Holocaust-Gedenktag - Judentum heißt nicht gleich Holocaust

Jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag ertönen die Appelle „Gegen das Vergessen“. Was die Deutschen jedoch offenbar längst vergessen haben, ist die deutsch-jüdische Geschichte vor dem Dritten Reich. Stattdessen ist unser Bild von Juden bis heute erschreckend stark von den Nationalsozialisten geprägt. Von Sarah Stricker

Der Gedenktag erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 / picture alliance
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Autoreninfo

Die Schriftstellerin Sarah Stricker lebt seit acht Jahren in Tel Aviv. Ihr Debütroman „Fünf Kopeken“ (Eichborn) wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchst dotierten Preis für ein deutschsprachiges Erstlingswerk, und wird derzeit in mehrere Sprachen übersetzt.

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Wahrscheinlich war ich vier oder fünf, als ich auf die fixe Idee kam, ich sei Jüdin. Ich war mit meiner Großmutter auf dem Friedhof, wo sie wie alle alten Frauen meiner Kindheit einen beträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit verbrachte, und ich ging immer gerne mit, weil Friedhof für mich damals noch nicht Tod bedeutete, sondern ein Ort war, an dem es nach Blumen duftete und man im Dreck rumwühlen durfte und vor allem tausend Geschichten hören konnte. Mein Heimatort, ein Dorf in der Pfalz, rund zehn Kilometer von Speyer entfernt, war klein; es gab kaum einen, der hier beerdigt war, von dem meine Großmutter nichts wusste, und während wir das Unkraut vom Grab meines Urgroßvaters zupften, ließ sie sich manchmal erweichen, ein bisschen von den Leuten in den Reihen um ihn herum zu erzählen. Wir waren gerade dabei, die Gießkanne auffüllen zu gehen, als uns eine noch viel ältere Frau entgegen kam, Krückstock in der Hand, geblümtes Kopftuch ums Runzelgesicht: 

„Un wie?“
„Jo, guud.“
„Is des eier Jüngschd? Wie häßd se’n?“
„Des is d’Sarah“, antwortete meine Großmutter.
In meiner Erinnerung biegen sich die Brauen der anderen Frau nach oben, werden die eben noch von hängenden Lidern verdeckten Augen groß, während sie „oh, ein jüdischer Name“ sagt. 

Vielleicht lag es an dem plötzlichen Wechsel ins Hochdeutsche, das bei uns eigentlich dem Förmlichen und Fremden vorbehalten war; vielleicht daran, wie sie mich ansah, ein wenig von der Seite, als versuche sie etwas zu ergründen. Auf jeden Fall war ich davon überzeugt, auf ein Geheimnis gestoßen zu sein. Glaubte ich wirklich, meine Eltern würden mich über meine Identität belügen – und seien noch dazu so blöd, den Schlüssel zur Wahrheit an einer so offensichtlichen Stelle zu verstecken? War es eher ein Spiel, etwas, mit dem ich mich selbst unterhielt, weil die dunklen Geheimnisse im Leben einer Fünfjährigen eben sonst eher spärlich gesät sind? Ich weiß es nicht mehr. Aber irgendetwas blieb, rutschte in eine dieser Gefühlsspalten, zu denen der Verstand keinen Zugang mehr hat, setzte sich an jener Stelle fest, an der das Unterbewusstsein entscheidet, ob wir etwas als angenehm empfinden oder nicht, was uns anzieht, was uns abstößt, was uns weitergehen oder unwillkürlich innehalten lässt.

Kindliche Fragen treffen einen wunden Punkt

Es muss schon ein ganzes Weilchen später gewesen sein, als ich eines Tages die Gedenktafel entdeckte, völlig zufällig, so wild wucherte ein Busch davor. Erst nachdem ich ein paar Zweige abgebrochen hatte, konnte ich die Inschrift erkennen, in der es hieß, dass hier, gleich neben dem Gebäude, in dem mittlerweile die Apotheke untergebracht war, bis November 1938 eine Synagoge gestanden hatte.

