Gregor Gysi liest... - Das politische Buch

Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hat ein neues Sachbuch geschrieben. Gregor Gysi hat es für uns gelesen. Seine Begeisterung hält sich in Grenzen.

Yanis Varoufakis will in seinem neuen Buch eine linke Sozialutopie entwerfen / dpa
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Gregor Gysi ( Die Linke ) ist außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion im Deutschen Bundestag.
 

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Yanis Varoufakis, Ökonom und Politiker, ist in der Vergangenheit auch als Autor von Sachbüchern hervorgetreten. Nun hat er seinem Œuvre ein weiteres Buch hinzugefügt, einen Roman: „Ein anderes Jetzt. Nachrichten aus einer alternativen Gegenwart“. 
Es ist überhaupt nicht schwer, dieses Buch der utopischen Literatur zuzuordnen. Diese ist nicht einfach Science-Fiction, sie malt vielmehr mit bunter Palette zumindest vermeintliche Idealformen des menschlichen Lebens aus. Wie aber schreibt man über eine „Wirklichkeit“, die es (noch) nicht gibt?

Wie man über Technologie schreibt, die es (noch) nicht gibt, kann man in einigen Romanen von Philip Kerr sehen. Studieren könnte man dies auch bei Serien und Spielfilmen im Star-Trek-Komplex, in dem ganz nebenbei eine sozialistische Utopie erzählt wird. Ich erwähne das, weil Yanis Varoufakis keinerlei Mittel nutzt, über sein Thema, eine andere Welt, als wir sie kennen, auf eine Weise zu schreiben, die als schriftstellerisch gelungen durchgehen könnte. 50 Seiten lang müssen wir uns durch eine Beschreibung einer „Freiheitsmaschine“ quälen. Diese lässt erkennen, dass sich Varoufakis keine Sekunde lang darüber Gedanken machte, das Problem zu lösen, wie man über eine nicht existierende Technologie schreiben kann. Fast hat man den Eindruck, dass dem Autor das auch völlig egal ist. 

Ein Buch von vielen

Hat man diese enorme Zumutung hinter sich gebracht, wird die „Freiheitsmaschine“ aber auch nicht mehr gebraucht. Es wirkt wie bei Helge Schneider, wo sich plötzlich nach zig Seiten herausstellt, dass der Arm von Kommissar Schneider doch nicht „ab“ war, er das nur geträumt hatte. Nur bei Helge Schneider ist das lustig, bei Varoufakis nicht. 

Die dominierende Redeform hier ist der Monolog, oftmals nur notdürftig als Dialog getarnt. So hat man den Eindruck, eine Abhandlung zu lesen. Vielleicht hätte Varoufakis wirklich einen Aufsatz oder ein kleines Buch darüber schreiben können, warum und wie eine Wirtschaftsform funktionieren kann, die ohne Privatbanken auskommt und die radikal demokratisiert ist, in der niemand materielle Not leiden muss.

Allerdings gibt es bereits viel linkes Schriftgut, auch sozialutopisches. Wichtiger als tausend Programme, sagt Marx, ist jeder Schritt hin zu wirklicher Bewegung. Und diese, die weltverändernde Praxis scheint Varoufakis weniger in der realen Welt vorzufinden, sondern er verlegt sie in die romanhafte Alternative. Da sollen Protestbewegungen erfolgreich sein, während sie in unserer Realität gescheitert sind. Protest ist das eine. Eine Organisation des Aufstands gegen eine falsche Praxis etwas anderes. Schließlich dürfte es zu den bittersten Erfahrungen im Leben von Yanis Varoufakis gehören, dass die beste Form des Aufstands, die demokratische, noch immer im Keim erstickt werden kann, wenn die herrschenden Interessen mit sehr viel Macht ausgerüstet sind.

Lösung in der Parallelwelt

Demokratische Macht kann also wesentlich schwächer sein als ökonomische. Wie löst man dieses Problem? Seine Lösung verlegt Varoufakis in die Parallelwelt, in der unsrigen scheint er sie nicht mehr für möglich zu halten. Ich kritisierte das, wenn die restliche Linke diesbezüglich viel weiter wäre. Ist sie aber nicht.

Schade eigentlich. Oder zum Glück? Eine Protagonistin, Iris, in der realen Welt eine radikale Marxistin und bereits tot, in der alternativen jedoch lebendig, beschließt, in die kapitalistische Welt zu „wechseln“. Sie, die Dissidentin, fühlte sich als Kritikerin im Kapitalismus besser aufgehoben als in einer nachkapitalistischen Welt. Aber das wäre ein Thema für sich: Wie geht eine „bessere“ Welt mit ihren Kritikern um?

Yanis Varoufakis: Ein anderes Jetzt.Nachrichten aus einer alternativen Gegenwart. Kunstmann, München 2021. 256 Seiten, 24 €

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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