Hype um „Clubhouse“ - Ranwanzen als demokratische Herrschaftstechnik

Mit „Clubhouse“ kehrt die Demokratisierungshoffnung zurück – könnte man meinen. Denn hier gilt das gesprochene Wort. Doch tatsächlich ist das ein Trugschluss. Die App hat den menschlichen Eitelkeiten vielmehr eine neue Bühne errichtet.

Willkommen im Club: Die neue App macht Furore / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Dr. Uwe Dietsche ist Latinist und Mitarbeiter der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommern.

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Die Demokratie steckt in der Krise – wieder einmal. Erodierende Wahlergebnisse ehemaliger Volksparteien, rückläufige Mitgliederzahlen, sinkende Wahlbeteiligungen und ein anhaltender Ansehensverlust der politischen Eliten vergrößern Stück um Stück die Legitimationskrise der parlamentarischen Demokratie.

In ihrem Zentrum steht der öffentliche Raum als jener Ort, an dem die Übereinkunft zwischen Regierten und Regierenden eigentlich gesichert werden soll. Noch vor Jahren ruhten dabei alle Hoffnungen auf den technologischen Segnungen des Internets. Mit ihm schien endlich eine massenhafte Beteiligung der Bürger an der Verfertigung der öffentlichen Meinung möglich. Aber es kam ganz anders. Das Internet schloss die Repräsentationslücke nicht nur nicht, sondern vergrößerte sie.

Mit der App „Clubhouse“ kehrt die Demokratisierungshoffnung zurück. Für den Kommunikationsexperten Bendix Hügelmann ist die neue Internetanwendung genau deshalb eine „eine wahnsinnig tolle Geschichte“, weil sie Bürger und politische Eliten unkompliziert zusammen bringt und so alle „aktiv an einem politischen Entscheidungsprozess teilnehmen“ können.

Allerdings stellt sich die Frage, ob sinkende Barrieren im Kontakt zu Politikern schon einen echten Raum des Politischen erzeugen. Für Hannah Arendt jedenfalls bestand der Kern des Politischen nicht im bloßen Durchsetzen eigener Interessen, sondern vielmehr in deren Überwindung. Die Würde des Politischen resultierte für sie erst aus der Fähigkeit, nicht nur sich selbst, sondern stets das Wohl des Ganzen in den Blick zu nehmen.

Befähigung zum Vergessenkönnen

Eine wesentliche Voraussetzung für gemeinsames Handeln war für sie dabei übrigens die Bereitschaft und Befähigung zum Vergessenkönnen. Da allen Menschen Fehler unterliefen, könnte das Leben „gar nicht weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun“. Das Vergessenkönnen stellt gerade dadurch politische Handlungsfähigkeit her, dass es regelmäßig das Schuldkonto aller ausgleicht und man gemeinsam von vorne beginnen kann.

Um das Vergessenkönnen ist es allerdings schlecht bestellt und mit ihm auch um die politische Verständigung. Mit der Erfindung des Internets wurde ungewollt ein Weltarchiv errichtet, welches das Jüngste Gericht zu einer irdischen Dauereinrichtung erhoben hat. Wie in einer unendlichen Asservatenkammer schlummern in Netzwerken und Datenbanken digitale Lebensspuren als potentielle Beweise gegen uns alle. Ob bei der Jobsuche oder beim Konkurrenzkampf in der Politik: Auch kleinste, vom Weltarchiv minutiös dokumentierte Verfehlungen aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit können jederzeit zu scharfen Waffen der Gegenwart werden.

Aber es gibt scheinbar Grund zur Hoffnung. Während soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram und Co. technologisch ganz der Idee des Weltarchivs entsprechen und beständig dem unerbittlichen Jüngsten Gericht zuarbeiten, ist mit „Clubhouse“ ein neuer Stern am Himmel der sozialen Medien erschienen. Die Kommunikation erfolgt im Unterschied zu anderen Plattformen ausschließlich in oraler Form. Jeder kann einen „Raum“ einrichten und Teilnehmern beliebig das Wort erteilen – oder wieder entziehen. Und das hat Konsequenzen: Pöbelnde Wutbürger werden mit einem Klick zum Nichtgehörtwerden verurteilt, notorische Wiederholungstäter gleich ganz aus dem Netzwerk entfernt.