Ich war völlig überrascht. Auf den Gedanken, dass auch in meinem Heimatort Juden gelebt hatten, war ich bis dahin nie gekommen – was vielleicht ein bisschen naiv ist. Aber vielleicht hatte ich einfach zu oft gehört, was für ein Skandal es im Dorf gewesen sei, als meine protestantische Großmutter beschlossen hatte, meinen katholischen Großvater zu heiraten, dass enorme Überzeugungsarbeit von Nöten gewesen sei (sprich: schwanger werden), um ihrem Vater die Zustimmung abzuringen… noch eine dritte Glaubensgemeinschaft hatte ich da einfach nicht für möglich gehalten.

Hm, doch, ja, ein paar jüdische Familien hätte es wohl hier gegeben, sagte meine Großmutter, als ich sie beim nächsten Besuch darauf ansprach. 

Ich schob mir ein Stück Apfelpfannkuchen in den Mund, wartete, dass sie weitersprechen würde. Aber meine Großmutter hatte auf einmal keine Zeit mehr zu reden. Stattdessen brauchte sie plötzlich ganz dringend etwas aus der Speisekammer, lief in die Waschküche, zurück in’d Stub – das Fachwerkhaus, das irgendein anderer auf dem Friedhof ruhender Vorfahre erbaut hatte, war 300 Jahre alt und geradezu absurd verwinkelt; mit ein bisschen Mühe konnte man sich darin ziemlich lang verlaufen.

Ja, was sie denn jetzt über diese Familien wisse, versuchte ich es nochmal, als sie irgendwann doch zurückkam.

Die Vergangenheit ruhen lassen

Meine Großmutter nahm meinen leeren Teller und trug ihn zum Waschbecken, wandte mir den Rücken zu, während sie ihn mit dem Schwämmchen bearbeitete, den Hahn aufdrehte.
Na, die seien halt irgendwann abgeholt worden.
Und sonst?
Aber für meine Großmutter gab es kein „sonst“. 
Meine Güte, sagte sie, plötzlich ungewohnt ruppig, das sei eben eine böse Zeit gewesen, was ich denn bitte von ihr hören wolle?

Das Spülwasser tropfte von ihren Händen, während sie den Teller auf die Ablage stelle, ein wenig zu heftig, sodass der Geschirrstapel daneben einen Moment ins Schwanken geriet. 

Man müsse die Vergangenheit endlich mal „ruhe losse“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, wem solle das denn was bringen, sie kriege eh schon jedes Mal Albträume, wenn wieder was von diesen ganzen halb verhungerten Menschen im Fernsehen liefe, das sei doch alles schon ewig her, irgendwann müsse auch mal gut sein, sie hätten doch nichts gewusst! 

Ich hörte, wie sich ihre Stimme überschlug, wie sie immer defensiver wurde, sich gegen einen Vorwurf zu verteidigen begann, den ich ihr, die bei Ausbruch des Krieges selbst ein kleines Mädchen gewesen war, gar nicht machen wollte.

Überall Entsetzen und Betroffenheit

Vor allem aber ging es mir in diesem Moment überhaupt nicht um die böse Zeit. Vielmehr entsprang meine Frage ganz simpler Neugierde, wollte ich mir einfach nur wieder ein bisschen was erzählen lassen. Aber die Juden hatten keine Geschichten. Was auch immer einmal davon da gewesen sein mochte, war zusammen mit ihnen verschwunden, war überlagert von der Geschichte der Verschleppung, der Verfolgung, der bestialischen Vernichtungsmaschinerie, die nicht nur diese Leben ausgelöscht hatte, sondern anscheinend auch jegliche Erinnerung daran. Für meine Großmutter war der Tod so präsent, das nichts anderes daneben Platz hatte, dass dort, wo andere eine Biographie hatten, nur noch ein schwarzes Loch klaffte.

