Gesinnung und Verantwortung - Politik darf nicht gut sein

Ein guter Politiker braucht eine innere Gewissheit, was politisch richtig ist. Doch immer mehr Politiker haben stattdessen innere Gewissheit darüber, was gut ist. Damit schaden sie dem Land, den Menschen, die sie gewählt haben und oft noch vielen Menschen über Landesgrenzen hinaus

Der Schriftzug „Dem deutschen Volke“ am Berliner Reichstagsgebäude / picture alliance
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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Die Empörung über Donald Trump war groß, als er jüngst den Abzug weiter Teile des in Syrien stationierten US-Militärs verkündete. Wenn die – nach Angaben des Wallstreet Journals – 850 von 1.000 Soldaten das Land verlassen haben, droht nach Meinung vieler Experten eine Katastrophe. Wie konnte es soweit kommen? Insbesondere, da es über Jahrzehnte ein Zeichen guter Gesinnung war, den Abzug von US-Militär aus aller Welt zu fordern? War nicht die Nichteinmischung der USA in den Syrienkonflikt eine populäre Forderung? Wurde nicht Barack Obama gelobt, weil er sich vom Krieg in Syrien fernhielt? Die bittere Wahrheit ist, dass sowohl Trump, als auch seine Kritiker nicht politische Grundsätze gegeneinander abwogen, sondern stattdessen etwas Gutes tun wollten.

Vom Abzug der USA profitierten sowohl Putin, als auch Erdogan innenpolitisch in ihren Ländern, in dem beide politisches Kapital aus dem von der Weltgemeinschaft geschaffenen Machtvakuum in Syrien zogen – ohne sich darum zu scheren, ob sie Gutes tun. Donald Trump hingegen folgt seinem Gefühl. Offenkundig scheut er bewaffnete Konflikte mehr, als viele seiner Vorgänger. Anstelle dessen bevorzugt er augenscheinlich vergleichsweise unblutige Handelskriege und Dialog. Er ist sich nicht zu schade, das Gespräch mit Machthabern zu suchen, die sehr klar ihre politische Agenda umsetzen und sich um die Vorstellungen anderer Regierungen oder das Wohlergehen eigener Bürger eher weniger scheren.

Seine Kommentare legen nahe, dass sich dies für ihn richtiger anfühlt, als militärische Optionen. Zunächst wollte er mit der Anwesenheit des kleinen US-Kontingents etwas Gutes für die Region tun. Nun aber verkündet er das, was Linke in aller Welt seit Jahrzehnten postulieren: Amerika sei kein Weltpolizist. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum sonstigen Agieren des vormaligen Reality-Show-Stars Trump: Er will nicht akzeptieren, dass US-Steuerzahler für den militärischen Schutz der Europäer pro Kopf deutlich mehr zahlen, als die Europäer selbst für ihren Schutz ausgeben.

Politik als Beruf 

Trump ist das Wohlergehen von US-Steuerzahlern wichtiger, als das Wohlergehen von Menschen in anderen Ländern. Nichts bringt diesen Steuerzahlern mehr Leid, als ein zum Wohl anderer Länder gefallener Angehöriger. Trumps Gutseinwollen wird viele amerikanische Soldatenleben retten. Stattdessen wird es ein Vielfaches dessen an Kurdenleben kosten. Obama hat auch die Nichteinmischung in Syrien komfortabel in die zweite Amtszeit getragen. Wenn Trump einen
weiteren Krieg beginnt, wird er gewiss nicht wiedergewählt.

In seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ thematisierte Max Weber 1919 Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Die vereinfachte Interpretation ist, dass eine gesinnungsethische Entscheidung darauf basiere, was jemand für sich und sein Leben für gut und richtig hält. Die verantwortungsethische Entscheidung basiere hingegen darauf, was für das große Ganze gut ist. Dabei wird oft übersehen, dass Weber klar machte, dass man bei verantwortungsethischem Handeln auch für die Folgen seiner Entscheidungen einstehen muss. Kann eine Wiederwahl ein Kriterium für einen Politiker sein, von dem man erwartet, dass er bei Entscheidungsfindungen die Verantwortung über die persönliche Gesinnung stellt? Kants kategorischer Imperativ, dass man nur nach der Maxime handeln darf, die man jederzeit auch als Gesetz zum Wohle aller Menschen wünschen würde, scheint unter heutigen Politikern eher weniger verbreitet. 

Freude an der Rettung von Seelen

Wer als Politiker an Gefühle appelliert, statt politische Grundsätze zu beachten, wird zu Recht als Populist kritisiert. Hannah Arendt thematisierte dies in Ihrer Auseinandersetzung mit dem NS-Regime. Die Philosophin beschrieb, wie Anpassung und vorauseilender Gehorsam, wie das Wegsehen und das Ignorieren gesunden Menschenverstandes das Regime erst ermöglichten. Sie ging dem Phänomen, dass so viele „normale“ Deutsche sich an radikal bösen Verbrechen beteiligten, auch 1965 in ihrer Vorlesung „Some Questions of Moral Philosophy“ in New York City nach. Sie wurde 2006 unter dem deutschen Titel „Über das Böse“ in Buchform publiziert. Von Sokrates und Platon über Kant entwickelt sie den Gedanken, dass gut sein und böse sein keine Charaktereigenschaften sind, sondern Neigungen, denen man nachgeben kann – oder ihnen widerstehen. 