Der Sound der Gespräche ist daher ausgesprochen wertschätzend und kuschelig. Duzen gehört, selbst beim Kanzleramtsminister, zur Netiquette. Und noch etwas anderes ist bemerkenswert und ein Bruch mit der Logik bisheriger Internetanwendungen: Die Gespräche werden zumindest nicht öffentlich archiviert. Das gesprochene Wort ist fluide und verschwindet für ihre Nutzer so schnell, wie es geäußert wurde. Clubhouse hat, scheint es, dem Vergessenkönnen im Internet wieder einen Ort gegeben. Dies alles kommt gut an. Seit wenigen Wochen hat sich die App „viral“ verbreitet. Allein in Deutschland soll sie um die 300.000 aktive Nutzer haben. Vor allem Influencer und Medienarbeiter sowie Journalisten und Politiker tummeln sich auf der Plattform.

Siegeszug der Mündlichkeit

Manch einer meint in diesen neuesten Entwicklungen bereits einen oral turn, einen „Siegeszug der Mündlichkeit“ (Alexander Cammann, Die Zeit), erblicken zu können. Während das 19. Jahrhundert dem Text und das 20. Jahrhundert dem Bild gehört habe, werde das 21. nun das des Sprechens. Das mag man glauben oder nicht: Eine Wiederbelebung des direkten Diskurses scheint jedenfalls reizvoll. Schon der alte Platon, der Zeit seines Lebens nur Dialoge verfasst hat, wusste: Nur das direkte Spiel von Frage und Antwort, von These und Widerspruch, von Rede und Gegenrede bietet das Potenzial einer ernsthaften, an der Sache orientierten Verständigung, ist also, in den Worten von „Clubhouse“, „Ort für authentische Konversation und Ausdrucksformen“. Denn während Texte tot sind und den Lesenden keine Fragen beantworten können, bieten Gespräche die Chance, Missverständnisse aufzuklären und Argumente zu verteidigen.

„Clubhouse“ erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als digitale Hochzeit zwischen der antiken Volksversammlung und dem bürgerlichen Salon, den Jürgen Habermas seinerzeit als Keimzelle des rationalen öffentlichen Diskurses entdeckt hatte. Massenbeteiligung und Rationalität scheinen erstmals in der Weltgeschichte miteinander versöhnt werden zu können und die direkte Demokratie in greifbare Nähe zu rücken. Zumindest technologisch schlummern in der App somit die Bedingungen zu einer höheren Form von Aufklärung und Massendemokratie.

Soweit die Theorie. Die Praxis hingegen ist ernüchternd. Es beginnt schon mit dem Raum. Es zieht im Salon. Und zwar nicht, weil die Türen die ganze Zeit offen stehen, sondern weil Scharen von Leuten durch den Raum pilgern. In einer Runde mit 60 Teilnehmern kamen wir drei Minuten zu spät und lagen damit, wie wir zwei Minuten später zählten, immerhin noch auf Platz 42 und 48. Zwei Minuten vor Schluss, es waren immer noch 60 da, lagen wir auf Platz sieben und neun. Mit anderen Worten: Von den 41 Teilnehmern, die pünktlicher waren als wir, hatten 35 zwischenzeitlich den Salon verlassen. Zugleich waren ebenso viele nachgerückt.

Dieses „ghosting“ auf „Clubhouse“ gilt nicht als anrüchig; die community guidelines ermuntern geradezu zum Raumhopping. Auch Multitasking sei kein Problem: „Mach dir nichts daraus“, heißt es, „deine Aufmerksamkeit zwischen Clubhouse und Arbeit, Hobbies, Hausarbeit oder Abendjogging zu teilen.“ Doch was daran verdient noch die Bezeichnung „Konversation“ („gemeinsamer Umgang“), wenn die Zuhörer an ihren Gastgebern im Salon wie an Musikern in einer Bahnhofshalle vorbeihuschen? Das Publikum wird zum Fluidum – und das Gespräch zur Farce. Das heißt nicht, dass es keine ernsthaften Angebote und Hörer gäbe. Doch weite Teile der „Clubhouse“-Welt gehören Plauderern, Esoterikern, Netzwerkern – und Ranwanzern.