Und je älter ich wurde, desto öfter bemerkte ich, dass es offensichtlich ziemlich vielen so ging. Es wäre unehrlich zu behaupten, ich hätte mich wahnsinnig angestrengt, diese Lücke zu füllen. Aber alle paar Jahre, mal in der 9. Klasse, als ich Ephraim Kishon entdeckte, dann wieder zu Beginn des Studiums, als ich fünf Minuten Geige lernen wollte und es schick fand, Yehudi Menuhin zu hören, kam es doch vor, dass ich aus einem plötzlichen Impuls heraus einen Buchladen betrat und nach etwas zum Thema „Judentum“ fragte. Manchmal kippte den Verkäufern betroffen der Kopf auf die Schulter, wenn sie vor dem passenden Regal stehen blieben; manchmal konnten sie gar nicht schnell genug wegkommen. Aber darin stand immer dasselbe: Bücher zum Holocaust. Bücher über Juden im Ghetto. Bücher über Juden im Lager. Bücher über tote Juden. Hie und da auch Bücher über überlebende Juden. Aber selbst die setzten meist erst mit dem Moment an, wenn der erste Stein durch die Scheibe flog, und endeten fast ausnahmslos mit der Befreiung aus dem KZ, als würde das, was darauf folgte, ohnehin keinen interessieren. 

Ich las sie trotzdem, nach und nach, und ich bin froh, dass ich sie gelesen habe, genauso, wie ich froh bin, dass sich bis heute, 70 Jahre nach Auschwitz, immer weiter mit der Schoah beschäftigt wird. Ich bin froh, dass sich auch die Menschen der dritten und zum Teil schon vierten Generation Fragen nach Schuld und Verantwortung stellen. Aber für viele Deutschen scheinen das die einzigen Schlagwörter zu sein, die sie mit Juden verbinden.

Streit um die „Judengasse“

Vor einiger Zeit war ich für eine Lesung in den Westerwald eingeladen. Nach der Veranstaltung ging ich mit dem Buchhändler in den Dönerladen ums Eck. Der kurdische Besitzer setzte sich zu uns, wir redeten über Deutschland, den Islam, irgendwann auch über Israel, wo ich seit acht Jahren lebe – und ja, wäre das irgendein anderer Text, würde ich jetzt behaupten, ich hätte mich einfach bei einer Reise in das Land verliebt, es sei völliger Zufall, dass ich ausgerechnet hier gelandet bin. Aber mal ehrlich, was weiß man denn schon darüber, warum man etwas liebt; ich kann zumindest nicht ausschließen, dass auch der Grundstein dafür von jener alten Frau gelegt wurde – das Gespräch kam also auf Israel, als der Buchhändler mich darauf hinwies, dass wir gerade in der „Judengasse“ säßen. Tatsächlich, erzählte er, habe das Sträßchen erst kürzlich seinen ursprünglichen Namen zurückerhalten, der unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung geändert worden war. 

Viele der Ladeninhaber hatten sich gegen die Initiative einer Rückbenennung gewehrt, waren der Meinung, eine solche Adresse sei geschäftsschädigend. In ihren Augen erinnerte „Judengasse“ nicht an die Jahrhunderte des Zusammenlebens, sondern vielmehr daran, wie jäh diese Zeit geendet hatte, klang nach Schikane, nach Ausgrenzung, nach Rassenhass, löste ein dumpfes Unbehagen aus – bei den einen eher Abwehr, bei den anderen Scham, in jedem Fall aber etwas, mit dem sie nicht bei jedem Gang zum Briefkasten konfrontiert werden wollten. 

Letztlich setzten sich die Befürworter der Initiative durch, erhielt die Gasse nicht nur ihren Namen zurück; zusätzlich wurde ein Lesegarten errichtet, in dessen Mitte heute ein Gedenkstein steht. Bevor ich am folgenden Morgen abreiste, ging ich hin und sah ihn mir an, las die Gravur, in der auch hier wieder drei Vs prangten, „verfolgt, vertrieben, vernichtet“. Ich ging hin, weil es mir wichtig war, und natürlich bin ich froh, dass diese Orte des Erinnerns existieren. Ich bin froh über all die Veranstaltungen, die es auch jetzt wieder rum um den internationalen Holocaustgedenktag gibt, selbst wenn die Apelle deutscher Volksvertreter gegen Antisemitismus ein wenig schal wirken, wenn ein Gericht im selben Land das Werfen eines Molotowcocktails auf eine Synagoge „Israelkritik“ nennt. Trotzdem, ich bin froh, dass sich die Haltung meiner Großmutter nicht durchgesetzt hat, dass wir weiterreden, die Vergangenheit eben nicht ruhen lassen.

