Grünes Gewölbe - Kulturelle Identität gibt es doch

In Dresden wurden zahlreiche Juwelen aus dem „Staatsschatz des 18. Jahrhunderts“ gestohlen. Der Schaden ist enorm, der Tathergang wirft heikle Fragen auf – auch jene nach der sonst gern verleugneten kulturellen Identität der Deutschen

Das Dresdner Residenzschloss, in dessen Westflügel sich das Grüne Gewölbe befindet / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Unermesslich, unschätzbar, nicht zu beziffern: Mit diesen Ausdrücken wird der materielle Wert der Juwelen beschrieben, die Diebe am frühen Montagmorgen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden stahlen. Die ungefähre Rede ist einerseits angebracht. Ein freier Markt für „Bruststern und Kleinod des polnischen Weißen Adler-Ordens“ oder „Degen mit Scheide aus der Diamantrosengarnitur“ existiert nicht. Schätzungen, die sich im dreistelligen Millionenbereich bewegen, dürften dennoch nicht ganz falsch liegen. Andererseits lenkt die Unmöglichkeit der genauen Zahl den Blick auf das wahre Ausmaß des Raubzugs: Die beiden Diebe haben sich an etwas vergriffen, von dem wir sonst landauf landab hören, dass es das gar nicht gäbe, nicht geben dürfe – an der kulturellen Identität unseres Landes.

Der „Jahrhundertdiebstahl“ wirft unangenehme Fragen auf und hält ebenso unangenehme Lektionen bereit. Zu letzteren zählt die Erkenntnis, dass es der Sinn von Sicherheitspersonal sein kann, Gesetzesverstöße zu beobachten und zu melden, nicht aber, sie zu verhindern. Die Dresdner Wachleute befanden sich zum Zeitpunkt des Einbruchs im Gewölbe und taten, was sie tun sollten. Sie telefonierten die Polizei herbei, die nach fünf Minuten am Tatort erschien. Da waren die Täter schon verschwunden. Nach allem, was wir wissen, suchten die Wachleute weder die Konfrontation mit den Tätern, noch stellten sie sich ihnen auf ihrem Rückzug in den Weg. Generaldirektorin Marion Ackermann erklärte, in allen Museen der Welt gelte die Maxime, „Menschenleben sind mehr wert als Exponate“. Natürlich. Das aber heißt konkret, die körperliche Unversehrtheit von Kriminellen ist das höchste Gut. Sie gilt absolut, während der Schutz national bedeutsamer Kunst nur relativ wichtig ist. Niemand wünscht sich Schießereien in Museen. Aber ein etwas robusteres Mandat dürften die Beschützer solcher einzigartiger, kollektiv bedeutsamer Preziosen schon haben.

Nachgeboren durch die Macht der Objekte

Erheblich dezimiert wurde durch den Einbruch der „Staatsschatz des 18. Jahrhunderts“, so abermals Ackermann. Die allgemeine Fassungslosigkeit ist keineswegs nur der Trauer über kostbares Geschmeide geschuldet. Im Gewölbe wurde und wird anhand von Objekten die Geschichte einer Kontinuität erzählt. Wie fremd uns Bürgern der Bundesrepublik Deutschland auch das Kurfürstentum Sachsen geworden sein mag, wie anders wir uns und unsere Welt begreifen als damals, wie verschieden unsere Anforderungen an gutes Regieren von den Leistungen Augusts des Starken sein mögen: im Grünen Gewölbe werden wir durch die Macht der Objekte zu Nachgeborenen. Die dort verhandelte sächsische, deutsche, europäische Geschichte ist Teil unseres Herkommens. An solchen Erinnerungsorten verdichtet sich die sonst verfemte „kulturelle Identität“ der Deutschen – und hat nun eine Lücke.

Bemerkenswerterweise besteht daran im Angesicht des Dresdner Verlusts kein Zweifel. Laut Kulturstaatsministerin Monika Grütters machen die geraubten Stücke „unsere Identität als Kulturnation“ aus; es handele sich um „Stücke von hoher nationaler identitätsstiftender Wirkung“.  Sachsens Innenminister Roland Wöller beklagt einen „Anschlag auf die kulturelle Identität der Sachsen“. Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärte, „wir Sachsen“ seien bestohlen worden, also die Sachsen des Jahres 2019. Auch er bekräftigt damit eine Traditionslinie, an die man nicht allzu oft erinnert wird: Orte und Räume schreiben einzigartige Geschichten, die sich nicht verpflanzen lassen und die nicht überall verstanden werden.

„Identitätszuschreibungen haben ein hohes Kränkungspotenzial“

Der übliche Sound kultureller Selbstvergewisserung klingt so: Kollektive Identität sei des Teufels, weil sie auf unhaltbaren Voraussetzungen beruhe und Menschen ausgrenze. Ein Essay in Buchform heißt schlicht „Es gibt keine kulturelle Identität“, ein anderer „Was denn bitte ist kulturelle Identität?“ Darin schreibt die Philosophin Ursula Renz, die „Rede von der kulturellen Identität“ treibe gegenwärtig ihr „Unwesen“, vergifte „das Klima des Miteinanderlebens und -arbeitens“, denn „Identitätszuschreibungen haben ein hohes Kränkungspotenzial“. Die „Erkenntnis jener Ursachen, die uns zu denen gemacht haben, die wir heute sind, gibt noch keinerlei Antwort darauf, wer wir in Zukunft sein wollen.“

Das mag so sehen, wer es will. Auch unhistorisches Denken bleibt von der Meinungsfreiheit gedeckt. Damit ist freilich nur die eine Seite der Medaille benannt. Der Dresdner Raubzug, dessen Formen an die Methoden verbrecherischer Clans erinnern, speziell an den Goldmünzen-Diebstahl vor zwei Jahren im Bode-Museum auf der Berliner Museumsinsel, wischt solche korrekten Vernünfteleien einmal zur Seite. Hoffentlich nur vorerst verschwunden sind durch diesen Einbruch, der viel zu leicht vonstatten ging, Erinnerungsmarken unserer Herkunft. So stellt sich jetzt vielleicht ganz generell die Frage, dies- und jenseits von Sachsen: Welchen Schutz gewähren wir Gegenwartsmenschen unserer gemeinsamen Vergangenheit? Identität braucht Erinnerung.

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