Ein Stammtisch ohne Bier

„Prinz Rupi“ beispielsweise, der sich offenbar nicht an das Klarnamengebot hält, sich aber immerhin trotz fortgeschritten Alters und ergrautem zottigen Haar in seinem Konterfei mit buntem Blumenhemd präsentiert, gehört zur ersten Sorte. Er sitzt mit ganzen vier weiteren Teilnehmern im Raum „Clubhouse – eine Verschwörung“. Man redet über alles Mögliche; nach einer Stunde ist man beim Missbrauchsskandal der katholischen Kirche, einer outet sich als Sohn eines katholischen Priesters, und ein weiterer Teilnehmer schwadroniert über SS-Einheiten, die 1943 hinter der Front „systematisch polnische Frauen gebumst“ hätten. Ziel und Sinn des ganzen? Fehlanzeige. Es ist ein Stammtisch ohne Bier, mehr nicht.

Für die Esoterikfreunde ist, neben allerlei buddhistischen, indischen und schamanistischen Gesangsräumen, unter anderem Ursula da. „Ich bin dankbar“, summt sie in Würdigung des frischen Tages, „auch für eure Dankbarkeit!“ Die anderen versichern sich ebenfalls ihrer gegenseitigen Dankbarkeit. Wir sehen zu, dass wir wegkommen.

Pünktlich um neun Uhr stoßen wir zur Clubhouse-Morgenkonferenz von Zeit Online. Erstaunlich, wieviel Ressourcen die Redaktion in das Projekt buttert: Immerhin vier Journalisten sind Tag für Tag eine halbe Stunde dafür abgestellt, Themen für künftige Berichte aus den Wortbeiträgen der Menge zu fischen. Die umfasst immerhin, je nach Wochentag und laufendem Publikumspegel, zwischen 350 und 550 Leute. Unter ihnen lauschen weitere Redakteure dem Treiben ihrer Kollegen.

Ein Themenvorschlag ist dort zum Beispiel „Todesdiagnose in Corona-Zeiten“. In der Tat: Viele letzte Wünsche sind derzeit schwer erfüllbar. Das „MoKo“-Team verspricht im sonst nur von Politikern bekannten Jargon, das Thema „mitzunehmen“. Doch selten sind die Anregungen so uneigennützig. Bertram zum Beispiel fordert, es solle doch beim Thema Arbeit in der Corona-Krise nicht nur über Homeoffice berichtet werden, sondern auch mal über Menschen, die die Krise als Chance nutzen und die Traute haben, sich selbstständig machen. Schnell erweist sich: Er selbst gehört just zu diesem Kreis; das eigentliche Ziel hinter seiner „Idee" ist, publicity für seine neue Vertriebsfirma zu erzeugen.

Das Netzwerken hat sich auf jeden Fall schon dadurch gelohnt, dass er in dieser Runde den Firmennamen platzieren konnte. Ob er merkt, dass auch Zeit Online eine Substrategie verfolgt? Denn wie zufällig verweisen die Redakteure immer wieder auf aktuell veröffentlichte Beiträge, Serien und Webseiten. Nun erklärt sich der üppige Mitarbeitereinsatz: Der Morgenplausch dient nicht nur der Akquise von Themen, sondern auch von Kunden.

Bodo Ramelows Skandal

Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zum „Ranwanzen“. Darin üben sich vor allem allerlei Politiker. Das Paradebeispiel für diese Disziplin hat vor kurzem Bodo Ramelow abgegeben. Der Skandal ist bekannt: Der Thüringer Ministerpräsident war Ende Januar zu fortgeschrittener Stunde in einen mit „Trash und Feuilleton“ betitelten Talkraum eingetreten.