Es bedarf nur eines oberflächlichen Blicks in den Politikteil einer Zeitung um festzustellen, dass die Politiker westlicher Demokratien immer größere Freude an der Rettung von Seelen haben, als an der Welt und politischen Grundsätzen. Dies gilt nicht nur für den Umgang Europas und der USA mit dem Leid der Menschen in Syrien. Noch viel mehr gilt es für innenpolitische Themen, deren Effekt jeden emphatischen Menschen erfreuen dürfte – von Grundrente über Abschaffung der Wehrpflicht bis zur Aufnahme von politischen Flüchtlingen, Kriegsflüchtlingen und Migranten. Nur ein Lump könnte
einem leidenden oder gefährdeten Menschen in die Augen sehen und kalt ablehnen, dass die Allgemeinheit ihm hilft.

Was für Empathie gilt, gilt nicht für ein politisches Amt

Das trifft auf viele aktuelle politische Entscheidungen zu: Wer will denn schon, dass deutsche Soldaten in Syrien beim Kampf gegen den IS sterben? Wer will nicht, dass ein hart arbeitender Mensch eine anständige Rente bekommt oder dass für jemanden, der sein Leben riskiert hat, um nach Deutschland zu kommen, eine Ausnahme vom Gesetz gilt? Doch was für jeden einzelnen Menschen und seine Empathie gilt, gilt nicht für ein politisches Amt. Zwar wird dieses bekleidet von einem Menschen. Aber exekutive Macht geht vom Amt aus und nicht von dem Menschen, der Privatperson, die dieses Amt bekleidet. Während diese Person ein Bürger mit privaten Ansichten, privaten Gefühlen und privater Empathie bleibt, hat sie als Amtsträger die Verpflichtung, dem ganzen Volk zu dienen.

Der in Artikel 56 des Grundgesetzes festgelegte Amtseid schreibt nicht vor, dass ein Amtsträger danach streben soll, Gutes zu tun, sich für das Wohl nur seiner Wähler einzusetzen oder seinen Gefühlen zu folgen. Er ist schlicht verpflichtet, sich dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben. Oder im Sinne von Hannah Arendt ausgedrückt: Das Grundgesetz verlangt, dass Amtsträger sowohl der Neigung Böses zu tun, wie der Neigung Gutes zu tun, widerstehen. Es verlangt, dass politische Maßstäbe Grundlage politischer Entscheidungen sind und nicht die privaten Gefühle des Amtsträgers.

Eine bemerkenswert geringe Impulskontrolle

Das gilt dieser Tage besonders für die Kurden in Syrien. Es gilt aber auch für die vielen innenpolitischen Entscheidungen, die sich auf den ersten Blick gut anfühlen. Politik muss jedoch zu Ende gedacht werden. Sie muss sich in das bestehende gesellschaftliche und rechtliche Gefüge einpassen lassen. Politik muss gerecht sein, aber eben nicht nur für eine Gruppe, sondern ausgewogen. Sie muss politischen Notwendigkeiten und Grundsätzen folgen. Staatskunst ist, wenn ihr das gelingt und sie dann auch noch gut ist. Populismus ist eben auch, wenn Politik der Neigung nicht widersteht, das Gefühl für das Gute über politische Grundsätze und Notwendigkeiten zu stellen.

Wie so oft liegt auch hier bei Donald Trump ein Sonderfall vor. Er feierte seine größten Erfolge in der Öffentlichkeit mit der Reality Show The Apprentice. Sein Erfolg beruhte weitgehend darauf, eine bemerkenswert geringe Impulskontrolle an den Tag zu legen. Er bekam von seiner Zielgruppe Beifall, sobald er etwas in deren Augen Gutes tat. Ein Politiker und noch mehr ein Staatsmann benötigt jedoch stets eine überdurchschnittliche Impulskontrolle.

Allerdings irritiert das mediale Erstaunen, wenn ein wegen geringer Impuls-Kontrolle zum Star gewordener Unternehmer in ein Amt gewählt wird und dabei nicht die Impulskontrolle eines Berufspolitikers beherrscht. Wenn der „Führer der freien Welt“ nicht nur eine bemerkenswert niedrige Impulskontrolle hat, sondern dann auch noch vermeintlich Gutes tun will, wird es – wie in Syrien zu beobachten – rasch lebensgefährlich. The Apprentice wurde im Trump Tower in Manhattan produziert – zehn Minuten von dem Hörsaal entfernt, in dem Hannah Arendt lehrte, dass ein Politiker der Neigung Gutes zu tun nicht nachgeben darf.

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