschaftler Raphael Bonelli dokumentiert so etwas wie die Causa Reimer den Einbruch der Realität in eine abgeschottete Welt aus Ideologien und Lügen. Die Familie Reimer mit ihrem von John Money auferlegten Schweigegelübde steht für Bonelli sinnbildlich für die heutige Gesellschaft mit ihren selbst auferlegten Tabus, Redeverboten und blinden Flecken.

„Die Prämisse, Sprache formt Realität, ist Blödsinn“, so Bonelli. Es gebe schließlich immer auch eine Realität vor der Sprache. „Wenn aber eine Theorie mit dieser Realität nicht zusammengeht, dann muss an der Theorie wohl etwas faul sein.“ Der Gedanke, Identität sei nur ein Konstrukt, sei das große Hirngespinst unserer Tage. Indes, eines mit fatalen Auswirkungen. Raphael Bonelli erlebe diese jeden Tag in seiner Praxis: Paarbeziehungen etwa, die nicht mehr funktionierten, weil Männer nicht mehr männlich und Frauen nicht mehr weiblich sein wollten. Bonelli zitiert eine Studie der amerikanischen Psychologin Jean Twenge. Nach dieser hat die Generation der sogenannten Millennials weit weniger Sex als jede Generation davor. Die sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern habe rapide abgenommen. „Das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man naturwissenschaftlich über Identität sprechen will“, so der praktizierende Wiener Psychiater.

Wissenschaft mit Wahrheitsverbot

Indes, Judith Butler und mit ihr nahezu der gesamte Poststrukturalismus wollen nicht naturwissenschaftlich argumentieren. Wissenschaft ist ergebnisoffen; die aktuellen Debatten um Identität und Politik sind das in der Regel nicht. Seit den Tagen Michel Foucaults hat sich hier eine ganze Ideologie im eigenen Nominalismus verheddert.

Wohin das am Ende führen kann, das hat bis dato kaum jemand so präzise herausgearbeitet wie der israelische Historiker Gadi Taub. In einem Essay mit dem Titel „Wenn die Wahrheit verboten ist“ bringt er das poststrukturalistische Dilemma auf den Punkt: „Im letzten halben Jahrhundert fand in der Wissenschaft eine erstaunliche Umwälzung statt. Ganze Disziplinen haben ihre ursprüngliche Bestimmung – das Streben nach Wahrheit – durch dessen Gegenteil, nämlich ein Wahrheitsverbot ersetzt.“

Sollte Taubs Einschätzung stimmen, dann dürfte der Rückweg zur Wahrheit kein leichter werden. Aber es wäre der vielleicht letzte Weg, um aus den Selbstgesprächen der unzähligen Sprechakte und Selbstdefinitionen, ja der oft solipsistischen Selbstbespiegelungen noch einmal auszusteigen. Und vielleicht gäbe es hinter der eigenen Wunde der Identität etwas Größeres zu entdecken – eine Realität, die ganz unabhängig ist von Identitäten, und einen Universalismus, der weit mehr ist als die Summe einzelner Partikularinteressen. Das Ende unserer Identitätsfixierung könnte auch der Neubeginn der Gesellschaft sein.

 Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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