Genderfragen - Bin ich transweiblich, cross-gender oder inter*?

Kolumne: Grauzone. Das auf Selbstverwirklichung gepolte Individuum der Spätmoderne möchte keine Grenzen kennen. Am allerwenigsten so kontingente wie das Geschlecht. Auch wenn das mitunter absurde Züge annimmt

Mann oder Frau? Biologische Tatsache oder soziale Konstruktion? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

Beginnen wir mit einem kleinen Gedankenexperiment aus dem Genre Science-Fiction: Stellen wir uns einfach vor, dass, irgendwann in ein paar tausend Jahren, wenn die Menschheit schon lange das Zeitliche gesegnet hat, Außerirdische unsere Erde besuchen. Sie werden Reste unserer einstmaligen Zivilisation finden, letzte Trümmer unserer Städte und Siedlungen. Neugierig geworden, werden sie früher oder später unsere Friedhöfe entdecken. Außerirdische Archäologen werden dann versuchen, aus den Gräbern Rückschlüsse über unsere Kultur zu ziehen, und ihre Humanpaläontologen werden sich über unsere Knochen beugen. Sie werden feststellen, wie alt wir im Schnitt geworden sind, welche Krankheiten wir hatten, wie wir uns ernäherten und sie werden – Achtung, Überraschung – feststellen, dass Homo Sapiens zwei Geschlechter hatte. Dafür benötigen unsere Alien-Freunde Gentests und anatomische Vergleiche.

Absurde Diskussion sorgenfreier Individuen

Wovon diese außerirdischen Wissenschaftler nichts ahnen können, das sind die absurden Diskussionen, die einige ziemlich sorgenfreie Individuen des Homo Sapiens zu Beginn des zweiten Jahrtausends ihrer Zeitrechnung führten: Etwa darüber, ob Geschlecht überhaupt eine biologische Tatsache sei oder nicht doch eine soziale Konstruktion, ob geschlechtliche Identität an gewisse Körpermerkmale gebunden sein müsse oder ob die binäre Geschlechterlogik im Grunde repressiven Rollenzuweisungen diene.

Dass dabei die Realität manchmal jede denkbare Satire schlägt, ist fast zwangsläufig. Zum Beispiel wenn auf der Facebook-Seite „Vegane Feminist*innen“ (kein Scherz) von „werdenden Müttern“ die Rede ist und die Aktivistin und Soziologin Annika Spahn anmahnt, besser von „schwangeren Personen“ zu sprechen, denn immerhin würden „nicht nur Frauen schwanger“ (auch kein Scherz). 

Wie weit diese unsägliche Gender-Debatte schon in den Alltag eingedrungen ist, zeigt der scheinbar unvermeidliche Siegeszug gendergerechter Sprache, die um sich greifende Verwendung des Binnen-I auch in behördlichen Publikationen und das Gender-*, das der rot-rot-grüne Berliner Senat in den Rang offizieller und ideologisch korrekter Staatsorthographie erhoben hat. Und nun fragt mitten in die Sommerschwüle hinein die Wochenzeitschrift Die Zeit auch noch: „Welches Geschlecht habe ich?“

Grenzen als Skandal

Keine Frage: Das alles hat Logik. Denn das auf Selbstverwirklichung gepolte Individuum der Spätmoderne möchte keine Grenzen kennen. Am allerwenigsten so kontingente wie das Geschlecht. Denn Grenzen sind der maximale Skandal einer auf Selbstentfaltung und Selbstinszenierung fixierten Gesellschaft. Nach der weitgehenden Beseitigung aller sozialen Zwänge steht nun folgerichtig die Aufhebung natürlicher Determinationen auf der Tagesordnung. Zu diesem Zweck gibt es zwei Strategien: Entweder, man stellt die Existenz biologischer Geschlechter generell infrage und versucht sie als soziales Konstrukt zu entlarven. Oder man marginalisiert sie, indem man das gefühlte Geschlecht über das biologische Geschlecht stellt.

Letztere Strategie ist dabei eindeutig Erfolg versprechender. Denn zum einen muss man sich nicht auf die unsinnige Behauptung einlassen, es gäbe gar keine biologischen Geschlechter. Vor allem aber befriedigt die Vorstellung, dass die reale Welt zweitrangig ist, sondern allein meine inneren Vorstellungen, Wünsche und Idiosynkrasien der Maßstab dessen sind, was als Wirklichkeit zu gelten hat, die naiv-narzisstischen Grundbedürfnisse des nach Sinn suchenden Wohlstandsbürgers. Ganz nach dem Lied aus Pippi Langstrumpf: „Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.“ Und wenn ich mich eben als nicht-binär, pangender, transweiblich, cross-gender oder inter* fühle, dann hat das so zu sein. Befindlichkeiten werden zum Maßstab wissenschaftlicher Taxonomie. Und zur Not muss halt ein Uterus transplantiert werden.

Eigener Jargon implantierter Ideologie

Dass diese eigenwillige Form von Wohlstandsnarzissmus überhaupt seine intellektuellen Reservate an einschlägigen Universitätsinstituten verlassen hat, ist dabei das eigentliche Ärgernis. Denn unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaftlichkeit werden tausende Studenten mit kruden Theorien vollgestopft und schließlich in die Welt entlassen. Da sie aber kaum eine Qualifikation haben und lediglich bizarre Theoriefragmente im Kopf, finden sie nur dort Unterschlupf, wo man im Zweifelsfall auch so ganz gut durchkommt: im Kunst-, Kultur- und Medienbereich. Dort sitzen sie an den Hebeln der Meinungsbildung und beginnen, den eigenen Jargon und die ihm implantierte Ideologie durchzusetzen. Wer sich diesem Druck widersetzt, wird als intolerant oder diskriminierend denunziert.

Da niemand in den etablierten Parteien als gestrig gelten will, wird so über die Jahre aus der ehemaligen Ideologie politischer Splittergrüppchen offizielle Regierungsprogrammatik. Selbst in der CDU findet sich niemand, der Rückgrat genug hat, dem ganzen Irrsinn Einhalt zu gebieten.

„Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“, schreibt Karl Marx im Vorwort zu seiner „Kritik der politischen Ökonomie“. So gesehen ist die Gender-Mode nur das folgerichtige Produkt der sozioökonomischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Entsprechend steht zu befürchten, dass nur eine erhebliche Krise uns wieder von ihr befreien wird. Trübe Aussichten.

Anzeige