Vor der versammelten, überwiegend jungen Zuhörerschaft gab Ramelow sich locker und flapsig, bezeichnete die Bundeskanzlerin als „Merkelchen“. Er machte sich mit seiner Hörerschaft auch dadurch gemein, dass er jovial preisgab, auf Ministerpräsidentenkonferenzen von Zeit zu Zeit lieber „Candy Crush“ zu spielen als zuzuhören. Zu dumm nur, dass Johannes Boie, Chefredakteur der Welt am Sonntag, im tausendköpfigen Publikum saß und sich dann nicht an die community guidelines halten wollte. Die sehen nämlich vor, „people’s private information“ nicht ohne deren Erlaubnis weiterzutratschen.

Kaum war „Clubhouse“ zu einer relevanten medialen Größe geworden, stürzten die in die neue App gesetzten Hoffnungen in sich zusammen. Aus dem neuen Vergessenkönnen wird schon deshalb nichts, weil die auf das fluide Gespräch setzende Technologie über Bypässe an das digitale Weltarchiv angeschlossen bleibt. Ihm arbeiten emsige Protokollanten auch das Flüchtige zu.

Boie berichtete also, während Ramelow schäumte und sich auf seine „Privatsphäre“ berief. In einem Zeit-Interview, knapp eine Woche später, ging er zwar vordergründig in Sack und Asche. Und natürlich gab er nicht zu, er habe sich an die jungen Zuhörer einfach bloß ranwanzen wollen. Es sei vielmehr pures „männliches Machtgehabe“ gewesen, für das er sich gründlich schäme.

„Ich bin einer von Euch“

Dann aber begann die nächste Etappe des „Ranwanzens“: Ramelow schlüpfte in die Opferrolle und wollte Wählerpunkte sammeln, indem er erneut seine Privatsphäre dem öffentlichen Scheinwerferlicht aussetzte. Seine Bürger hätten ihm einfach furchtbar gefehlt, jammerte er, deshalb der Ausflug auf „Clubhouse“. Er komme ja kaum noch unter Leute; jetzt, in dieser langen Phase der Stressverdrängung, die er mit Gastronomen, Friseuren und Amazon-Kurieren teile, trete sogar sein altes Ekzem wieder hervor.

Wer hätte kein Mitgefühl für einen solchen Staatsmann, dem die Aufopferung für sein Volk derart unter die Haut geht? Und völlig ungefragt greift er während des Interviews zu seinem letzten Trumpf: „Eine Wahrheit kann ich Ihnen sagen“, legt er sich den Fußball selbst auf den Elfmeterpunkt, während der Torwart gerade mal wohin musste: „Ich bin Legastheniker. Heute verstecke ich mich nicht mehr.“ Oh, dieser Mut! Ramelows wenig subtile Botschaft ist immer und überall dieselbe: „Ich bin einer von Euch und verzehre meinen Leib, indem ich mich für Euch aufopfere.“

Die Kritik an der Demokratie hat eine lange Geschichte, und in Bodo Ramelow werden Platons größte Befürchtungen wahr. Für den alten Philosophen hatte die Demokratie eine unvermeidliche Tendenz dazu, dass sich die Staatsmänner wie gewöhnliche Bürger verhalten müssen, weil sich die gewöhnlichen Bürger zu den eigentlichen Staatsmännern erklären. Nicht der rationale Diskurs, sondern die taktische Schmeichelei der Obrigkeiten ist in Wahrheit jener Kitt, der in einer Demokratie Wähler und Gewählte zusammenhalten und das Loch der ständig drohenden Repräsentationslücke stopfen soll.

Die Würde des Politischen ist so freilich nicht herzustellen und auch die Rationalität demokratischer Diskurse nicht zu erhöhen. Das Ende der Krise der Demokratie wird daher noch etwas auf sich warten lassen und „Clubhouse“ daran gar nichts ändern. Die neue App hat den menschlichen Eitelkeiten vielmehr eine neue Bühne errichtet.

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