Mein letzter Tag auf Erden. Wow, das ist ziemlich beeindruckend! Meine letzten 24 Stunden möchte ich in völliger Abgeschiedenheit verbringen. Ich ziehe mich nach Portugal zurück, wo ich in einem kleinen Bergdorf ein Ferienhaus besitze. Meine Heimat ist England, doch hier erlebe ich ein Gefühl echter Freiheit, wo ich die Elemente der Natur spüren kann.
Ich stehe in aller Früh auf und schwimme wie jeden Tag ein paar Runden im Pool. Dann frühstücke ich mit meiner Frau und meiner Tochter. Dieser Tag ist mir zu kostbar, um mich mit weltlichen Dingen zu beschäftigen. Ich meditiere im Schneidersitz unter Palmen über die zwei großen Themen, die mein Leben bestimmt haben: Gott und die Unendlichkeit.
Die Unendlichkeit einfangen
Ich erinnere mich, wie ich mir als Achtjähriger bis in die Nächte den Kopf darüber zerbrach, das Gebilde der Unendlichkeit vorzustellen. In Gedanken wanderte ich aus meinem Zimmer auf die Straßen bis zum Stadtrand von Hounslow, zur Küste, bis ich bei unserem Planeten und den Sternen nicht weiterwusste. In meiner Verzweiflung dachte ich mir um alles eine Mauer, um die Unendlichkeit einzufangen, doch gleich am nächsten Morgen fragte ich mich, was wohl hinter dieser Mauer sein könnte. Das hat mich davon überzeugt, dass es die Unendlichkeit geben muss.
Wie jeden Sonntag besuchte ich als Kind mit großer Freude die heilige Messe und sang im Kirchenchor, doch als Heranwachsender drifteten mein Verstand und mein Glaube auseinander. Mit der Zeit bedauerte ich das, denn wie viele Menschen verspüre ich eine tiefe Spiritualität. Vor einigen Jahren bin ich zur Erkenntnis gelangt, dass Gott eine Erfindung von uns Menschen ist, ich aber trotzdem an ihn glauben kann. Gott steht für etwas viel Größeres, was wir nicht erfassen können, aber stets suchen.
Above and Beyond
Nun beginnt es zu dämmern. Ich löse ein letztes Mal das „Kryptische Kreuzworträtsel“ des Daily Telegraph. Als ich früher mit Deep Purple auf Tournee war, lösten Jon Lord und ich dieses Kreuzworträtsel über viele Jahre gemeinsam. Das war eine fantastische Zeit. Ich hatte die Aufgabe, die Antworten in die Kästchen einzutragen. Doch wann immer ich den Buchstaben „D“ schrieb, wurde Jon grantig, da mein „D“ seiner Auffassung nach zu unleserlich war. Leider ist Jon von uns gegangen. Nun denke ich jeden Tag an ihn, wenn ich ein „D“ kritzle und lächle vor mich hin. Ich habe Jon einen Song gewidmet, „Above and Beyond“, mit den Versen: „That souls, having touched / Are forever entwined“. Und so wie ich es geschrieben habe, glaube ich auch daran, dass sich unsere Seelen tatsächlich miteinander verbinden können.
Nun ist es an der Zeit aufzubrechen. Ich möchte keine Sauerei hinterlassen, also schleiche ich mich zum Hafen und steche mit meinem kleinen Boot in See. Ich genehmige mir ein letztes Glas Whisky, eine letzte Zigarette und höre Jon Lords „Concerto for Group and Orchestra“. Ein gewaltiger Sturm braut sich über dem Atlantik zusammen, und ich fahre direkt in ihn hinein. Ich hatte eine großartige Zeit – mit ein paar Höhen und Tiefen, doch die Höhen behielten die Oberhand. Deep Purple war die Freude meines Lebens.
Ian Gillan: Der 1945 in Hounslow geborene britische Musiker zählt mit der Band Deep Purple zu den bedeutendsten Sängern im Hard Rock. Zuletzt erschien deren Album „Infinite“. Solo veröffentlichte Gillan jüngst „Ian Gillan & the Javelins“
Dies ist ein Artikel aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.