Spuren der deutsch-jüdischen Kultur

Aber Vergangenheit geht in Deutschland immer nur von 1933 bis 1945. Das Davor ist heute so wenig Teil der kollektiven Erinnerung, dass Freunde, die mich in Tel Aviv besuchen, immer wieder verwirrt fragen, wie es denn eigentlich komme, dass so viele Straßen deutsche Namen trügen, sich wundern, dass auf jeder israelischen Speisekarte „Schnitzel“ steht, dass das @-Zeichen „Strudel“ heißt und Nickerchen „Shlafshtunde“, die Scheibenwischer im Auto „Wisherim“ und Kann ich mal einen Schluck haben „Efschar Schluck“. Auch ich war überrascht, als ich hier her kam und das erste Mal die Melodie von „Im Frühtau zu Berge“ mit hebräischem Text hörte, darüber, wie spürbar der Einfluss des Deutschen war, vor allem, wie oft es mir passierte, dass mich ältere Menschen freudestrahlend auf Deutsch ansprachen, darunter auch solche, die niemals selbst in Deutschland gelebt hatten. 

Tatsächlich musste ich erst meine Heimat verlassen, um zu lernen, wie sehr sich aschkenase (europäischstämmige) Juden oft mit Deutschland identifizierten, teils, weil ihre Vorfahren Jahrhunderte zuvor von dort gekommen waren (von was nicht zuletzt das aus dem Mittelhochdeutschen entstandene Jiddisch zeugt, das bis zum Zweiten Weltkrieg noch von zehn Millionen Menschen gesprochen wurde), teils, weil die deutsche Kultur bei osteuropäischen Juden ein enormes Ansehen genoss. Tatsächlich musste ich erst weggehen, um zu lernen, dass gar das Wort „Aschkenas“ auf drei mittelalterliche Gemeinden in Deutschland zurückgeht: Worms, Mainz – und Speyer. 

Tatsächlich musste ich erst nach Israel ziehen, bis ich auf die naheliegende Idee kam, mein Dorf einfach mal zu googlen, und zu sehen, dass ziemlich genau zu der Zeit, als meine Familie jenes Fachwerkhaus erbaute, sich auch ein gewisser Jud Ischi dort niederließ. Seit 1722 sind Juden in meinem Heimatort verzeichnet; in manchen Gegenden der früheren römischen Provinz Germania inferior sind sie es bereits seit der Spätantike.

Den Nazis nicht das Judenbild überlassen

Aber im Bewusstsein der meisten Deutschen schnurrt diese 1700-jährige Geschichte auf einen winzigen Abschnitt zusammen, wird fast ausnahmslos vom Ende her gelesen, etwa, wenn das Werk des jüdischen Schriftstellers Heinrich Heine immer wieder auf dasselbe Zitat reduziert wird: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ 

In Wahrheit muss vielen, die über 100 Jahre nach jener Äußerung Heines die tatsächlichen Bücherverbrennungen miterlebten, die Vorstellung, man könne den „semitischen Geist aus dem Volkskörper heraustrennen“, ziemlich naiv erschienen sein; dafür waren die Spuren, die deutschsprachige Juden in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens hinterlassen hatten, viel zu umfangreich: in der Literatur durch Kafka, Zweig, Döblin, Feuchtwanger, Lasker-Schüler oder Tucholsky; in der Wissenschaft durch Einstein, Haber, Freud und Adorno; in der Musik durch Mendelssohn-Bartholdy, Mahler und Weill; in der Politik durch Marx, Lassalle oder Rathenau.

Die Nationalsozialisten wollten nicht nur all das vergessen machen – sie wollten auch die alleinige Herrschaft darüber, wie Juden in Zukunft gesehen würden. Das Tragische ist: Sie waren damit ziemlich erfolgreich, haben es geschafft, dass den meisten von uns, wenn wir an Juden denken, spontan nicht etwa eins der oben genannten Gesichter einfällt, sondern jene Bilder, die das Dritte Reich produziert hat, Bilder von Juden in Bahnwaggons, eingepfercht wie Vieh, Juden auf Pritschen, hinter Zäunen, ausgemergelt, abgemagert, bis zur Entmenschlichung entstellt, Bilder, die dem, wie die Nazis uns Juden zeigen wollten, ziemlich nahe kommen. Allein das sollte Grund genug sein, den Blick ein wenig zu weiten.

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